Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REPORT

INTERVIEW/124: Ibrahim Awad zur Krise in Ägypten und Nahost (SB)


Interview mit Prof. Ibrahim Awad am 24. Mai in Berlin



16 Monate nach dem Sturz des langjährigen Machthabers Hosni Mubarak sehen sich Ägyptens Revolutionäre immer noch mit dem alten Regime konfrontiert. Rechtzeitig zur zweiten und entscheidenden Runde der Präsidentenwahl am 15. und 16. Juni hat der Oberste Militärrat das erst vor wenigen Monaten gewählte Parlament und die Versammlung, die Ägypten eine neue Verfassung geben sollte, aufgelöst und das Amt des künftigen ägyptischen Staatsoberhaupts um alle Funktionen bis auf die rein repräsentativen gebracht. Der voraussichtliche Sieger der Stichwahl um die ägyptische Präsidentschaft, Mohammed Mursi von der Moslembruderschaft, will den kalten Staatsstreich der Militärs nicht akzeptieren und hat damit gedroht, ihn und notfalls mit der Macht der Straße rückgängig zu machen. Im bevölkerungsreichsten Land Arabiens, das traditionell eine führende Rolle einnimmt, stehen also die Zeichen auf Sturm.

Ibrahim Awad im Porträt - Foto: © 2012 by Schattenblick

Ibrahim Awad
Foto: © 2012 by Schattenblick

Über die Entwicklung in Ägypten im besonderen und den sogenannten "Arabischen Frühling" im allgemeinen konnte der Schattenblick am 24. Mai mit Ibrahim Awad von der American University in Kairo ein ausführliches Gespräch führen. Der ägyptische Politikwissenschaftler und international anerkannte Migrationsexperte nahm an diesem Tag in Berlin an der von der Heinrich-Böll-Stiftung veranstalteten Fachkonferenz "Zwischen(t)räume - Transkontinentale Migration nach den Umbrüchen in Nordafrika" [1] teil. Er trat sowohl bei der Präsentation der Studie "Grenzwertig: Eine Analyse der neuen Grenzinitiativen der europäischen Union" ("Borderline: EU Border Surveillance Initiatives - An Assessment of the Costs and Its Impact on Fundamental Rights" als auch beim Forum "Umbrüche in Nordafrika: 'Neue Eliten, neue Regeln?'" auf. Vor seiner Ernennung 2011 zum Direktor des Center for Migration and Refugee Studies (CMRS) an der American University in Cairo (AUC) hatte Awad jahrelang in Europa, Lateinamerika und dem Nahen Osten unter anderem als Kommissionssekretär bei der United Nations Economic and Social Commission for Western Asia (UN-ESCWA), als Leiter des Sub-regional Office der International Labour Organisation für Nordafrika und als Leiter des Internationalen Migrationprogramms am ILO-Hauptquartier in Genf gearbeitet.

Schattenblick: Professor Awad, in dem Workshop vorhin ist immer wieder von der Entwicklung in Afrika und ihrer Notwendigkeit - sei es nun nachhaltig oder einfach industriell - gesprochen worden, damit sich die Menschen in Afrika nicht zur Auswanderung nach Europa gezwungen sehen. Ohnehin wird seit Jahrzehnten die Entwicklung als Zauberformel für alle Probleme Afrikas und der Dritten Welt präsentiert. Deswegen spricht man von "Entwicklungshilfe" für "unterentwickelte" Staaten. Könnte es aber sein, daß die Entwicklung in der klassischen Ausprägung und der Versuch, sie ungeachtet ihrer negativen Auswirkungen auf die Umwelt und den angestammten Lebensweisen der Menschen umzusetzen, auch eine wichtige Ursache der gesellschaftlichen Probleme in Afrika sind? Zum Beispiel sollen die jüngste Hungersnot in Somalia sowie die Kämpfe der letzten Jahre in Darfur im wesentlichen darauf zurückzuführen sein, daß nomadische Völker von Ackerbautreibenden, darunter nicht nur Kleinbauern, sondern auch Plantagenbesitzer, aus ihrem traditionellen Lebensraum vertrieben werden. Wie sehen Sie das als früherer leitender Mitarbeiter der ILO in Genf, die sich wie kaum eine zweite Unterorganisation der Vereinten Nationen die Entwicklung auf ihre Fahne geschrieben hat? Ist Entwicklung wirklich das Allheilmittel für die Probleme der Arbeitslosigkeit und der Unterbeschäftigung in Afrika?

Ibrahim Awad: Der Theorie nach geht man in der Frage der Entwicklung und des wirtschaftlichen Wachstums davon aus, daß die Menschen vom Land in die Städte auswandern, um dort in der Industrie zu arbeiten. Das wirkliche Problem ist nicht die Landflucht oder der Abzug von Menschen aus der landwirtschaftlichen Produktion, sondern die Frage, was machen diese Personen, wenn sie die Stadt erreicht haben. Kommen sie in die verarbeitende Industrie und tragen damit zur Steigerung der Produktivkräfte bei, dann ist das gut. Leider ist es so, daß seit nunmehr 50 Jahren die meisten Menschen, welche die ländliche Umgebung gegen die urbane eintauschen, nach der Ankunft in der Stadt nicht in der Güterproduktion, sondern lediglich in der Dienstleistungsindustrie landen, die wenig zur Produktivität beiträgt. Ich rede hier nicht vom klassischen Dienstleistungssektor, wie man sie in Deutschland, Schweden oder den USA in Form von Banken, Versicherungsbranche usw. kennt, sondern vom informellen Dienstleistungssektor, der eine sehr niedrige Produktivitätsrate aufweist. Also verlassen die Menschen die ländlichen Gebiete, um der Armut dort zu entkommen - wodurch sie indirekt auch die Produktivität in der Landwirtschaft erhöhen -, nur um sich erneut in einem Sektor der niedrigen Produktivität wiederzufinden. Das Problem ist also das Fehlen von Möglichkeiten der Entfaltung hoher Produktivität, die Einkommen und Wohlstand generiert.

Sie haben eingangs auch das Verhältnis zwischen nomadischen Hirtengesellschaften und seßhaftem Bauerntum angesprochen. Normalerweise leben Nomaden und Bauern relativ konfliktfrei Seite an Seite. Die Krise in Darfur ist als Folge des Klimawandels aufgeflammt. Es ging dort um den Zugang zu knapper gewordenen Wasserressourcen. Eine Erklärung für den Völkermord in Ruanda zum Beispiel lautet, die verfügbare Landfläche des Landes war zu klein für die große Anzahl an Einwohnern, weshalb es zum erbarmungslosen Konflikt um lebensnotwendige Ressourcen zwischen Hutus und Tutsis gekommen ist.

Ich halte es für enorm wichtig, Lebensweisen wie das Hirtentum zu erhalten, doch man muß das auf eine Art tun, mit der gleichzeitig Wohlstand generiert wird. Wenn man Wohlstand produziert und das daraus resultierende Einkommen verteilt, kann man die meisten Konflikte aus der Welt schaffen. Natürlich ist das eine schwierige Aufgabe.

Ibrahim Awad bei der Podiumdiskussion - Foto: © 2012 by Schattenblick

Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Können Nomaden nach den gängigen Wirtschaftstheorien denn Wohlstand generieren?

IA: Natürlich, denken Sie doch an ihre Rolle beim Handel.

SB: Alles klar. Muß man nicht den sogenannten Arabischen Frühling im allgemeinen, den Sturz des langjährigen Präsidenten Hosni Mubarak in Ihrem eigenen Land Ägypten im besonderen, in erster Linie als Reaktion der einfachen Bevölkerung auf die negativen Folgen der neoliberalen Wirtschaftspolitik, welche die Regierungen in der arabischen Welt seit rund zehn Jahren auf Anraten von Weltbank und internationalem Währungsfonds verfolgen, verstehen? Eine ergänzende Frage hierzu wäre die nach der Bedeutung der Neuausrichtung der ägyptischen Landwirtschaft nach dem von Mubaraks Vorgänger Anwar Al Sadat 1978 unterzeichneten Friedensvertrag mit Israel. Infolgedessen soll Ägypten im Gegenzug für die umfangreiche, alljährliche Finanz- und Rüstungshilfe aus den USA seine Landwirtschaft vom Lebensmittelanbau zur Deckung des Bedarfs der eigenen Bevölkerung auf die Produktion von Baumwolle für den Export umgestellt haben.

IA: Die beiden Fragen innewohnende Stoßrichtung ist auf jedem Fall richtig. Die Baumwollproblematik hat jedoch eine längere Geschichte. Tatsächlich waren es die Briten, die im 19. Jahrhundert, also während der Kolonialzeit, die ersten Baumwollplantagen in Ägypten angelegt haben. Sie sahen sich dazu gezwungen, als während des Bürgerkrieges in den Vereinigten Staaten (1860-1864 - Anm. d. Red.) die Baumwollausfuhr aus den amerikanischen Südstaaten ausfiel. Damals gab es unzählige Baumwollspinnereien in Großbritannien, deren Betrieb man unbedingt erhalten wollte. Später stellte sich die ägyptische Baumwolle als qualitativ höherwertiger als die aus den USA heraus. Ein Jahrhundert lang gehörte die Baumwollproduktion zu einer der wichtigsten Stützen der ägyptischen Wirtschaft. Baumwolle hat in den letzten Jahrzehnten aber an Bedeutung für Ägypten verloren, und zwar nicht nur wegen nachlassender Rohstoffpreise, sondern weil die Regierung in Kairo keine vernünftigen Pläne zur Unterstützung oder Entwicklung dieses Sektors erarbeitet hat. Man hat es nicht nur versäumt, die Verarbeitung von Baumwolle im eigenen Land zu organisieren, wodurch man zusätzlichen Wert aus diesem Sektor hätte gewinnen können, sondern es sind die Anbauflächen für diese Pflanze in Ägypten in den letzten Jahren sogar zurückgegangen. Gleichzeitig hat man den Anbau von Weizen praktisch aufgegeben. Dadurch ist Ägypten inzwischen zum weltweit größten Importeur von Weizen geworden. Man setzte statt dessen auf den Anbau von Cash Crops, auf die Produktion von Lebensmittel für den Export.

SB: Welche Cash Crops wären das?

IA: Erdbeeren zum Beispiel. Man verfolgte die klassische Idee, sich auf bestimmte Lebensmittelsorten zu spezialisieren und mit ihnen die Einnahmen zu erwirtschaften, mittels derer man die im eigenen Land fehlenden Dinge auf dem Weltmarkt zu einem günstigen Preis kaufen könnte. Diese Umstellung in der ägyptischen Landwirtschaft hing mit Sadats Politik der offenen Tür, also der Öffnung zum Weltmarkt, die 1974 begonnen hat, zusammen. Diese vertiefte sich mit der Zeit und fand ihre Fortsetzung in den sogenannten Strukturreformen der neunziger Jahre unter der Regie von Weltbank und IWF, die wiederum den Abbau von Subventionen unter anderem für Grundnahrungsmittel mit sich brachten. Infolge der neoliberalen Strukturreformen kam es zu weitreichender Deregulierung der verschiedenen wirtschaftlichen Sektoren und zur Privatisierung zahlreicher staatseigener Betriebe.

Ich bin nicht prinzipiell gegen Deregulierung und Privatisierung. Ich denke, man kann über ihre Vor- und Nachteile diskutieren, ohne in ideologischen Schützengräben zu verharren. Wie und in welchem Ausmaß man sie durchführt, sollte jedoch von der Frage des Nutzens für die jeweilige Nationalökonomie abhängen. Wie man sie aber in Ägypten durchgeführt hat, brachte es eine Umverteilung des Einkommens und des Vermögens von unten nach oben und seine Konzentration in immer weniger Händen mit sich. Begleitet wurde dieser Prozeß von einer Konzentrierung der politischen Macht auf die Familie Mubarak und das Militär. Das eine speiste sich aus dem anderen und umgekehrt. Schließlich kam es, wie wir alle erlebt haben, zu einer gewaltigen Explosion der Unzufriedenheit seitens derjenigen, die sich politisch und wirtschaftlich ausgeschlossen fühlten. Was ihnen, den Mittelklassen, zum revolutionären Durchbruch verhalf, war die Unterstützung der Habenichtse, des Proletariats bzw. Subproletariats. Es kam also zum Aufstand der Opfer der neoliberalen Wirtschaftspolitik. Im Kern kann man die Entstehung der revolutionären Situation in Ägypten als Ergebnis des Zusammenfließens zweier Strömungen, der der politischen Entrechteten mit der der wirtschaftlichen Ausgebeuteten, verstehen.

Zwei Vortragende der Podiumsdiskussion - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Awad neben Yolande Didewig auf Forum 'Umbrüche in Nordafrika'
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Gestern und heute findet die erste Runde der ersten freien Präsidentenwahl in Ägypten statt. Vor diesem Hintergrund möchte ich Sie Fragen, wie Sie die zukünftige politische Entwicklung in Ihrem Land sehen und welche Entwicklung Sie sich wünschen.

IA: Die Zukunft Ägyptens läßt sich schwer vorhersagen. Man kann aber ein Urteil über die jetzige Situation fällen. Nach dem Sturz von Mubarak im Februar 2011 hätte es zu einem ordentlichen Prozeß des politischen Übergangs von der Diktatur zur Demokratie geben müssen. Das Militär, das in dieser Phase die Macht innehatte, hat dies, aus welchem Grund auch immer, nicht geschafft. Es gibt keine neue Verfassung und auch keine Einigung darüber, wie sie zustande gebracht werden soll.

SB: Die Liberalen und die Moslembruderschaft streiten sich seit Monaten über die Zusammensetzung einer verfassungsgebenden Versammlung.

IA: Das ist wohl wahr. Doch der Oberste Militärrat, der in dieser Phase de facto alle Macht im Staat ausübt, hätte diesen Prozeß begleiten und zu einem vernünftigen Ergebnis führen müssen. Deshalb trägt er für die Uneinigkeit über die verfassungsgebende Versammlung und den aktuellen politischen Stillstand die Hauptverantwortung.

SB: Man könnte Ihnen vielleicht unterstellen, sich einer etwas paternalistischen Sichtweise zu befleißigen.

IA: So ist es natürlich nicht gemeint. Was ich aber sagen will, ist, daß man nicht ankündigen kann, die Macht solange auszuüben, bis sich die politischen Parteien geeinigt haben, und dann einfach die Dinge schleifen zu lassen, wie es der Oberste Militärrat seit fast eineinhalb Jahren tut. Man darf auch nicht vergessen, daß die politische Öffentlichkeit in Ägypten nach Jahrzehnten der Diktatur recht schwach entwickelt war. Früher war jede politische Tätigkeit mit Gefahren verbunden. Das Mubarak-Regime hat konsequent jede politische Bewegung oder Partei, die seine Herrschaft in Frage stellte, entweder ausradiert oder unterwandert und sie von jedem politischen Inhalt entkernt. Das gilt sogar für die stärkste oppositionelle Kraft, die Moslembruderschaft.

Die Moslembruderschaft ist traditionell in weiten Teilen der Gesellschaft gut verankert, steckt politisch jedoch in den Kinderschuhen. Zur Politik gehört die Fähigkeit, Kompromisse auszuhandeln, zu akzeptieren und sie der eigenen Basis zu vermitteln. Das muß die Moslembruderschaft noch lernen. Bisher wurde sie jedesmal, als sie nach politischer Macht griff, unterdrückt und ihre Anführer ins Gefängnis gesteckt. Die Moslembrüder haben für ihre Gegnerschaft zum früheren Regime einen sehr hohen Preis gezahlt. Linke politische Gruppierungen wurden überhaupt nicht zugelassen, liberale Parteien statt dessen von Geheimdienstspitzeln infiltriert, ausgespäht und beeinflußt. Es gab bisher also keine politische Öffentlichkeit. Das ganze politische System war von vorne bis hinten korrupt. Von daher konnte man von den Aktivisten und neuen Parteienanführern, die bei Null anfingen, praktisch über keine politische Erfahrungen verfügten und ihre Ideen und Strukturen erst entwickelten, keine rasche Einigung über den weiteren Weg in die Demokratie erwarten.

SB: So könnte man den politischen Verlauf der letzten eineinhalb Jahre beschreiben. Wie steht es kurzfristig mit der Zukunft Ägyptens?

IA: Das ist wirklich schwer zu sagen. Die politische Landschaft bildet sich erst und befindet sich daher in einem recht instabilen Zustand, aus dem alles möglich ist. Folglich könnte die Moslembruderschaft, die aus den Parlamentswahlen im Dezember und Januar mit Abstand als stärkste Kraft hervorgegangen ist, bei der Präsidentenwahl ein knappes halbes Jahr später eine Niederlage erleben.

SB: Doch das liegt auch daran, daß ihr ursprünglicher Kandidat, Kheirat Al Schater, dem gute Chancen auf einen Sieg prognostiziert wurden, im April wegen früherer Verurteilungen von der Wahlkommission aus dem Rennen geworfen wurde.

IA: Stimmt. Daraufhin hat Mohammed Mursi, der Vorsitzende der im April 2011 von der Moslembruderschaft gegründeten Freiheits- und Gerechtigkeitspartei die Kandidatur übernommen. Auch wenn er in den letzten Umfragen nicht so gut dasteht wie einst Al Schater, sollte man ihn nicht abtun, denn die Moslembrüder sind gut organisiert und verfügen über eine Mobilisierungskapazität, die man nicht unterschätzen darf. Amr Mousa, der ehemalige Außenminister Ägyptens und Ex-Generalsekretär der Arabischen Liga, lag einige Wochen lang in den Umfragen vorn, ist jedoch in letzter Zeit zurückgefallen. Gegen ihn machen die Moslembruderschaft und die Revolutionäre Stimmung, weil er einst dem Mubarak-Regime angehört hat.

Wer in den letzten Wochen seine Position in den Umfragen stark verbessert hat, ist der Kandidat der einst regierenden Nationaldemokratischen Partei (NDP) Ahmed Schafik. Der ehemalige Luftwaffengeneral und Minister für zivile Luftfahrt war im Frühjahr 2011 für einige Wochen Premierminister unter Mubarak. Schafik gilt als heimlicher Favorit des Obersten Militärrates. Er wird unterstützt von den Nutznießern des alten Regimes. Er bekommt zudem Zulauf von einfachen Menschen, die meinen, daß die Umwälzungen des letzten Jahres Ägypten nichts als Chaos gebracht haben und sich nach stabilen Verhältnissen sehnen. Der letzte Premier des Mubarak-Regimes gilt als Verfechter eines starken Staates. Leider ist das etwas, was viele Menschen in Ägypten wieder haben wollen. Doch selbst wenn Schafik die Wahl gewinnen sollte, glaube ich nicht, daß es ihm gelingen wird, die Uhr zurückzudrehen und die alte Ordnung wiederherzustellen. Wie dem auch sei. Ich gehe jedenfalls davon aus, daß sich keiner der insgesamt neun Hauptkandidaten bei der ersten Runde allzu eindeutig von den anderen wird abheben können und daß es zu einer Stichwahl im Juni zwischen den beiden, die Platz eins und zwei belegen, kommt. Wer das sein wird, wage ich nicht zu prognostizieren.

Die Interviewszene von vorne - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Awad und SB-Redakteur
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Unabhängig vom Ausgang der Präsidentenwahl, steht die künftige Regierung vor enormen Herausforderungen. Das Ende der Ära Mubarak haben zum Beispiel die Arbeiterinnen in der Textilindustrie, die sich gegen ihre zunehmende Ausbeutung wehrten, herbeigeführt. Seitdem hat sich die wirtschaftliche Lage des Landes drastisch verschlechtert. Viele Touristen sind weggeblieben. Ein Großteil der Devisenreserven wurde aufgebraucht, um Lebensmittel für die armen Teile der Bevölkerung zu kaufen. Wegen der instabilen politischen Lage werden fast keine Investitionen getätigt. Was meinen Sie, wie es mit der ägyptischen Wirtschaft weitergehen wird?

IA: Sie haben Recht, was die historische Bedeutung der Arbeiterstreiks in Ägypten betrifft, doch es waren nicht nur die Frauen in den Textilfabriken, sondern auch das Personal am Suez-Kanal und die Beteiligten in vielen anderen Industriezweigen, welche die Arbeit niederlegten und auf die Straßen gingen, um für eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse zu kämpfen. Seit 2006 erlebt Ägypten einen Aufstand der Arbeiter, der in der Geschichte des Landes seinesgleichen sucht. 2010, sozusagen im letzten Jahr der Mubarak-Ära, kam es vor dem Amt des Premierministers zu wochenlangen Sitzdemonstrationen von streikenden Arbeitern und Arbeiterinnen.

Also kommt zu der Herkulesaufgabe, den Text einer neuen Verfassung auszuhandeln und ein neues politisches System zu organisieren, auch das Problem der Befriedigung der Forderungen der Arbeiterschaft nach einer höheren Entlohnung bzw. einen höheren Anteil am Volksvermögen hinzu. Das dürfte schwer bis gar nicht zu lösen sein, denn die Devisenreserven sind fast alle aufgebraucht. Vor zwei, drei Tagen hat der IWF sogar erklärt, daß er die Verhandlungen über die Gewährung eines weiteren Kredites an den ägyptischen Staat aussetzen wolle. Das könnte negative Folgen für den Währungskurs des ägyptischen Pfundes, für Ägyptens Zugang zum Weltmarkt und seine Kreditwürdigkeit haben.

Alles deutet auf eine schwere wirtschaftliche Krise in Ägypten hin, die nächste Woche, in einem Monat oder in einem Jahr ausbrechen wird und die mit großer Wahrscheinlichkeit diejenigen, die in dem Moment die Regierung stellen, und/oder den neuen Präsidenten, der am 1. Juli das Amt übernimmt, diskreditieren wird.

SB: Also könnte der Erfolg bei der Präsidentenwahl den Sieger ins politische Abseits führen?

IA: Sehr wahrscheinlich. Denn obwohl sich die schwere wirtschaftliche Krise seit Jahren zusammenbraut, werden diejenigen, die an der Macht sind in dem Moment, wo sie richtig ausbricht, dafür vom Volk die Quittung bekommen.

SB: Auf der Konferenz hier in der Heinrich-Böll-Stiftung wie überhaupt im außenpolitischen Diskurs des Westens taucht immer wieder die Frage auf, wie man den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens am besten "helfen" könnte. Wie beurteilen Sie als Ägypter die Hilfe, die Ihr Land in den letzten Jahren aus den Vereinigten Staaten von Amerika bzw. der Europäischen Union erhalten hat?

IA: Die USA haben jahrzehntelang das Mubarak-Regime finanziell und militärisch unterstützt. Man spricht von mehr als einer Milliarde Dollar jährlich - und das über einen Zeitraum von mehr als 35 Jahren. Im Rahmen der sehr engen Militärallianz zwischen Washington und Kairo haben die Amerikaner großen Einfluß nicht nur auf die außenpolitische Ausrichtung Ägyptens, sondern auch auf seine Wirtschaftspolitik ausgeübt. Am Ende haben die USA die eigene Position in Ägypten jedoch unterminiert. Erstens haben sie zu sehr auf Mubarak und seine Getreuen gesetzt. Zweitens hat die von ihnen forcierte neoliberale Wirtschaftspolitik das Vertrauen vieler Menschen in das Regime zerstört. Obwohl Ägyptens Wirtschaft in den letzten Jahren ein ordentliches Wachstum von sechs bis sieben Prozent jährlich verzeichnete, wuchs die Kluft zwischen arm und reich ständig an. Es gerieten immer mehr Menschen in Existenznot. Die USA haben diese Konzentration von Wohlstand in immer weniger Händen nicht nur tatenlos zugesehen, sondern unterstützt. Dazu kam die Unterdrückung jeder politischen Freiheit. Dagegen haben die USA nichts unternommen. Die Moslembruderschaft wurde brutal unterdrückt. Auch dagegen hatte Washington nichts einzuwenden. Dazu haben der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern und die Unfähigkeit Ägyptens, einen nennenswerten Beitrag zur Herbeiführung einer gerechten Friedenslösung zu leisten, Mubarak im eigenen Land geschwächt und das Ansehen Amerikas beim ägyptischen Volk sowie in der restlichen arabischen Welt schwer geschadet.

Was die EU betrifft, so scheinen sich ihre Mitgliedsstaaten stets uneinig darüber zu sein, wie sie mit ihren Nachbarn auf der südlichen Seite des Mittelmeers umgehen sollen. Dabei vergessen sie, daß Nordafrika bei der Geburt des europäischen Projektes Pate gestanden hat. Bereits in den Römischen Verträgen von 1957 werden die Beziehungen mit Marokko und Tunesien erwähnt. Hinzu kommt, daß zu jenem Zeitpunkt Algerien noch ein Teil von Frankreich war. Also erstreckte sich die EU in spe bereits über einen beträchtlichen Teil Nordafrikas. Später folgten Assoziationsabkommen der Europäischen Gemeinschaft mit den genannten nordafrikanischen Ländern. Über die Jahre haben die Europäer verschiedene Pläne und Konzepte einer umfassenden Zusammenarbeit der Mittelmeeranrainerstaaten präsentiert, doch bisher wurde von alledem nicht viel realisiert. Der letzte große Entwurf, die euro-mediterrane Partnerschaft, auch Euromed oder Barcelona-Prozeß genannt, stammt aus dem Jahr 1995. Ungeachtet der Partnerschaft zur EU zeichnet sich die Lage in den Ländern Nordafrikas durch hohe Arbeitslosigkeit, Armut und politische Repression aus. Man kann die Europäer dafür nicht verantwortlich machen, aber zu einer echten Lösung der Probleme der nordafrikanischen Nachbarn haben die bisherigen Ansätze der Zusammenarbeit mit der EU auch nicht beigetragen.

Die Interviewszene von hinten - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Awad und SB-Redakteur
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Sie meinen also, daß die EU mehr hätte tun müssen?

IA: Ja. Sie hätte von Anfang an eine klare Position für politische Freiheit und gegen staatliche Unterdrückung beziehen können. Das hat sie aus Rücksicht auf ihre Verbündeten in den jeweiligen Regimen aber nicht getan. Man hätte auch im wirtschaftlichen Bereich viel mehr Gemeinsames unternehmen können. Ich bin sogar der Meinung, daß eine verstärkte Zusammenarbeit nicht nur mit den Mittelmeeranrainerstaaten, sondern mit den Ländern in ganz Afrika Europa helfen könnte, seine Position in der Welt zu behaupten. Derzeit ist Asien auf dem Vormarsch. Dort gibt es ein schier unerschöpfliches Heer an Arbeitskräften. Nicht zuletzt wegen der nachlassenden Geburtenrate im eigenen Land haben die USA die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Mexiko verstärkt und die Visabestimmungen für Einwanderer von dort gelockert. Und was macht die EU? Sie schottet sich von Nordafrika ab, während sie gleichzeitig die Grenze nach Osteuropa öffnet. Doch aus Osteuropa sind keine neuen Arbeitskräfte zu erwarten. Dort liegt die Geburtenrate noch niedriger als in der EU selbst.

SB: Wo Sie gerade die demographische Entwicklung ansprechen, habe ich eine besondere Frage zu diesem Thema für Sie als Experte für internationale Migration. Seit einigen Jahren, und das verstärkt seit den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA, wird im Westen von Vordenkern wie Samuel Huntington der hohe Anteil der Jugend an den Bevölkerungen in den Ländern der islamischen Welt als Bedrohung angesehen. Bereits 1995 blickte die CIA mit Sorge auf die hohe Arbeitslosigkeit bei der Jugend in diesen Ländern und faßte den sogenannten Jugendüberschuß als Quelle eventueller Unruhen, Aufstände und Kriege auf. Könnte vor diesem Hintergrund nicht das EU-Grenzregime zu Nordafrika und die Militärinterventionen der USA und ihrer NATO-Verbündeten im sogenannten "Antiterrorkrieg" - siehe Afghanistan, den Irak, den Jemen, Pakistan, Somalia usw. - auch Teil eines generellen Bemühens des Westens sein, dem von ihm als Problem definierten "Youth Bulge" im islamischen Raum Herr zu werden?

IA: Man könnte es durchaus so sehen. Von den entsprechenden Studien habe ich gehört. Doch es wäre auch möglich, den hohen Anteil der Kinder und Jugendlichen an der Bevölkerung in unserem Teil der Welt als Gelegenheit zur positiven Veränderung in der Politik wie auch in der Wirtschaft zu betrachten. Wirtschaftlich gesehen bedeutet der sogenannte Jugendüberschuß, daß viele leistungsstarke Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, die überproportional wenig anhängige Angehörige wie Kinder oder Eltern zu ernähren und dadurch mehr Geld für sich haben. Dadurch könnten sie in ihren Ländern die Nachfrage stimulieren und für erhöhtes Wachstum und Wohlstand sorgen. Des weiteren könnten Länder wie die meisten EU-Mitgliedsstaaten, deren Geburtenrate stark gesunken ist, aus dem besagten Reservoir an arbeitsfähigen jungen Menschen schöpfen. Die Voraussetzung hierfür wäre jedoch eine vernünftige Einwanderungs- und Arbeitsmarktpolitik.

SB: Ein Dauerthema der internationalen Politik der letzten Jahre vor allem bezüglich der Beziehungen zwischen der westlichen und der muslimischen Welt ist der sogenannte Islamismus, der offenbar hauptsächlich von fundamentalistischen Sunniten, auch Salafisten oder Wahabiten genannt, ausgeht. Ist es aber nicht so, daß der Salafismus in erster Linie ein ideologisches Exportgut der Saudis ist, mit dem Saudi-Arabien sein politisches und kulturelles Gesellschaftsmodell zu verbreiten sucht, ähnlich wie es amerikanische und europäische Einrichtungen wie die Heinrich-Böll-Stiftung in Übersee mit dem demokratischen Pluralismus und der Marktwirtschaft tun?

IA: Ihre Formulierung kommt der Realität recht nahe. Was man auf jeden Fall sagen kann ist, daß der militant-politische Salafismus weltweit zu einem sehr guten Teil das Produkt saudischer Umtriebe ist. Den religiösen Salafismus gibt es schon länger. Er war jedoch im 20. Jahrhundert infolge der Modernisierung des islamischen Denkens zur Glaubensrichtung einer kleinen Minderheit unter den Sunniten geworden. Diese Modernisierung ist aber vor rund 40 Jahren praktisch zum Erliegen gekommen. Das hatte mehrere Ursachen. Erstens begann Saudi-Arabien seinen Ölreichtum zur Propagierung der eigenen Auslegung des Korans zu verwenden. Zweitens entschieden sich die USA, der größte Akteur im internationalen System, sich dem Salafismus als Mittel zur Bekämpfung der Verbreitung kommunistischer Ideen in der muslimischen Welt und zur Schwächung der Sowjetunion zu bedienen, was zum Krieg der Mudschaheddin gegen die Rote Armee in Afghanistan führte, mit dessen Folgen wir uns uns heute, mehr als vierzig Jahre später, immer noch herumschlagen. Drittens setzten die vielen Autokratien bei uns den Islam in seiner konservativen Ausprägung zur gesellschaftlichen Befriedung und Kontrolle ein. Präsidenten wie Ägyptens Anwar Sadat haben den Islamismus als effektives Gegenmittel zu den progressiven Ideen der Gleichheit und Gerechtigkeit identifiziert und deshalb auf ihn als ideologisches Fundament für ihre Regime zurückgegriffen. Mit einem Schlag wurden in der arabischen Welt sozialistische Ideen zur gottlosen Ketzerei erklärt. Alle diese Faktoren haben dem Salafismus mächtigen Auftrieb verliehen.

SB: Die größte Trennscheide in der islamischen Welt und eine, die sich derzeit drastisch verschärft - siehe das tägliche Blutvergießen im Irak und in Syrien -, ist der Antagonismus zwischen den Schiiten, angeführt vom Iran, und den Sunniten, angeführt von Saudi-Arabien. Liegt das Problem, das die sunnitischen Autokratien mit der Schia haben, darin, daß sie stärker als das Sunnitentum demokratische Ansätze in sich trägt bzw. die Ideen des gesellschaftlichen Ausgleichs propagiert, oder ist das eine zu grobe Vereinfachung des Verhältnisses der beiden Glaubensrichtungen zueinander?

IA: Vor sechzig, siebzig Jahren war in der arabischen Welt der Unterschied zwischen den beiden Hauptströmungen des Islams praktisch niemandem mehr ein Begriff. Einzig die Saudis mit ihren salafistischen Ideen hielten die schiitische Minderheit in Ostteil des Landes für den inneren Feind und diskriminierten sie. Im Libanon oder in Ägypten zum Beispiel wußte damals niemand, wer Sunnit und wer Schiit war. Die Frage stellte sich gar nicht. Als 1939 in Kairo Prinzessin Fausia, Schwester des damaligen ägyptischen Königs Faruq, den iranischen Kronprinzen und späteren Schah Mohammed Reza Pahlavi heiratete, tauchte der Umstand, daß er Schiit und sie Sunnitin war, als Thema gar nicht auf. Keiner machte sich darüber auch nur den leisesten Gedanken.

Inzwischen werden die Muslime regelrecht dazu gezwungen, sich entweder als Schiiten oder Sunniten zu identifizieren. Sie haben vorhin den neokonservativen Politanalytiker Samuel Huntington erwähnt. In seinem Denken ist dieser sehr stark von dem anglo-amerikanischen Arabisten Bernard Lewis beeinflußt worden. Lewis hat im Westen stark zur Verbreitung der These von der "islamischen Gefahr" beigetragen. In letzter Zeit beschwört er die angeblich große Bedrohung, die vom Iran ausgeht, was natürlich die Saudis in ihrer feindlichen Haltung gegenüber dem schiitischen Nachbarland nur noch bestärkt. Die Trennung zwischen Sunniten und Schiiten hat früher die Saudis nicht daran gehindert, enge Beziehungen zum Schah zu pflegen. Doch damals waren Iran und Saudi-Arabien beide US-Verbündete. Diese Tatsache läßt erkennen, daß man es hier in erster Linie mit einem politischen Antagonismus zu tun hat. Die religiösen Unterschiede sind zweitrangig. Den Machthabern in Saudi-Arabien gefällt die Erstarkung des Irans am Persischen Golf, die aus dem Sturz Saddam Husseins und der Invasion der Amerikaner im Irak erfolgt ist, in keinster Weise. Die Dauerkonfrontation zwischen den Saudis und den Iranern ist den USA wiederum sehr nützlich.

SB: Dadurch können die USA riesige Mengen Waffen an Saudi-Arabien und den anderen arabischen Staaten rund um den Persischen Golf verkaufen.

IA: Genau. Leider ist es so, daß eine solche Konfrontation, wenn sie erst einmal in Gang gesetzt worden ist, ihre eigene Dynamik entwickeln kann. Spätestens seit dem Dreißigjährigen Krieg im 17. Jahrhundert in Europa weiß man allzu gut, wohin religiöse Konflikte führen können. Ein ähnlicher Krieg am Persischen Golf mit der Waffentechnologie von heute wäre eine absolute Katastrophe. Ohnehin erschwert die Rivalität zwischen Riad und Teheran, deren Auswirkungen wir im Irak, in Syrien, in Bahrain, im Libanon und in Jemen beobachten können, alle Bemühungen um eine Verbesserung der Lebenslage der Menschen im Nahen Osten enorm und steht der Entwicklung in der Region im Weg. Die Lage in Syrien ist extrem gefährlich. Ich bin auch der Meinung, daß es dort Reformen und eine neue Regierung in Damaskus geben muß. Doch der Übergang vom Baath-Regime Baschar Al Assads zu einem Mehrparteiensystem soll ordentlich und friedlich über die Bühne gehen. Der Bürgerkrieg im Irak, als sich 2005, 2006 die Sunniten und Schiiten gegenseitig abschlachteten, sollte uns ein mahnendes Beispiel sein. Bekommen wir den Konflikt in Syrien nicht bald beigelegt, könnte der Bürgerkrieg dort die ganze Region mit in den Abgrund reißen.

SB: Vielen Dank Professor Awad für dieses Interview.


Fußnote:
1. http://schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0111.html

Vorstellung der Studie 'Grenzwertig' - Foto: © 2012 by Schattenblick

Ibrahim Awad zum Auftakt der Konferenz 'Zwischen(t)räume' neben Barbara Unmüßig vom Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung und Ska Keller von der Grünen-Fraktion im EU-Parlament
Foto: © 2012 by Schattenblick

20. Juni 2012