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INTERVIEW/199: Herrschaft in der Krise - am linken Schlaf vorbei, Sylvia Brennemann im Gespräch (SB)


Duisburger Verhältnisse - Die Unwirtlichkeit der neoliberalen Stadt

Interview am 4. Oktober 2013 auf Hamburg-St. Pauli



In ihrer Heimatstadt Duisburg engagiert sich Sylvia Brennemann als Sprecherin der BI Zinkhüttenplatz für den Erhalt einer Wohnsiedlung, die dem Bau eines Factory Outlet Centers weichen soll. Vor dem Auftakt der Hamburger Veranstaltungsreihe "Bürgerliche Herrschaft in der Krise" [1] berichtete die Aktivistin dem Schattenblick über den Kampf um die bedrohte Arbeitersiedlung in Duisburg-Marxloh und über den opportunistischen Kurs, den die örtliche Linksfraktion dabei eingeschlagen hat. Ihre Schilderung illustriert das Thema der Veranstaltungsreihe anhand eines Beispiels kommunaler Politik und neoliberaler Transformationslogik auf prototypische Weise.

Im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Sylvia Brennemann
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Sylvia, du wohnst schon dein ganzes Leben in Duisburg, du kennst also die Verhältnisse. Wie hat sich in deiner Stadt eigentlich der Strukturwandel niedergeschlagen, bei dem der einseitigen Fixierung auf die klassische Montanindustrie mit Medien, Kultur und Dienstleistungen entgegengetreten werden sollte?

Sylvia Brennemann: Es ist tatsächlich ein Niedergang der Stadt Duisburg festzustellen. Wir haben immer mehr arme Menschen, wirklich arme, hungernde Menschen in unserer Stadt, die letztlich auf der Strecke bleiben. Und sie werden mehr, während die Upperclass, für die Wohnungen und ganze Stadtviertel saniert werden, Einzug hält. Es wird alles aufgehübscht und es werden massenhaft Investoren in die Stadt gelockt. Eigentlich ist die Stadt ein gefundenes Fressen sozusagen für alle dahergelaufenen Halunken, die auch von der Allparteienallianz mit offenen Armen empfangen werden. Auf diese Weise gehen tatsächlich ganze Stadtviertel über den Jordan.

Marxloh ist ja nicht der einzige Stadtteil, der unter der Verdrängung zu leiden hat. Es geht in erster Linie auch um Bruckhausen, ein altes Arbeiterviertel mit sehr guter Bausubstanz, wo Mieten bezahlbar waren. Die Behauptung, daß dort nur zerfallene Häuser stehen, wird zwar ständig erhoben, stimmt aber nicht. Die Viertel werden einfach abgerissen, so wie jetzt am Zinkhüttenplatz, wo statt dessen ein riesiger Einkaufstempel entstehen soll. Tatsächlich jedoch ist diese Politik, die da betrieben wird, phantasielos. Es geht nur um höhere Einnahmen und Gewinne. Leider glauben in Duisburg noch viel zu viele, daß dadurch alles besser wird. Und die es nicht glauben, werden in die Fördergeld-Mafia eingebunden und halten dann die Klappe.

SB: Ein von seiten der Stadtentwickler in Stellung gebrachtes Argument lautet, daß es sowieso Abwanderung gebe, die Bevölkerung also schrumpfe. Wenn es so ist, woran könnte das liegen, daß Menschen aus Duisburg wegziehen?

Sylvia Brennemann: Zuerst muß man sagen, daß diese Abwanderungszahlen auch im Sinne des Erfinders geschönt werden. Fakt ist, daß in letzter Zeit mehrere 1000 Menschen neu in unsere Stadt gezogen sind. Doch diese Neubürger will man nicht. Man sortiert nach Menschen, die man will und die man nicht will, und die, die man nicht will, die verdrängt man. Fakt ist auch, daß die Stadt Duisburg selber im Sozialbericht veröffentlicht hat, daß in den nächsten Jahren bis zu 50.000 Sozialwohnungen fehlen werden. Dann werden wir de facto nicht mehr genügend bezahlbaren Wohnraum haben.

SB: Auf der einen Seite gibt es großen Wohnungsleerstand, was die Stadtregierung als Argument für ihre Abrißpolitik nutzt, auf der anderen Seite fehlen Sozialwohnungen. Wie geht das zusammen?

Sylvia Brennemann: Im Bereich Bruckhausen-Marxloh sollen ganze Straßenzüge, die vorher leergezogen wurden, abgerissen werden. Perfiderweise hat man dort über Jahrzehnte keine Neuvermietungen mehr vorgenommen. Solche leerstehenden Häuser wären früher besetzt worden, wodurch auf die Wohnungsleerstände aufmerksam gemacht würde. Heute gibt es diese Hausbesetzerszene nicht mehr. Mich hat neulich ein Journalist gefragt, wo all die Hausbesetzer geblieben sind. Ja, sage ich, ich würde sie gerne holen, aber wir haben keine. Die Wohnungen werden einfach nicht vermietet, und unbewohnte Häuser verfallen viel schneller. In Bruckhausen kann man zugucken, wie Häuser sterben. Sobald die leerstehen, sind sie hin, und werden nicht weitervermietet.

SB: Du bist in der Bürgerinitiative Zinkhüttenplatz aktiv, die sich gegen den Bau des zweitgrößten Factory Outlet Centers in Europa wehrt. Wie kann man sich das räumlich vorstellen, würde dann der halbe Stadtteil aus einem Einkaufspark bestehen?

Sylvia Brennemann: Es ist im Grunde genommen die Verbindung zwischen Hamborn und Marxloh, die dortige Siedlung ähnelt einer Insel. Dort befinden sich auch die Rhein-Ruhr-Halle und die Brautmodenmeile. Wenn man es malen würde, würde man dieses Outlet Center als Elefantenfuß mitten im Stadtteil sehen, der aber auch wirklich gnadenlos alles plattmacht. Das wäre die Vision.

SB: Ihr macht geltend, daß es wahrscheinlich eine starke zusätzliche CO2-Belastung durch den Kundenverkehr geben würde. Das geplante Einkaufszentrum soll einen Einzugsbereich von 24 Millionen Menschen haben, und man rechnet wohl mit 2,5 Millionen Kunden im Jahr. Was würde das für den Stadtteil bedeuten?

Sylvia Brennemann: Bis zu 12.000 PKW pro Tag erwarten uns dann zusätzlich. Hierzu muß man wissen, daß Duisburg, besonders der Duisburger Norden mit seiner industriellen Nähe, vor einigen Jahren zur Umweltzone erklärt wurde, was mit einer PKW-Plakettierungspflicht einhergeht. Infolge der dadurch anfallenden Mehrkosten konnte ein Großteil der Marxloher sein Auto nur noch verschrotten. Ihnen fehlt natürlich das Geld, um sich ein neueres Modell mit zulässigen Abgaswerten anzuschaffen. Dafür holen sie uns jetzt 12.000 zusätzliche Autos in die Stadt. Das ist eine totale Katastrophe, die Grenzwerte sind jetzt schon permanent überschritten. Wir haben in diesem Jahr bereits in 35 Fällen CO2-Grenzwertüberschreitungen gehabt, PM10, Feinstäube, das ganze Programm, das ist wirklich eine Katastrophe. Da wird uns aber erklärt, und so steht es auch im Gutachten, das sei alles kein Problem, weil die immer moderner werdenden Autos ja immer weniger Abgase produzierten, wodurch die Luft am Ende sauberer als vorher würde. Das sollen wir auch noch abnicken.

Ein weiteres Problem ist das Autobahnnetz. Zwar haben wir eine Autobahnabfahrt direkt am Ort, die Autobahn ist aber sehr schmal und jetzt schon völlig überlastet. Und nun heißt es, diese Autobahn solle umgebaut werden, obwohl wir wissen, daß der Investor gar kein Geld hat. Wir haben mehrfach bei Straßen.NRW nach den Plänen gefragt. Wenn tatsächlich das Factory Outlet Center gebaut werden sollte, wird es mit Sicherheit hierfür Bundesgelder aus irgendwelchen Fördertöpfen geben. Auf der anderen Seite werden Kindergärten und Schulen geschlossen.

SB: Für die Stadtentwicklung würden Mittel freigesetzt werden, die man ansonsten nicht zu haben behauptet?

Sylvia Brennemann: Genau, da bin ich mir sehr sicher.

SB: Infolge des Strukturwandels soll sich die Luft in Duisburg ja generell in den letzten Jahrzehnten verbessert haben. Stimmt das?

Sylvia Brennemann: Klar, seit die Hochöfen nicht mehr brennen, ist die Luft besser, es gab auch technische Verbesserungen. Aber wir produzieren keinen grünen Stahl, das kann man nicht sagen. Was man jetzt nicht mehr sieht, ist deutlich gefährlicher. PM10-Feinstäube belasten unsere Luft massiv. Da ist tatsächlich ein Anstieg zu vermerken. Natürlich wird auch dieses Luftproblem gut verkauft, indem jetzt die Hochöfen alle bunt angestrichen werden. Schwarzwaldluft bekommen wir damit sicher keine nach Duisburg.

SB: In den 400 Wohnungen, die plattgemacht werden sollen, leben etwa 1000 vor allem alte und kranke Menschen. Wie kommt diese Zusammensetzung der Wohnbevölkerung zustande?

Sylvia Brennemann: Es handelt sich eigentlich um eine alte Thyssen-Siedlung. Thyssen ließ die Wohnungen für die Werksangehörigen bauen, und mit dem Bau der Siedlung vor 60 Jahren waren direkt Arbeiterfamilien eingezogen, und die sind tatsächlich alle geblieben. Inzwischen sind die Kinder aus dem Haus, viele Partner sind verstorben, aber die Witwen und Witwer wohnen noch dort. Die Fluktuation ist sehr gering. Es war eine Art Mustersiedlung, mit vielen Grünflächen und Gemeinschaftsräumen, die ihnen inzwischen weggenommen wurden. Dennoch ist das Wohnklima, die Wohnatmosphäre, weiterhin sehr schön, es gibt eine hohe Solidarität unter den Betroffenen. Dies wird in den Medien ganz anders dargestellt. Dort heißt es, dort wohnten heruntergekommene Asis, die menschlich überhaupt nichts miteinander zu schaffen hätten. Das stimmt nicht, sie sind sehr aufeinander angewiesen und unterstützen sich stark. Weil die Renten der Bewohner sehr klein sind, wohnen dort viele Arme.

SB: Trifft das auch auf Bruckhausen zu?

Sylvia Brennemann: Ja.

SB: Vertritt die BI auch die Interessen der Einwohner Bruckhausens?

Sylvia Brennemann: Ich bin ja zur Sprecherin der BI Zinkhüttenplatz geworden, weil wir das Häuserthema schon in der BI Grüngürtel intensiv bearbeitet haben. Wir sind stets davon ausgegangen, daß der Häuserabriß auf jeden Fall weitergeht. Der frißt sich wie ein Geschwür durch die Stadt. Spätestens jetzt, nachdem die Stadt die Agenda 2027 öffentlich gemacht hat, ist klar, daß das genau der Plan ist, der dahinter steht. Das ist ein großes Thema, und da können die BIs eigentlich nur zusammenarbeiten.

SB: Der aktuelle Stand der Entwicklung scheint ja den Erhalt der Zinkhüttensiedlung in Aussicht zu stellen. Wie sind die konkreten Umstände, die dies möglich machen?

Sylvia Brennemann: In unmittelbarer Nähe zur Zinkhüttensiedlung befinden sich die Grillo-Werke, keine 150 Meter von der Siedlung und vom geplanten Factory Outlet Center entfernt. Dieses Chemieunternehmen ist als Störfallbetrieb eingestuft. Wir haben relativ früh aufgedeckt, daß es da einen sehr stringenten Abstandserlaß gibt. Eine europäische Störfallverordnung schreibt für die Neuansiedlung von Gebäuden, Wohnobjekten und so weiter einen Mindestabstand von 900 Metern vor. Den Abstand hat es aber nicht. Keine bauliche Maßnahme der Grillo-Werke würde diesen Abstand reduzieren. Da man immer von dem Dennoch-Störfall ausgehen muß, der in Seveso mit katastrophalen Ausmaßen erfolgt ist, wurde 2011 das Gesetz noch einmal verschärft. Den Dennoch-Störfall kann man nicht ausschließen. Alles, was bis dahin dort steht, hat Bestandsschutz, aber es gibt keine Neuansiedlungen. Wir kämpfen oft genug auch gegen Grillo. Der Betrieb bekommt immer neue Genehmigungen wie derzeit eine Schwefelsäureanlage, die auf ihrem Werksgelände in Marxloh gebaut werden soll. Da kann ich nur sagen, die gehört nicht in ein Wohnviertel, aber in dem Fall kommt es uns sehr zugute.

Wir haben eine Stellungnahme von Grillo im Rahmenbauleitverfahren zugespielt bekommen, in der knallhart auf unsere Argumentationskette eingegangen wird. Das Machbarkeitsgutachten des Investors für das FOC sei "unzulänglich" [2], sprich ein Gefälligkeitsgutachten, was auch andere so einschätzen. Um das Bauleitverfahren steht es schlecht, deswegen zieht sich das auch ohne Ende hin. Zudem konnte der Investor nie seine Bonität nachweisen. Die Stadt ist voll auf ihn hereingefallen. Das haben wir vor einem Jahr deutlich gemacht. Jetzt haben wir herausgefunden, daß Haftanordnungen gegen den Investor ausgestellt wurden, weil er nicht liquide ist und seine Kredite nicht bedient [3]. In der Creditreform ist er mit einem Index von 600 [4] eingestuft - schlechter geht es nicht. Es heißt, er wird von niemandem Geld bekommen, um dieses Bauvorhaben durchzusetzen. Die Stadt setzt ein Ultimatum nach dem nächsten, um mit dem Investor Krisengespräche zu führen, um die verfahrene Situation doch noch hinzubiegen. [5]

Es sieht so aus, daß ihnen das FOC um die Ohren fliegt. Sollten sie trotzdem einen Bauplan aufstellen, werden wir ein Normenkontrollklageverfahren einleiten, weil aus unserer Sicht das Seveso-Gesetz eine klare Sprache spricht, da gibt es nichts zu pfuschen. Interessant ist, daß uns eine nichtöffentliche Beschlußvorlage zugespielt wurde, bevor ein Bauleitverfahren in Gang gesetzt worden ist. Aus der geht hervor, daß Duisburg eigentlich schon vorher in Knebelverträgen mit dem Investor festgesessen hat, aus denen die politisch Verantwortlichen jetzt wahrscheinlich nicht mehr herauskommen. Das heißt, daß sie, was immer sie jetzt machen, möglicherweise regreßpflichtig werden. Das ist bei weitem noch nicht alles: Durch den Verkauf des städtischen Grundstücks für das FOC sollte eine neue Vielzwecksporthalle in Hamborn finanziert werden. Die Halle ist fertig, aber das Geld ist nicht geflossen. Ich weiß nicht, was die Landesregierung bei der kommunalen Haushaltssituation dazu sagen wird, weil es nicht das einzige Drama in Duisburg ist. Es gibt ja weitere Skandale. Duisburg ist wie eine Skandalnudel, ich möchte hier nur die dubiose Millionen-Affäre um das Landesarchiv [6] erwähnen, darüber kann man auch wieder Bücher schreiben.

Es wird eng. Klar ist, daß sie im Rathaus zittern und vor der Presse wegkuschen. Es gibt auch keine öffentliche Erklärung mehr aus dem Rathaus. Möglicherweise muß jetzt einer auf den Balkon und sagen, wir waren schuld, und jetzt ist es vorbei. Das wird noch gut rappeln.

Ich darf natürlich niemandem unterstellen, an uns Drohbriefe verfaßt oder unsere Fassaden besprayt zu haben, das kann man ja nicht machen. Fakt ist aber schon: Wann immer wir in der Anfangszeit unserer BI etwas aufgedeckt haben, gab es eine Reihe von Bedrohungen: Drohbriefe, Droh-Mails, Drohanrufe. Dieses niederschwellig aggressive Verhalten hat aufgehört. Mag sein, daß da kein Geld mehr da ist, um irgendwen zu bezahlen, ich weiß es nicht. Der Informant, ein ehemaliger Mitarbeiter des Investors, mit dem wir uns getroffen haben, hat uns ganz klar gesagt, daß diese Bedrohungen aus einer bestimmten Richtung initiiert wurden.

SB: Dann ist euer Kampf schon erfolgreich gewesen.

Sylvia Brennemann: Ja. Im Grunde genommen versuche ich immer, die Betroffenen wieder von dem großen Glück herunterzuholen, weil Ende ist erst, wenn der Gegner aus dem Ring geht, und das ist im Moment noch nicht so. Das heißt, die können sich noch wer weiß was, wofür wir die Phantasie gar nicht für entwickeln können, ausdenken. Da müssen wir natürlich ein bißchen vorsichtig sein.

Banner 'Kein Häuserabriss für das FOC' - Foto: © BI Zinkhüttenplatz

Foto: © BI Zinkhüttenplatz

SB: Du bist auch engagiert für die in Duisburg lebenden Roma. Könntest du davon berichten?

Sylvia Brennemann: Bildlich gesprochen muß nur einer ein Streichholz zünden, dann knallt es. Immer wieder werden Häuser ausgeguckt, die man dann zum großen Problemhaus erklärt. Um dieses Haus inszeniert man dann Horrorszenarien von Klau-Kids bis hin zu Müllbergen, Rattenplagen und so weiter, und die verbindet man immer ganz konkret mit den Zuwanderern. Die in etwa 8000 Roma haben kein Anrecht auf irgendeine Form der Unterstützung. Sie bekommen kein Hartz IV und sind dadurch gezwungen, die ersten drei Jahre als Duisburger Neubürger erst einmal zu hungern, oder sich irgendwie durchs Leben zu pfuschen, bis sie möglicherweise irgendwann Hartz IV bekommen oder sich überhaupt erst auf Arbeitssuche begeben dürfen. Einige bekommen Wohngeldunterstützung. Eine Krankenversicherung hat so gut wie niemand von ihnen, geschweige denn andere Versicherungen. Das heißt, die Umstände, unter denen diese Menschen bei uns leben, sind noch schlimmer als menschenverachtend. Hierfür gibt es keinen Ausdruck mehr, das ist eine absolute Katastrophe. Keine Gesundheitsversorgung zu haben, da fängt das schon an.

SB: Wie kommt es zu der Wohnsituation, die du beschrieben hast? Werden die Roma von der Stadt irgendwo untergebracht?

Sylvia Brennemann: Nein, es sind EU-Bürger, die in die Stadt ziehen und sich Wohnungen suchen. Als die ersten Roma kamen, folgten weitere. Sie organisieren sich natürlich, hier kennen sie schon einmal jemanden und bleiben dann. Viele waren zuvor in anderen Städten und wurden dort vertrieben. In Dortmund sind sie mit ihrer Vertreibungsstrategie noch perfider als in Duisburg, aber unser Oberbürgermeister hat schon angekündigt, daß er von dem aus seiner Sicht gelungenen Dortmunder Beispiel gerne lernen möchte. Es gibt inzwischen einen runden Tisch der beiden Städte. Dort tauscht man sich darüber aus, wie man die Zahl der Razzien erhöht und weiteren Repressionsdruck aufbaut. Damit versucht man, Leute zu vertreiben. Aber bei 8000 wird es langsam schwierig.

SB: Wie ist das mit der Solidarität in der Bevölkerung bestellt? Das übliche Vorgehen der Behörden besteht ja darin, die Leute gegeneinander aufzubringen. Gelingt das in Duisburg?

Sylvia Brennemann: Ja, sehr gut sogar. Nicht nur in der nicht politisch organisierten Bevölkerung ist schwer vermittelbar, warum Diebstähle vorkommen und andere Straftaten begangen werden. Solidarität erfahren diese Randgruppen kaum. Tatsächlich stellt sich die alteingesessene Bevölkerung hinter den OB und würde am liebsten alle 8000 Rumänen und Bulgaren aus der Stadt jagen.

SB: In Duisburg gibt es ja eine relativ starke Migranten-Community. Kommt es auch dort vor, daß sie sagen, wir sind die alten Duisburger und die sollen mal das Weite suchen?

Sylvia Brennemann: Das ist offenbar ein menschliches Problem. Die Zeiten, in denen sie selbst in Duisburg angekommen sind, haben sie vergessen, verdrängt, sie sind ja auch top integriert und fester Bestandteil der Stadt. Man rühmt sich mit ihnen - wir und unsere Moschee - und sie verfügen über organisierte Strukturen. Bei ihnen müssen wir Gehör finden mit dem Ansinnen klarzumachen, daß auch sie einmal neu hier ankamen, in ein für sie fremdes Land, in eine fremde Stadt, wo sie einst als die Allerschlimmsten galten, und jetzt kommen die nächsten. Sie argumentieren natürlich damit, daß sie ja geholt worden seien. Das ist sehr schwierig.

Sylvia Brennemann im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Klartext zu sozialchauvinistischen Zuständen
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Nach dem Unglück während der Loveparade 2010 in Duisburg stand der damalige Oberbürgermeister Sauerland im Mittelpunkt der Suche nach den dafür Verantwortlichen. Von weitem betrachtet konnte man den Eindruck haben, daß der Versuch, einen Hauptschuldigen auszumachen, zu Lasten anderer Fragen in diesem Zusammenhang ging. Was wäre da noch von Belang gewesen?

Sylvia Brennemann: Er hat sich natürlich falsch verhalten, da braucht man nicht drüber reden, er trägt die politische Verantwortung. Fakt ist jedoch, daß die im Duisburger Rat sitzenden 70 Ratsherren und Ratsfrauen alle die Loveparade befürworteten und alle wußten, daß ein Großevent Risiken birgt. Aber diese Politikerinnen und Politiker leiden nicht nur unter Phantasielosigkeit, sondern auch unter Größenwahn, und das betrifft flächendeckend alle Parteien. Sie fanden es toll, aus Imagegründen ein Riesenevent auszurichten und viele Einnahmen zu erzielen. Um einen großen Strich zu machen und dem Ganzen den psychologisch wertvollen Namen des Neuanfangs geben zu können, mußte einer gehenkt werden. Und jetzt wird weiter wie bisher verfahren, mit genau den gleichen Geschichten, die man auch vorher immer gemacht hat.

SB: Wie sehr spielt bei dem Versuch, derartige Spektakel zu inszenieren, das Verhältnis zu anderen Städten eine Rolle? Ich denke da zum Beispiel an Düsseldorf, das relativ nah liegt und eine reiche Stadt mit großem Kulturanspruch ist. Gibt es so etwas wie eine Städtekonkurrenz, die sich auch in den politischen Verhältnissen ausdrückt?

Sylvia Brennemann: Die Konkurrenz rappelt jetzt richtig, nachdem die Stellungnahmen der umliegenden Städte für die FOC-Pläne im Bauleitverfahren erfolgt sind. Die anderen Ruhrgebietsstädte sind sehr sauer und lehnen das FOC ab, weil es in den regionalen Städteplan nicht hineinpaßt. Die Regionalverwaltung Rhein-Ruhr hat sich zusammengesetzt, um die Region aus ihrer Sicht zu entwickeln. Duisburg schert jetzt aus und versucht, ein eigenes Ding zu drehen. Die Düsseldorfer haben eine andere Welt, die haben mit uns nichts zu tun. Es gab ja diese Opern-Ehe zwischen Düsseldorf und Duisburg, und auch da hängt der Fortbestand unserer Oper tatsächlich daran, ob die Düsseldorfer uns gnadenvollerweise zubuttern. Für Düsseldorf sind wir keine Konkurrenz, eher vielleicht deren Müllkippe.

SB: Heißt das, daß dieser ehrgeizige Plan, das Ruhrgebiet in eine Art postindustrielle Kulturlandschaft zu verwanden, daß die Idee, man könne auf das vorherige Produktionsmodell sozusagen eine postindustrielle Dienstleistungsgesellschaft draufsatteln, im Grunde nicht gefruchtet hat?

Sylvia Brennemann: Ich will mal sagen, wenn man eine alte bröckelnde Fassade bunt anstreicht und die vorhandene Substanz nicht nutzt, kommt sicherlich nichts Besseres dabei heraus. Es ist Make-up, Kosmetik, und trifft nicht den Kern der Geschichte. Nur weil man einmal ein Wochenende die Autobahn sperrt und alle da am Sonntag spazierengehen, werden die Leute nicht satter und kommen auch nicht leichter an Bildung, die ihnen zusteht. Man hat grundsätzlich nichts verändert. Und deswegen versucht man die letzte Idee, die aber tatsächlich nichts bringen wird. Wie gesagt, die Phantasielosigkeit nimmt auch da kein Blatt vor den Mund.

In Marxloh versucht man seit zwei Jahrzehnten, dem Stadtteil ein anderes Image aufzudrücken und ihm aus dem Schmuddelimage herauszuhelfen. Nein, das muß man nicht. Man muß es genauso lassen, wie es ist. Denn wenn das Schmuddelimage verschwindet, sind wir auch nicht mehr da, weil wir uns dann die Mieten nicht mehr leisten können. Als Negativbeispiel nenne ich Berlin. Was da gelaufen ist, wollen wir hier nicht. Aber letztlich haben wir bei dieser Entscheidung kaum einen Schuh in der Tür.

Sylvia Brennemann im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Partei Die Linke im Praxistest
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Du bist wegen dieser Art von Stadtpolitik nicht mehr Mitglied bei der Partei Die Linke. Kannst du sagen, wie es dazu gekommen ist?

Sylvia Brennemann: Gerne. Grundsätzlich muß ich natürlich betonen, daß ich die Programmatik, die die Partei Die Linke macht, nach wie vor unterstütze. Wenn aber Teile der Partei meinen, genau diese Programmatik komplett über den Haufen werfen zu können, dann ist das mit meinem Politikverständnis nicht mehr vereinbar. Tatsächlich macht mich das sogar sehr wütend. Ich habe innerhalb der Partei immer wieder zu erklären versucht, warum diese Politik nicht in Ordnung ist. Wir wollen keine neoliberale Stadt. Wir wollen eine Stadt, in der alle leben können.

Das behauptet Die Linke auch von sich, macht es aber genau andersherum. Die Linke ist im Rathaus angekommen, fühlt sich da pudelwohl und glaubt tatsächlich, in dieser rot-rot-grünen Koalition, die es bei uns in Duisburg gibt, die ganze Stadt in Richtung linke soziale Politik und Gerechtigkeit zu schieben. Und genau das passiert nicht. Sie dürfen ein bißchen mitbestimmen, und wenn sie anfangen zu knurren, kriegen sie einen neuen Aufsichtsratsposten aufs Auge gedrückt, und dann ist man ja auch schon ein bißchen zufriedener. Sie haben sich im Rathaus eingekuschelt und sind davon überzeugt, daß das der Weg ist, um soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen.

Dafür nehmen sie in Kauf, daß man eben ein paar 100 Menschen über den Jordan gehen läßt, also daß ganze Stadtteile über die Klinge springen. Diese Kröte müsse man schlucken, und dazu war ich nicht bereit. Für mich geht eine solche Politik überhaupt nicht. Die Linksfraktion macht eine schlechte Politik, die man nicht mittragen kann. Über einen Richtungswechsel hätte es eine Diskussion geben müssen, allerdings hätte es dazu einer kämpferischen Partei bedurft. Aber auch das ist nicht passiert. Zwar wurde geknurrt und gemeckert, und es heißt immer noch, man sei solidarisch mit der Zinkhütte, aber ich kann das nicht mehr nachvollziehen.

Ich sehe das so, daß sie nur dann solidarisch mit der Zinkhütte sind, wenn sie dieser Fraktion das Vertrauen entziehen. Ansonsten sind das für mich alles Lippenbekenntnisse. Wäre ich bei der Linken geblieben, könnte auch ich mich immer wieder echauffieren und sagen, oh Gott, bin ich erschrocken, dulde aber, was da passiert. Sie sind mitschuldig. Auch Hermann Dierkes, der Fraktionsvorsitzende, ist mitschuldig und, genau wie die CDU, die SPD und die Grünen, mitverantwortlich für das Schicksal, das diesen Menschen dort aufs Auge gedrückt wurde.

SB: Hermann Dierkes wurde vor einigen Jahren im Zusammenhang mit seinem Engagement in der Palästinafrage stark kritisiert. Wie kommt es, daß ein linker Ratsherr, der sich politisch in bestimmten Fragen ins Abseits stellt, so integriert in die Funktionseliten der Stadt ist?

Sylvia Brennemann: Man kann jetzt nicht sagen, ein blindes Huhn findet auch mal ein Korn, aber das trifft es ungefähr. Seine Palästina-Politik habe ich immer unterstützt, dafür erhält er volle Solidarität. Er wird dafür auch angegriffen, doch das muß man trennen. Das Problem ist aber der Grund, weshalb er integriert ist: weil man ihn gar nicht ernst nimmt! Er ist das Zünglein an der Waage. Duisburg war immer eine SPD-regierte Stadt, und dann gab es diesen Wechsel zu der schwarz-grünen Ratsmehrheit. Mit der Linken kann man die CDU ausschalten, und genau das ist der Plan, nichts anderes, eine rein strategische Ehe, in der aber Die Linke richtig aufblüht und ganz toll mit den anderen Fraktionen zusammenarbeitet. Doch auch nach mehrmaligem Nachfragen, wo denn jetzt die linken Errungenschaften oder linken Nuancen in dieser Kooperationspolitik zu finden sind, bleiben sie die Antwort schuldig. Es gibt dazu keine Antwort, jedenfalls keine gehaltvolle.

Sie haben doch sogar freiwillig darauf verzichtet, aus der Linksfraktion einen Baudezernenten zu benennen. Dabei hatte sich eine sehr kompetente linke Fachkraft beworben, die für alle BIs genau richtig gewesen gewesen wäre. Dann hätte man wirklich einmal die Autobahn sperren können, das wäre ein Grund gewesen. Das hätte den Kampf gegen das FOC deutlich einfacher gemacht, damit hätte man die ganze neoliberale Stadtentwicklung leichter behindern können. Stattdessen hat man einen aus der rechten Sozialdemokratie kommenden Politiker genommen, der mit genau der gleichen Einstellung wie der Rest seine Stiefelabdrücke in der Stadt hinterläßt. Da hat man eine Chance vertan. Wenn ein Parlament wichtig ist und man seine Möglichkeiten an einer entscheidenden Stelle nicht nutzt, dann ist das eine Katastrophe.

SB: Wie beurteilst du die Bereitschaft der Bevölkerung in Duisburg, sich durch solche Entwicklungen radikalisieren zu lassen? Oder herrscht eher eine allgemeine Resignation vor?

Sylvia Brennemann: Viele Leute resignieren, weil ihnen Körner hingestreut werden, während man ihnen das Kotelett vom Teller zieht. Und oft denken sie - in Bruckhausen erlebe ich es zumindestens so -, daß, wenn sie sich wegducken, sie nicht von der Keule getroffen werden. Das glaubt ein großer Teil derer, die hier leben. Doch es gibt auch diejenigen, die sich in einer der vielen BIs engagieren. Wir veranstalten zu jeder Ratssitzung eine Lärmdemo vor dem Rathaus und waren als BI Zinkhüttenplatz lange alleine. Nun erleben wir eigentlich zu jeder Ratssitzung, daß immer neue BIs gegründet werden, gegen Schulschließung und so weiter. Und es gibt zarte Versuche für eine Vernetzung, um alles unter einen Hut zu bringen. Es sind keine tobenden Bürgermassen, aber es bewegt sich was. Und in der Zinkhüttensiedlung selber ist es so, daß da die Menschen - alles alte SPD-Wähler, Sozialdemokraten - dermaßen von ihrer Sozialdemokratie enttäuscht sind, daß sie plötzlich komplett umdenken. Sie wenden sich von diesem System ab und sagen, das ist es nicht, das wollen wir hier nicht. Fakt ist aber auch, daß sie natürlich alt und angeschlagen sind. Sie haben zwei Jahre lang den Kampf ihres Lebens gekämpft und sind erschöpft, sie können einfach nicht mehr. Vielleicht drei von tausend Menschen engagieren sich intensiv, setzen sich für ihre Belange auch in der Politik ein. Es sind nur wenige, die die Kraft aufbringen können, um den großen Rundumschlag zu versuchen.

SB: Von dem, was früher als rote Ruhr galt, ist heute also nichts mehr vorhanden?

Sylvia Brennemann: Nein, leider nicht.

SB: Sylvia, vielen Dank für das lange Gespräch.


Fußnoten:


[1] http://www.kapitalismus-in-der-krise.de/

[2] http://www.derwesten.de/staedte/duisburg/grillo-sieht-keine-chance-fuer-outlet-in-duisburg-marxloh-id8431113.html

[3] http://www.rp-online.de/niederrhein-nord/duisburg/nachrichten/stadt-fordert-erklaerung-von-sevenheck-1.3688633

[4] http://www.general-anzeiger-bonn.de/bonn/themen/suedueberbauung/Ordnungsgeldverfahren-gegen-Sevenheck-article1149975.html

[5] http://www.derwesten.de/staedte/duisburg/foc-investor-roger-sevenheck-ward-auf-der-expo-real-in-muenchen-nicht-gesehen-id8539387.html

[6] http://www.wdr.de/tv/diestory/sendungsbeitraege/2013/0408/skandal.jsp

Webpräsenz der BI Zinkhüttenplatz:

http://www.mattern-duisburg.de/

Bisherige Beiträge zur Veranstaltungsreihe "Bürgerliche Herrschaft in der Krise" im Schattenblick unter
INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/165: Herrschaft in der Krise - Wo steht der Feind? (SB)
BERICHT/166: Herrschaft in der Krise - Mangel, Druck und Staatsräson (SB)
INTERVIEW/196: Herrschaft in der Krise - Bündnisse der Arbeit, Hans-Peter Brenner im Gespräch (SB)
INTERVIEW/197: Herrschaft in der Krise - der Lackmustest, Markus Bernhardt im Gespräch (SB)
INTERVIEW/198: Herrschaft in der Krise - türkisch-linke Bündnisfragen, Duran Kiymazaslan im Gespräch (SB)


20. Oktober 2013