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INTERVIEW/161: Stand der gesellschaftlichen Widersprüche in UK - Im Gespräch mit Tina Becker (SB)


Interview am 31. Januar 2013 in Hamburg-Eimsbüttel



Tina Becker ist Mitglied der Communist Party of Great Britain (CPGB). Am Rande einer Veranstaltung der Assoziation Dämmerung [1], bei der mehrere Genossinnen und Genossen der CPGB Stellung zu den politischen und ideologischen Positionen ihrer Partei bezogen, beantwortete sie dem Schattenblick einige Fragen zur sozialen Lage der britischen Gesellschaft.

Logo der CPGB - Grafik: © CPGB

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Schattenblick: Tina, wie beurteilt ihr die Auswirkungen der Sozialreformen in England, bei denen es um Kürzungen in Höhe von vier Milliarden Pfund geht, und wie reagiert die englische Bevölkerung auf diesen Sozialabbau - radikal oder indem sie kuscht?

Tina Becker: Sie kuscht leider, wofür es verschiedene Gründe gibt. Margaret Thatcher hat in den 80er Jahren die Arbeiterklasse und speziell den Minenarbeiterstreik nachhaltig zerschlagen. Seitdem ging es bergab mit dem Selbstbewußtsein der Gewerkschaften und Arbeiter, deren Zusammenhalt mehr und mehr bröckelt. Leider schwindet damit auch das Klassenbewußtsein. Zwar bezeichnen sich die Lohnempfänger wegen ihrer schlechten Einkommensverhältnisse als Arbeiter, doch das ist nicht als Schlachtruf zu verstehen, sondern eher als Eingeständnis, nicht mehr zur Mittelschicht zu gehören. Die Phase, in der viele vor Jahren glaubten, es gäbe keine Klassenunterschiede mehr und alle seien nunmehr gleich, währte nur kurz. Jetzt merken sie, daß sie doch nur arme Schweine sind. An ihrem Arbeiterverständnis ist momentan nichts oder nur wenig Kämpferisches. Bestenfalls wird leise artikuliert: "Wir sind die, die keine Kohle haben."

Schließlich hat die Koalitionsregierung kurz nach der Regierungsübernahme vor zwei Jahren in aller Deutlichkeit angekündigt, die Sozialausgaben durch die Bank weg kürzen zu wollen. Dazu gehören auch drastische Kürzungen der Sozialhilfe und des Arbeitslosengeldes. Emotional aufgeladen ist das Thema Wohnungsbeihilfe, die vor allem in London lebende Familien mit drei oder vier Kindern in Anspruch nehmen müssen. Wohnraum für eine fünf- oder sechsköpfige Familie würde auf dem freien Wohnungsmarkt mehrere tausend Pfund kosten. In der rechtspopulistischen Presse wird insbesondere gegen diese kinderreichen Familien Stimmung gemacht. So wirft man ihnen vor, nicht zu arbeiten, aber hohe Bezüge vom Wohnungsamt zu kassieren. Natürlich bekommen nicht sie das Geld, sondern der Vermieter. Aber so, wie es berichtet wird, klingt es, als würden Schmarotzer uns Tausende aus der Tasche ziehen.

Kampagnenmaterial 'Con-Demn their cuts' - Grafik: © CBPG via www.campaignbadges.co.uk

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Die Regierung wollte vor allem die Wohnungsbeihilfe kürzen, doch kurz nach Amtsantritt hielt sie sich damit auffallend zurück. Offenbar traute sie sich nicht an das heiße Eisen heran, weswegen die geplante Kürzung mehrmals verschoben wurde. Doch jetzt nach zwei Jahren Regierungszeit ist es soweit. Wenn die Menschen endlich merken, wie ihnen der Teppich unter den Füßen weggezogen wird, besteht Hoffnung, daß vielleicht noch etwas passiert. Bisher überwiegt jedoch der Pessimismus, weil die Arbeiterklasse vor allem wegen Margaret Thatcher an Einfluß verloren hat. Die wirklich tiefen Einschnitte stehen uns noch bevor. Möglicherweise wird die Labour Party dann endlich den Hintern aus dem Sessel bekommen, was derzeit nicht der Fall ist. Statt dessen besteht ihre Oppositionsarbeit darin, zu verkünden, daß sie, wäre sie an der Regierung, die Beihilfen zwar ebenfalls kürzen würde, aber angeblich nicht so drastisch und so schnell. Das ist keine wirkliche Opposition, und mit einer solchen Aussage wird die Labour Party auch nicht auf einen grünen Zweig kommen. Erst wenn die Gewerkschaften wieder auf die Straße gehen und sich wehren, würde die Labour Party wahrscheinlich nach links rücken und die Arbeiterklasse könnte wieder Selbstbewußtsein fassen. Das hoffen wir jedenfalls.

SB: In Deutschland etablierte die rot-grüne Regierung Ende der 90er Jahre parallel zur Blair-Regierung ebenfalls diese neue Form von neoliberaler Sozialdemokratie - siehe das Schröder-Blair-Papier. Kann man deiner Ansicht nach überhaupt davon ausgehen, daß mit einer neoliberal gewendeten Sozialdemokratie eine tragfähige Linksopposition zu erzielen ist, die soziale Forderungen durchsetzen könnte?

TB: Die Labour Party, wie sie Lenin schon in den 20er Jahren beschrieb, hat sich seither kaum verändert. Sie ist eine bürgerliche Arbeiterpartei mit einem bürgerlichen und einem Arbeiterflügel. Je nach politischer Lage zieht mal der eine Flügel, mal der andere mehr. Momentan ist sie nichts anderes als eine Bürgerpartei, aber es gibt dennoch eine Linke in der Labour Party, nämlich das Labour Representation Committee. Sie ist im Moment sehr schwach und nicht besonders selbstbewußt, aber sie organisiert sich, bringt Magazine heraus und versucht, einer stärkeren Linken den Weg zu bereiten.

Dazu können wir im Augenblick beitragen. Die Genossen finden es falsch, die Labour Party völlig abzuschreiben mit der Begründung, sie könne nichts mehr leisten, weil Blair sie korrumpiert habe. Nach wie vor sehen viele Millionen Menschen die Labour Party als ihre Partei an. Das hat damit zu tun, daß die Linke keine besonders starke Kraft ist. Man kann von der Partei Die Linke in Deutschland halten, was man will, aber sie ist dennoch eine Alternative zur Sozialdemokratie. So etwas gibt es in Großbritannien nicht. Die Labour Party und ein paar kleine, zersplitterte Gruppen sind keine attraktive Linke, die Proteste auffangen könnte. Insofern besteht die Möglichkeit, daß sich in der Labour Party immer noch etwas bewegen könnte, weil die Gewerkschaften einen großen Einfluß auf sie haben, der nicht zuletzt finanzielle Gründe hat. Die Labour Party wurde von Gewerkschaften gegründet und hat daher noch Halt in der Arbeiterbewegung. Auch wenn sich das in der jetzigen Situation nicht unbedingt politisch widerspiegelt und die Labour Party durch ihre indifferente Opposition die Arbeiterschaft weitgehend im Stich läßt, stehen die Arbeiter nach wie vor hinter ihr. Ich würde sogar den Standpunkt vertreten, daß der Kampf noch nicht entschieden ist und durchaus wieder aufleben könnte.

SB: Die britische Gesellschaft weist eine ausgeprägte Klassenstruktur auf. Margaret Thatcher hat allerdings behauptet, daß so etwas wie eine Gesellschaft - und damit Klassengesellschaft - nicht existiere. Hat sich wirklich ein Paradigmenwechsel im Bewußtsein der Menschen vollzogen, der die gerade in Britannien tief verwurzelte Klassentradition aufgebrochen hat?

TB: Sie wurde nicht aufgebrochen, aber Thatcher ist es durch verschiedene politische Maßnahmen gelungen, die Arbeiterschaft erheblich zu schwächen, indem sie die größte Streikwelle, die England je erlebt hatte, regelrecht zerschlug. Obwohl die Minenarbeiter von allen linken Kräften und Gewerkschaften Unterstützung erhielten, erlitten sie nach zwei Jahren des Streiks zum Jahreswechsel 1984/85 eine dramatische Niederlage. Für die Minenarbeiter, die ihre Gemeinden schützen wollten, war es wirklich ein Kampf auf Leben und Tod.

Andererseits hat es die Thatcher-Regierung verstanden, bei den einkommensschwächeren Schichten zu punkten, indem sie Mietern einer Sozialwohnung die Möglichkeit bot, ihre Wohnstätte zu einem verbilligten Preis zu erwerben. Der Hintergedanke war, daß ein Eigenheimbesitzer andere Interessen hat. Als Eigentümer kann man nicht nur seine Ketten verlieren, sondern auch sein Haus, für das die Hypotheken pünktlich abgezahlt werden müssen. Neue Abhängigkeiten wie diese haben ein Umdenken bewirkt und Einfluß auf die politische Positionierung genommen.

Die überwiegende Mehrheit der Arbeiter hat natürlich nicht viel Geld, da ist der deutsche Lebensstandard immer noch viel höher. Zudem wurden viele Gewerkschaften zersprengt. Tony Blair ist noch viel weiter gegangen als Margaret Thatcher, indem er neue Anti-Union-Laws eingeführt hat. Gewerkschaften, die einen Streik ausrufen wollten, mußten den Arbeitgeber drei, vier Wochen vorher darüber informieren. So hatte er genügend Zeit, die Arbeiter unter Druck zu setzen, damit sie nicht für den Streik stimmen. Mittlerweile müssen soviele Hürden genommen werden, daß kaum noch ein Streik ausgerufen wird. Auf diese Weise wurde das Klassenbewußtsein am Arbeitsplatz und außerhalb des Arbeitsplatzes nach und nach untergraben und zerstört. Das hat tiefgreifende Folgen gehabt.

Momentan beschränken sich die Gewerkschaften auf den Kampf gegen die Arbeitszeitverlängerung und die Erhöhung des Rentenalters. Außer einigen wenigen Demonstrationen, von denen nur zwei wirklich groß waren, passiert nicht viel. Große Streiks am Arbeitsplatz sind kaum noch möglich. Insofern hat sich das Klassenbewußtsein sehr negativ entwickelt. Es ist kaum noch vorhanden.

SB: In eurem Vortrag hattet ihr auch die britische Monarchie kritisiert. Wie ist das Verhältnis der Arbeiter zum Königshaus? Finden verklärte Inzenierungen wie die der "Prinzessin der Herzen" tatsächlich bei ihnen Anklang?

TB: Ja klar. Für uns Kommunisten war es natürlich ein Zeichen der Entfremdung, daß diese Frau, denen die meisten niemals im Leben begegnet sind, nach ihrem Tod von den Massen betrauert wurde. Zu Zehntausenden standen die Leute auf der Straße, fielen sich in die Arme und heulten, als wäre ihre Mutter gestorben. Das war aber nur dem Anschein nach absurd. Bei Marx ist nachzulesen, wie etwas, mit dem man nichts zu tun hat, fetischisiert wird und darüber einen Status erlangt, und daß diese Statussymbole in der Entfremdung vom eigenen Leben als Ersatz-Religion genommen werden.

Kampagnenmaterial 'Wedding of mass-distraction' - Grafik: © CBPG via www.campaignbadges.co.uk

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An dieses Phänomen der Massentrauer hatten wir eine sehr wichtige Frage geknüpft, die auch unsere Arbeit betrifft. Es scheint immer darauf anzukommen, wann die Leute danach befragt werden, wie sie zur Monarchie stehen. Nach dem Tod Dianas war das republikanische Gefühl am stärksten. 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung wollten die Monarchie nicht mehr. Bei der Vermählung von William und Kate waren dagegen nur noch 30 Prozent gegen die Monarchie. Eine militante Einstellung gegen die Monarchie besitzt nur ein Kern von 30 Prozent der Bevölkerung. Dazu gehören nicht nur radikale Linke, sondern auch ganz normale Lohnempfänger, die durchaus begreifen, daß ihre Steuern zum Unterhalt der königlichen Familie beitragen.

Die Queen kann, wenn das Parlament gegen den Krieg votiert, trotzdem die Kriegspläne des Premierministers unterschreiben - und in dem Fall zieht England in den Krieg. Kein Mensch hat diese Frau gewählt, auch ihre Kinder nicht. Das ist völlig undemokratisch. Auch das House of Lords ist ein Witz. Die Ernennungen auf Lebenszeit haben mit Demokratie nichts zu tun. Das ist vielen Menschen durchaus bewußt, insbesondere wenn progressive Gesetze im Unterhaus verabschiedet werden, im Oberhaus jedoch abgelehnt werden. Wichtiger als das Königshaus ist den Leuten natürlich die Frage, ob das Rentenalter erhöht wird. Wir sind der Überzeugung, daß man solche Forderungen nicht Politikern wie Tony Blair, Gordon Brown oder David Cameron überlassen darf. Auch wenn es momentan keine militante Kampagne gegen das Königshaus gibt, kann die Stimmung sehr schnell umschlagen.

Nach Dianas Tod lag eine grundlegende Reform der Monarchie durchaus im Bereich des Möglichen. Die Queen wußte das, und auch der Hochadel fürchtete, daß eine Veränderung durch Druck von unten eintreten könnte und die Queen dann nur noch symbolisches Oberhaupt ohne politischen Einfluß wäre. Sie ist ja auch das Oberhaupt der Anglikanischen Kirche, und auch das könnte in Frage gestellt werden. Tatsächlich bestand diese Befürchtung, und das nur, weil Diana starb. Im Grunde genommen ist nichts geschehen. Aber was könnte alles passieren, wenn wirklich ein revolutionärer Funke überspringt?

In der Tageszeitung The Guardian läuft eine große Kampagne, in der darüber berichtet wird, wie oft sich Charles mit dem Premierminister trifft. Er hat die gleichen Kompetenzen wie die Queen, auch er kann Gesetze sowohl stoppen als auch einbringen, aber alles ganz geheim. Davon wissen die meisten Leute nichts. Aber der Guardian hat jetzt offengelegt, hinter wievielen Gesetzesentwürfen Charles stand und welche er abgelehnt hat, weil zum Beispiel seine Ländereien davon betroffen wären, wenn ein neuer Flughafen gebaut würde. Solche Berichte sorgen für Transparenz und Offenheit und sind Gift für die Monarchie. Öffentlichkeit herzustellen ist die Waffe der progressiven Linken. Über solche Themen zu informieren, ist ein erster Schritt, um die Bevölkerung aufzuklären.

SB: In England existieren zwischen bürgerlichen Eliten und Adel offenbar einflußreiche Verbindungen.

TB: Ich will es einmal so ausdrücken: Die Führer der Labour Party und der Konservativen sind in Eaton und anderen Elite-Schmieden zur Schule gegangen. Sie haben in ihrem ganzen Leben nie einen normalen Beruf ausgeübt. Ihr Weg, Politiker zu werden, ist vorgezeichnet. Insofern spielen sie eine wichtige Rolle, sie verkehren mit dem Adel und genießen deren Vertrauen, denn sie waren auf den gleichen Schulen und Universitäten. Wirklich großen Einfluß hat nur eine winzige Schicht.

SB: Gibt es in Britannien eine Entsprechung zur Agenda 2010 und den Hartz-Gesetzen, und wenn ja, wie sehen die sozialen Folgen aus?

TB: Wie ich schon sagte, die Sozialhilfegesetze stehen noch am Anfang. Aber so massive Kürzungen wie unter Schröder hat es in Großbritannien nicht gegeben. Die in Deutschland erfolgten Kürzungen gingen jedoch von einem ganz anderen Lebensstandard aus. So gesehen haben die Deutschen größere soziale Errungenschaften verloren als die Briten. In Großbritannien griffen die Kürzungen auf einem viel niedrigeren Niveau, deshalb wird momentan nicht so drastisch gekürzt. Eine gegen die unterste Einkommensschicht gerichtete Hartz-IV-Kampagne, deren Auswirkungen in Deutschland bereits in die normale Arbeiterschicht hineinreichen, traut man sich in England aus verschiedenen politischen Gründen noch nicht einzuführen. Jedoch sind die Arbeitsbedingungen insgesamt schlechter geworden.

SB: An die frühere Strahlkraft des British Empire erinnert heute kaum noch etwas. Weiß die Bevölkerung, daß Britannien heutzutage keinen großen internationalen Einfluß mehr hat, auch wenn das Vereinigte Königreich militärisch immer noch sehr aggressiv vorgeht? Steht die Bevölkerung geschlossen hinter den Kriegseinsätzen?

TB: Wegen des Irak- und Afghanistankrieges erfolgte bereits eine Kehrtwende wie in den USA auch. Die britische Armee war in den letzten 100 Jahren fast immer in Kriege verwickelt oder im Ausland stationiert. Ständig kämpfen britische Soldaten in Auslandseinsätzen. Natürlich ist das Imperium nicht mehr existent, das wissen die Engländer, deswegen spielt auch der Zweite Weltkrieg, weil man während dieser Jahre die meisten Einflußgebiete verloren hat, für die englische Psyche eine extrem große Rolle. Der böse Deutsche ist schuld daran, daß das Empire nicht mehr existiert, der böse Deutsche ist immer noch der Feind Nummer eins. Das ist zum Teil wirklich lächerlich. Im Fernsehen werden Antikriegsfilme mit antideutschem Unterton aus den 40ern und 50ern ausgestrahlt. Dieses Bild wirkt noch sehr stark auf die englische Psyche ein - und auch der Umstand, daß Großbritannien Deutschland besiegt hat. Zwar erkennt man an, daß die Sowjets und Amerikaner maßgeblich daran beteiligt waren, doch stießen sie erst später dazu. Für die britische Psyche ist die Sichtweise bestimmend, daß man Deutschland zwar besiegt, doch alles andere verloren hat. Letzteres wird dadurch relativiert, daß das kleine Großbritannien das böse Deutschland bezwungen hat.

Kampagnenmaterial 'No war but class-war' - Grafik: © CBPG via www.campaignbadges.co.uk

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Heutzutage spricht sich wegen des Irak- und Afghanistankrieges ein sehr großer Teil der Bevölkerung gegen neue imperialistische Strömungen aus. Natürlich hat Großbritannien imperialistische Tendenzen, aber nur, weil es als Anhängsel der USA deren Vorhut in Europa bildet. So werden auch die USA betrachtet. Die Diskussion um das Referendum, ob Großbritannien aus der EU austreten soll, wird dagegen völlig verdreht dargestellt. Cameron bekommt von seinen antieuropäischen Parteikollegen Druck und mußte deshalb diese Position einnehmen. Wenn man sich die Details seiner Grundsatzrede zur EU anschaut, geht es nicht um einen Austritt. Er sagte: Wenn wir in fünf Jahren noch an der Macht sind und es schaffen, mit dem Rest Europas einen neuen Vertrag auszuhandeln, werden wir diese Frage dem britischen Volk als Referendum vorlegen. Wie die Frage im einzelnen lauten wird, weiß noch niemand. Cameron mußte einen Kompromiß eingehen, aber einen Austritt aus der EU will auch der britische Kapitalismus nicht. Das wäre völlig abwegig und für die britische Wirtschaft ein absolutes Desaster. Dieses Zugeständnis mußte er den xenophobischen Parteifreunden machen. Daß es nicht wirklich ernst gemeint ist, weiß das britische Kapital ebenso wie die eigene Partei. Auch die US-Regierung hat deutlich gemacht, daß sie kein Interesse daran hat, die Briten als zuverlässigsten Partner in Europa zu verlieren. Dadurch würde man die EU Deutschland und Frankreich überlassen, was die US-Regierung keinesfalls will. Deshalb ist ihr eine britische Vorhut in Europa so wichtig.

Großbritannien hat derzeit keine eigenen imperialistischen Interessen, sondern vertritt die der USA. Mittlerweile ist bekannt geworden, daß Tony Blair von George Bush gedrängt und genötigt wurde, britische Soldaten in den Irakkrieg zu schicken - trotz Protesten aus den eigenen Reihen. Da wurde heftiger Druck ausgeübt. Inzwischen weiß man, daß Dokumente gefälscht und Lügen verbreitet wurden. Nicht das Parlament, das man völlig übergangen hatte, sondern das höchste Gericht mußte davon überzeugt werden, einer Kriegsbeteiligung zuzustimmen. Zwei Millionen Menschen haben gegen den Irakkrieg protestiert. Solche Massenproteste hat es früher nicht gegeben, als Großbritannien imperialistische Ausflüge in die Welt unternahm. Allerdings führte es nicht dazu, daß britische Truppen zurückgezogen oder neue imperialistische Abenteuer ausgeschlossen wurden. In Afghanistan sind immer noch britische Truppen stationiert, aber die Proteste haben den Politikern dennoch zu denken gegeben. So schnell wird man einer Beteiligung an Militäreinsätzen nicht mehr zustimmen, vor allem wenn es ganz offensichtlich ist, daß man damit nicht den eigenen Interessen dient, sondern denen der USA.

SB: Das britische Ressentiment gegenüber Deutschland muß sich nicht zwingend aus den beiden Weltkriegen des letzten Jahrhunderts herleiten, sondern könnte auch in der derzeitigen ökonomischen Vormachtstellung Deutschlands in der EU begründet liegen. Als Großbritannien zusammen mit Frankreich im Libyen-Krieg die strategische Vorhut bildete, hätte man dies auch als Versuch deuten können, die ökonomische Hegemonie Deutschlands und den daraus resultierenden Einfluß in der EU mit Hilfe einer militärischen Aggression zu kontern.

TB: Ich glaube nicht, daß der Libyen-Krieg als Versuch zu interpretieren ist, der deutschen EU-Politik durch einen britisch-französischen Militäreinsatz einen Denkzettel zu verpassen. Vielmehr hat das mit den Interessen Amerikas nicht nur in Libyen, sondern in der ganzen Region zu tun, den Nahen Osten neu zu ordnen und darüber unter US-hegemoniale Kontrolle zu bringen. Nicht antideutsche Aversionen standen im Vordergrund, sondern daß der Nahe Osten geschützt werden mußte. Deutschland gilt als das ökonomisch stärkste Land in Europa und ist wirtschaftspolitisch gesehen vielleicht sogar stabiler als die USA, aber in militärischer Hinsicht spielt Deutschland nicht annähernd die seiner Wirtschaftskraft angemessene Rolle in der Weltpolitik. Deutschland ist nicht einmal Ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat. Daraus ergibt sich ein eklatantes Ungleichgewicht zwischen ökonomischer, politischer und militärischer Macht. Die Vorstellung, daß Deutschland auch politisch größeren Einfluß gewinnt, vielleicht sogar Kriege führt und im Sicherheitsrat sitzt, macht vielen Briten Angst. Das ist auch der Grund für die enge Beziehung zu Amerika, zum großen Bruder, der Großbritannien beschützt.

SB: Der staatliche Repressionsapparat ist in Britannien stark ausgebaut. So fielen die Antiterrorgesetze nach 11. September 2001 dort um einiges härter aus als in Deutschland. Nach den Anschlägen des 7. Juli 2005 erfolgte eine weitere Verschärfung. Dazu kommt die Selbstverständlichkeit, mit der die flächendeckende Videoüberwachung akzeptiert zu werden scheint. Wie erklärst du dir die Bereitwilligkeit der Bevölkerung, die an George Orwells "1984" erinnernde Allgegenwart der Überwachung als Gewährleistung eigener Sicherheit zu begreifen?

TB: Das deutsche Volk war in der Vergangenheit eine größere Gefahr für den deutschen Staat, als es das britische Volk für den britischen Staat jemals war. Großbritannien hatte nie eine revolutionäre Situation. In diesem Punkt ist der Rest Europas den Briten meilenweit voraus. Eine bürgerliche Revolution gab es im 17. Jahrhundert, als Charles I. geköpft wurde. Damals hatte das Bürgertum versucht, den Adel zurückzudrängen und den Kapitalismus in Großbritannien zu etablieren. Das waren erste Schritte. Seitdem lassen die revolutionären Entwicklungen auf der Insel auf sich warten. Immerhin gab es die Chartisten. Die erste Arbeiterbewegung der Welt entstand in Großbritannien, sie erreichte aber nie eine Stärke, die der Staat als Bedrohung empfand. Rädelsführer wurden nach Australien abgeschoben oder gehängt, wodurch aufrührerische Ideen erfolgreich im Keim erstickt wurden. Seither kam das britische Volk nie auch nur in die Nähe einer Revolution und hat auch nie eine staatsgefährdende Rolle gespielt.

Die Akzeptanz der großflächigen Überwachung läßt sich teilweise mit einer seit langem gepflegten liberalen Tradition erklären. Während des Zweiten Weltkriegs flohen viele Dissidenten, darunter auch viele politisch Engagierte insbesondere der Linken, nach Großbritannien, weil dieses Land relativ libertär war und die Einreise weitgehend unbürokratisch verlief. Man kann in Großbritannien auch heute noch leben, ohne angemeldet zu sein. Dazu genügt ein europäischer Paß. Das Land ist in diesem Sinne noch relativ frei. Deswegen hat das Volk nicht gelernt, sich zu wehren, eben weil es nie bedroht war. Der Staat mußte nie gegen das Volk vorgehen, weil es nie stark genug war, den Staat in Frage zu stellen. In Großbritannien herrschte immer eine Laissez-faire-Attitüde vor. Die Videoüberwachung sowie die Antiterrorgesetze konnten in einem gesellschaftlichen Klima entstehen, in der die Denkweise "ich mache nichts Illegales, mich betrifft es nicht" überwiegt. Es gibt keinen großen Widerstand dagegen, daß man in der Überwachungshauptstadt der Welt lebt.

Hierzu trägt auch bei, daß die Überwachung in den Medien positiv dargestellt wird. Im Fernsehen werden Verbrechen nachgespielt. Das Opfer hat die Arbeitsstelle verlassen und geht nach Hause. Alle zwei Minuten werden Fotos von der Person geschossen. Nur bei diesen im Fernsehen simulierten Straftaten kommt die großflächige Videoüberwachung überhaupt zur Sprache, und zwar in einer Weise, daß der Zuschauer erkennt, daß er sich durch die Videoüberwachung sicherer fühlen kann. Die Überwachung ist ein schleichender Prozeß und geht mit relativer Freiheit in anderen Bereichen einher. Dies gilt auch für Linke. So wurden in Großbritannien nie linke Parteien verboten. Man kann sich frei organisieren und über alles schreiben. Die Pressefreiheit ist sehr ausgeprägt in Großbritannien. Erst jetzt kommt es zu gewissen Einschnitten, weil die Presse wegen übler Nachrede auf Schadenersatz verklagt werden kann. Das ist relativ neu. Die Persönlichkeitsrechte werden so wirksam geschützt, daß man die britische Presse wegen in aller Welt erscheinender Artikel, die sie in Großbritannien veröffentlicht hat, verklagen kann - in der Hoffnung, Millionen aus der Daily Mail oder Sun herauszuschlagen. In England gibt es acht Tageszeitungen, die zum Teil sehr politisch, von rechts bis links, schreiben. Neben der Repression existiert in Großbritannien auch eine sehr libertäre Pressetradition.

SB: Immerhin konnten in einem Klima des Sozialchauvinismus auch die ASBOS, vorrechtliche Sanktionsmaßnahmen, die ohne Gerichtsentscheid erfolgen, durchgesetzt werden.

TB: Diese Sanktionen, die von der Gemeinde bzw. der Polizei verfügt werden, spielen kaum noch eine Rolle. In einschlägigen Studien hat sich herausgestellt, daß auch älteren Damen, die ihre Nachbarn beschimpften, ASBOS auferlegt wurden. Das wurde immer lächerlicher, bis es keinen Sinn mehr machte. Unter Tony Blair wurde die Kampagne losgetreten, die Straßen von Gesindel sauberzuhalten. Das war sicher eine vom Sozialchauvinismus geleitete Attacke. Aber sie hat erstens nicht gegriffen und zweitens, was sollen die Leute machen, wenn sie aus ihren Häusern vertrieben werden, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen können? Es ist doch offensichtlich: Wenn man nicht genug investiert, um Jugendliche zu beschäftigen, dann stehen sie halt den ganzen Tag an der Ecke herum und pöbeln. Dieser Umstand war vielen bewußt und er wurde auch in der Presse zum Thema gemacht. Die Sanktionen hatten daher nicht den durchschlagenden Erfolg, den sich Tony Blair erhofft hatte. Wenn ASBOS noch eingesetzt werden, dann nur am Rande. Natürlich sind sie Teil einer Kampagne, die durch die Krise des Kapitalismus mitausgelöst wurde. Jene, die noch Jobs haben, sollen wissen, daß sie lieber die Klappe halten, sonst würde es ihnen so ergehen wie jenen, die mit ASBOS sanktioniert und deren Sozialleistungen gestrichen wurden.

Kampagnenmaterial 'Capitalism isn't working' - Grafik: © CBPG via www.campaignbadges.co.uk

Grafik: © CBPG via www.campaignbadges.co.uk

Den unteren Teil der Arbeiterklasse auszugrenzen war nicht unbedingt beabsichtigt, aber man sollte sich besser fühlen als jene, die von Sanktionen betroffen waren und denen es noch schlechter ging als einem selbst. Es gibt Bezirke in Großbritannien, besonders in London, in denen nur sozial Gestrandete leben, die kein Geld und keine andere Möglichkeit haben, als in heruntergekommenen Hochhäusern zu wohnen. Es ist dann leicht zu fordern, auf die Leute in diesen zweifelsohne furchtbaren Gegenden, wo sich kein Mensch hin traut, ein Auge zu haben. Aber warum ist das so? Eben weil es keine Arbeitsmöglichkeiten gibt und diese Leute keine Ausbildung bekommen haben. Genau wie in Deutschland, nicht zuletzt durch Hetzkampagnen der Bild-Zeitung, wurde versucht, einen Keil in die Gesellschaft zu treiben. Aber ich bezweifle, daß diese Kampagnen in Großbritannien einen größeren Erfolg hatten als in Deutschland.

Schon Marx hat erkannt, daß die Reservearmee - der ärmste Teil der Gesellschaft - immer größer wird. Der Kapitalismus ist in der Krise und kommt kaum noch auf die Beine. Was soll mit den Leuten geschehen, die nicht zu integrieren sind? Da ist die Neigung groß, sich von ihnen zu distanzieren. Allerdings gibt es momentan Bestrebungen, diejenigen, die aus dem gesellschaftlichen Raster gefallen sind, wieder zu integrieren. Denn was hätte man davon, sie zu verdammen und in die Ecke zu schieben. Dadurch schafft man nur noch mehr Probleme. Natürlich geben die Tories nicht Milliarden für Jugendprojekte aus. Und sie tun sich auch schwer, diese Sanktionen wieder zurückzunehmen. Es gibt einfach nicht genügend Jobs für alle Arbeitslosen, und niemand weiß, wie man diese randständigen Existenzen wieder integriert. Das ist ein Problem des Kapitalismus in der Krise, in der Endkrise möglicherweise. Die Konservativen auf der Regierungsbank können dieses Problem, das nur eines von vielen ist, nicht lösen.

SB: Tina, vielen Dank für deine ausführlichen Erklärungen.

Fußnoten:
[1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0143.html


20. Februar 2013