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INTERVIEW/162: Unterdrückungshilfe Strafvollzug - Dan Berger im Gespräch (SB)


Repression gegen arme Bevölkerungsteile und deren Widerstandspotential

Interview am 12. Januar 2013 in Berlin



Am 12. Januar 2013 fand die XVIII. Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz mit mehr als 1800 Besucherinnen und Besuchern in der Berliner Urania statt. Unter dem Thema "Wer hat Angst vor wem?" präsentieren junge Welt und Unterstützerorganisationen politische Referentinnen und Referenten aus mehreren Ländern, darunter auch Dan Berger aus den USA. [1]

Der Historiker Dan Berger ist Schriftsteller, Aktivist und Assistenzprofessor für vergleichende ethnische Studien an der University of Washington in Bothell. Er publiziert zu Fragen der Rasse, Medien, Gefängnisse und sozialen Bewegungen in den USA. [2] Am Rande der Konferenz beantwortete Berger dem Schattenblick einige Fragen.

Dan Berger vor Transparent 'Free Mumia Abu-Jamal!' - Foto: © 2013 by Schattenblick

Dan Berger
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Sie sind Wissenschaftler und Aktivist. Was in Ihrer Lebensgeschichte hat Ihr Interesse an Gefängnissen und deren Insassen geweckt?

Dan Berger: Ich bin seit meinem vierzehnten Lebensjahr Aktivist. Meine Familie zog damals in einen anderen Bundesstaat um, wo wir in einem sehr konservativen Vorort lebten. Mir gingen alle möglichen Gedanken im Kopf herum, da ich eine radikale Veränderung dieser Verhältnisse für notwendig hielt, doch wußte ich nicht so recht, wo und wie ich anfangen sollte. Auch wenn mir das seinerzeit noch nicht klar war, suchte ich Mentoren, die mich in meinem Anliegen inspirieren könnten. Ich wollte anderen Menschen helfen, konnte dies aber zunächst noch nicht mit politischen Fragen verbinden. In meinem konservativen Lebensumfeld fand ich natürlich keine Unterstützung. Daher beschäftigte ich mich mit verschiedenen linken Organisationen überall im Land und beschaffte mir entsprechende Literatur. Auf diese Weise kam ich schließlich in Kontakt mit Gruppen, die mit politischen Gefangenen in den USA arbeiten. Schritt für Schritt wurden mir Namen, Gesichter und Adressen von Leuten geläufig, an die ich mich wenden konnte. Ich bin also mittlerweile schon fünfzehn Jahre in diesen politischen Bezügen aktiv. Nachdem ich eine Menge über amerikanische Geschichte und soziale Bewegungen erfahren hatte, stieß ich darauf, wie sehr letztere von Haftstrafen bedroht sind. Daher befaßte ich mich sowohl in meiner wissenschaftlichen Arbeit als Historiker wie auch in meinem Engagement als Aktivist intensiv mit der Situation der Gefangenen.

SB: Haben Sie aufgrund dieses Engagements eine soziale oder politische Botschaft für Menschen, die sich noch nicht mit diesem Komplex konfrontiert haben?

DB: Die Gefängnishaft gehört in den Vereinigten Staaten wie auch in anderen Ländern zu den gravierendsten Menschenrechtsfragen unserer Zeit. Menschen, die sich für Politik, Wissenschaft und soziale Gerechtigkeit interessieren, sollten sich mit der Lage der Gefangenen auseinandersetzen. Die USA zeichnen sich seit jeher durch ein rassistisches und grausames Gefängnissystem aus, doch in den letzten 30 Jahren ist dieser Komplex um mehr als 700 Prozent angeschwollen, wenn man die Zahl der Insassen zugrunde legt. Gegenwärtig sitzen in diesem Land über 2,5 Millionen Menschen hinter Gittern, unterliegen mehr als 5 Millionen verschiedenen Maßnahmen spezieller Kontrolle durch Bewährungsauflagen und andere Einschränkungen ihrer Rechte. Gefangene werden nach Guantánamo Bay, Abu Ghraib, Afghanistan und an weitere Orte exportiert, was uns alle mit großer Sorge erfüllt.

Die Gefängnisse wurden zudem dazu benutzt, die radikalen Bewegungen der sechziger und siebziger Jahre zu zerschlagen, und können erneut in diesem Sinn gegen radikale Bestrebungen der Gegenwart zum Einsatz kommen. In den USA wurden ehemalige Mitglieder der Black Panther, Vorkämpfer für die Unabhängigkeit Puerto Ricos und andere Antiimperialisten zu horrenden Haftstrafen verurteilt, und heute gesellen sich junge Umwelt- und Tierrechtaktivisten wie auch unabhängige Journalisten, die die Weitergabe von Informationen über diese Bewegungen an die Behörden verweigern, zu ihnen. Auch Aktivistinnen und Aktivisten gegen den Krieg und für internationale Solidarität werden harschen Sanktionen unterworfen.

SB: Auf den ersten Blick mutet es unerhört kostspielig an, derart viele Menschen ins Gefängnis zu werfen. Könnte man das Gefängnissystem in den USA auch als eine politisch motivierte Alternative zu Sozialleistungen sehen, die auf diese Weise beschnitten werden?

DB: So ist es. Im Zuge der neoliberalen Offensive in den USA bot sich diese repressive Verfahrensweise als eine bequeme Rechtfertigung fehlender Finanzierung von sozialstaatlichen Maßnahmen aller Art an. Insbesondere entzog man jenen Menschen, die am stärksten auf staatliche Unterstützung angewiesen waren, jegliche Hilfen. Gerade in den ärmsten Bevölkerungsteilen traten die radikalsten Bewegungen in Erscheinung, und diesen Gesellschaftsschichten entstammt nicht von ungefähr der weitaus überwiegende Teil der Gefängnisinsassen. Auf diese Weise hielt man die arme Bevölkerung unter Kontrolle, zerschlug ihre sozialen Bewegungen und füllte unablässig die Gefängnisse, während zugleich staatliche Leistungen für Schulen, Wohlfahrt und soziale Dienste immer weiter eingeschränkt wurden.

Seit dem Ausbruch der Wirtschaftskrise im Jahr 2008 ist die Gefängnispopulation weiter gewachsen, doch können viele Bundesstaaten diese Eskalation des Gefängnissystems nicht mehr bezahlen, so daß sie zum Umdenken gezwungen sind. In dieser Hinsicht besteht eine gewisse Hoffnung, daß endlich wieder weiter gefaßte politische Ansätze und ökonomische Maßnahmen in Erwägung gezogen werden und man Steuergelder nicht mehr zum Schaden, sondern zum Nutzen der Gesellschaft verwendet. Allerdings halte ich es für gefährlich, diese Problematik ausschließlich unter ökonomischen Gesichtspunkten zu erörtern und dabei auszuklammern, daß bestimmte Bevölkerungsteile und Bestrebungen gezielt drangsaliert werden. Es kann also nicht nur darum gehen, weniger Geld für Gefängnisse auszugeben, vielmehr müssen in den USA andere Prioritäten gesetzt werden und Gelder für das aufgewendet werden, was wir brauchen, und nicht für etwas, was wir nicht brauchen.

SB: Die USA haben nach wie vor in vielerlei Hinsicht Modellcharakter für Deutschland. Mit welcher Art Gesellschaft haben wir es da zu tun - ist es gar eine Gesellschaft auf Bewährung?

DB: Die US-Gesellschaft weist eine ausgeprägte Schichtung nach Klasse, Geschlecht, Sexualität und Rasse auf, wobei letztere als eine Proliferation der Klassenunterschiede aufgefaßt werden kann. Das Gefängnissystem stellt in diesem Zusammenhang einen gewaltigen Schlag gegen die Gesellschaft dar, die geradezu in physischer Hinsicht in Haft genommen wird. Einer von hundert Menschen sitzt hinter Gittern, einer von dreißig befindet sich entweder in Haft oder steht unter Bewährung. Diese Situation ist strukturell für die USA, wobei diese Problematik der Öffentlichkeit erst in jüngerer Zeit in größerem Ausmaß bewußt wird. Der Zustand der Gesellschaft manifestiert sich zudem in einer Enge der politischen Diskussionen und Meinungen in den Medien.

Natürlich geht es dabei nicht nur um das Gefängnissystem, doch steht dieses an der Spitze einer breiten Palette sozialer Ungleichheiten, weil die Gefängnisinsassen in aller Regel den prekärsten Lebensverhältnissen entstammen. In den Strafanstalten findet man überdurchschnittlich viele Menschen mit HIV oder AIDS, physischen oder psychischen Gesundheitsproblemen, Behinderungen und anderen Belastungen. Auf diese Weise wird Ungleichheit nicht nur verschärft, sondern zugleich wird deutlich, wie die US-Gesellschaft mit Ungleichheit verfährt: Sie arbeitet nicht an ihrer Überwindung, sondern neigt in hohem Maße dazu, benachteiligte Bevölkerungsteile an den Rand zu drängen, auszugrenzen und zu bestrafen, damit sie sich nicht radikalisieren und die Gesellschaft verändern.

In den letzten drei Jahren hat sich jedoch einiges geändert. Das Interesse an solchen Themen ist beträchtlich gewachsen, und soziale Bewegungen sind mehr noch als in der Vergangenheit bereit, sich mit dem Gefängnissystem und der Lage der Gefangenen auseinanderzusetzen und dabei Verbindungen zu anderen Problemkomplexen wie der Einwanderung oder dem Gesundheits- und Bildungswesen zu ziehen. Es gibt meines Erachtens Grund zur Hoffnung, daß diese Bewegungen stark genug werden, um Veränderungen herbeizuführen.

Wegweiser zum Postamt für Gefangene - Foto: © 2013 by Schattenblick

Solidarität mit Gefangenen lebenswichtig
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Können Sie sich vorstellen, daß es wie im Falle des Pelican Bay State Prison vermehrt zu Aufständen innerhalb der Gefängnisse kommt?

DB: Auf jeden Fall. Das gehört zu den wesentlichen Veränderungen der letzten Jahre. Im Pelican Bay State Prison in Kalifornien wurden Gefangene seit Jahren in Isolationshaft gehalten, die in dieser speziellen Form eine Erfindung des US-Gefängnissystems ist. Es handelt sich um eine außerordentlich restriktive Haft, bei der Gefangene zwischen 22 und 23 1/2 Stunden täglich ohne jede menschliche Interaktion weggeschlossen sind, nur einen sehr eingeschränkten oder gar keinen Hofgang haben, schlechte Nahrung erhalten, nichts zu lesen bekommen und weiteren Einschränkungen unterliegen. Ausgerechnet an einem solchen Ort haben sich die Gefangenen zusammengeschlossen und den größten Hungerstreik in der Geschichte des US-amerikanischen Gefängniswesens organisiert, was phänomenal ist und viel über die Stärke des menschlichen Geistes aussagt.

Da die Häftlinge einander nicht sehen konnten, verständigten sie sich durch Zurufe von einer Zelle zur nächsten. Sie formulierten gemeinsame Forderungen, erzwangen deren Veröffentlichung und nahmen Kontakt mit einer Reihe sozialer Bewegungen auf. All das spricht für ihre Stärke, Hingabe und Entschlossenheit wie auch das Engagement der Bewegungen, die sie in ihrem Kampf für Veränderungen von außerhalb des Gefängnisses unterstützten. Von diesem Beispiel inspiriert, führten Häftlinge in mehreren anderen Gefängnisses des Landes Hungerstreiks durch, vor allem in Supermax-Strafanstalten wie Red Onion Prison in Virginia, aber auch in Ohio oder, verbunden mit Arbeitsstreiks, in Gefängnissen Georgias. Diese Kämpfe der Gefangenen sind außerordentlich wichtig, damit Menschen außerhalb der Strafanstalten diese Problematik ernstnehmen. Solche Beispiele sollten unsere Aufmerksamkeit, Sorge und Inspiration anspornen, weil sich Menschen unter eingeschränktesten und schwierigsten Bedingungen auf außergewöhnliche Weise organisiert und gemeinsam gekämpft haben.

SB: Worin würde Ihres Erachtens die substantiellste Hilfe von außen für die Gefangenen bestehen?

DB: Man kann die Gefangenen mit einer ganzen Reihe von Aktivitäten unterstützen. Am wichtigsten ist aus meiner Sicht eine Kampagne, die wir Dehaftierung nennen. Da sich die USA durch Massenhaft auszeichnen, fordern wir massenhafte Freilassungen von Häftlingen. Idealerweise geht es darum, dieses Gefängnissystem so weit schrumpfen zu lassen, bis es nicht mehr existiert. Auf dem Weg dahin sind Kampagnen gegen Todesstrafe, lebenslange Haft ohne Entlassung und Isolationshaft sowie für politische Gefangene und jugendliche Häftlinge notwendig und hilfreich. Solche Kampagnen zu spezifischen Themen können in Verbindung mit anderen Initiativen genauso dazu beitragen, an der Veränderung des Systems zu arbeiten, wie Kampagnen für die Budgets von Schulen oder gegen die Schließung von Bibliotheken und kommunalen Zentren. All diese Kämpfe an der Basis können sich mit dem Kampf gegen das Gefängnissystem zusammenschließen, was in etlichen Fällen auch tatsächlich der Fall ist. In Pennsylvania und Kalifornien fanden zwei der größten Kampagnen statt, und sollten Menschen in Deutschland oder anderswo in der Welt davon erfahren, sie mit ihrer Stimme und wenn möglich vielleicht auch etwas Geld und nicht zuletzt mit internationalem Druck auf ihre eigenen Regierungen wie auch Repräsentanten der USA unterstützen, käme uns das sehr zugute.

Das US-Modell von Folter, Gefangenschaft und Gewalt wurde generalisiert und an andere Orte exportiert. Was in den USA geschieht, betrifft in diesem Sinne die ganze Welt. Deshalb erachte ich es für die größte Hilfe, dafür zu sorgen, daß diese Gefahren nicht nach Deutschland, Frankreich, Chile oder wohin auch immer übergreifen. Wenn Menschen in ihrem eigenen Land gegen Folter und Inhaftierung politischer Aktivisten oder für die Freilassung inhaftierter Frauen kämpfen, die ihre Vergewaltiger getötet haben, und damit zeigen, daß das US-Modell bei ihnen keinen Anklang findet, würde das die Macht und Anziehungskraft des US-Systems erheblich schwächen. Wenn sich diese Kampagnen in den jeweiligen Ländern dann mit jenen in den USA vernetzen, arbeiten wir zum Nutzen aller zusammen.

SB: Sie hatten mir erzählt, daß Sie heute den ersten Tag in Deutschland verbringen. Darf ich Sie abschließend nach Ihren ersten Eindrücken fragen?

DB: Meine Eindrücke beschränken sich bislang auf die Rosa-Luxemburg-Konferenz. Es ist ein schöner Veranstaltungsort mit vielen, vielen Teilnehmern, die sehr interessiert und hilfsbereit sind. Und das ist ja nur der Anfang.

SB: Dan, ich bedanke mich für dieses Gespräch.

'Schreibt Gefangenen - jetzt & hier' - Foto: © 2013 by Schattenblick

Einer für alle ...
Foto: © 2013 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0142.html

[2] http://danberger.org/index.php?option=com_content&task=view&id=12&Itemid=26


21. Februar 2013