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INTERVIEW/258: Kurdischer Aufbruch - Volle Bremsung, neuer Kurs ...    Elmar Altvater im Gespräch (SB)


Fossilismus und Wachstumskritik

Die kapitalistische Moderne herausfordern II - Konferenz an der Universität Hamburg, 3. bis 5. April 2015


Dr. Elmar Altvater ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin und langjähriger Streiter für eine Welt, in der die Zerstörungskraft der kapitalistischen Moderne von einer sozialökologisch ausgeglicheneren und menschen- wie naturfreundlicheren Zukunft abgelöst wird. Auf der Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern II" hielt er die Eröffnungsrede und lobte darin die kurdische Freiheitsbewegung als progressive Kraft dafür, die vermeintlichen Sachzwänge nationalstaatlicher Machtinteressen, fossilistischer Energiesysteme und kapitalistischer Verwertungslogik aus den dadurch bedingten Widerspruchslagen heraus zu überwinden.


Bei der Eröffnungsrede - Foto: © 2015 by Schattenblick

Elmar Altvater
Foto: © 2015 by Schattenblick

Obwohl der Nahe und Mittlere Osten geologisch vollständig erschlossen ist, falle es dort leichter, unter einem Felsen ein gigantisches Ölfeld zu finden, als den Frieden zwischen den Völkern in der Region herzustellen. Dies sei eben auch dadurch bedingt, daß sich eine neue Querfront aus Teilen der OPEC- und Nicht-OPEC-Ölverbraucherländern gebildet habe, die fest auf den Fossilismus und die ökonomischen Machtverhältnisse des Kapitalismus eingeschworen ist. Fundamentalisten in den USA wie in einigen arabischen und afrikanischen Staaten, die Altvater ausdrücklich als ideologisch und nicht religiös bestimmt bezeichnete, sowie russophobe Eliten in Osteuropa setzten die Zukunft der ganzen Menschheit aufs Spiel, warnte der Referent in Hinsicht auf die aktuellen Brandherde in der Ukraine und in Syrien wie auch im Irak. Die Gefahr, daß die Aufrüstung zu einem neuen Kalten Krieg schnell in einen heißen Krieg umschlagen könne, entspringe geostrategischen und politökonomischen Widersprüchen, die zum Verständnis heutiger Krisen von Belang seien.

Während Altvater Öcalans Friedensangebot, das zum diesjährigen Newroz-Fest erneuert wurde, ausdrücklich lobte, warnte er vor einer möglichen Verwandlung der Türkei in einen Polizeistaat, der die Rechte seiner Bevölkerung zusehends einschränke. Es gehe jedoch um mehr als um Rojava und die Zukunft der etwa 20 Millionen Kurden in der Türkei, der 9 Millionen im Iran, der 6 Millionen im Irak, der 4 Millionen in Syrien und jenen der kurdischen Diaspora in Europa und der ehemaligen Sowjetunion. Die gesamte Region von Afghanistan über den Persischen Golf, die arabische Halbinsel bis Nordafrika und die Schwarzmeerregion wie auch Zentralasien stehe im Zeichen handfester ökonomischer und geostrategischer Interessen, in die alle wichtigen geopolitischen Akteure involviert seien.

Um so wichtiger erscheint dem Referenten die Entwicklung, daß die nach dem Ersten Weltkrieg geschaffenen Grenzen des Sykes-Picot-Abkommens immer mehr in Frage gestellt würden. Dies erfolge nicht im Sinne eines klassischen Territorialkampfes, der lediglich eine weitere Grenzverschiebung zum Ziel hat, sondern diene dazu, die Bedeutung von Grenzen generell zu hinterfragen. Weil die Kurden durch eine imperiale Grenzziehung auf mindestens vier Länder verteilt wurden, liege es nahe, daß die Form des Nationalstaates, wie von Öcalan seit Jahren vertreten, nicht mehr das Gefäß sein könne, um das kurdische Volk zusammenzufassen.

Den in der europäischen Tradition scheinbar alternativlosen Nationalstaat in Frage zu stellen ergebe sich auch aus der Geschichte blutiger Grenzkonflikte, in denen es um natürliche Ressourcen oder Gebiete von strategischer Relevanz ging. Deren Beherrschung sicherte den Nationalstaaten ökonomische und politische Macht, internationale Größe und kulturellen Glanz. In einer Zeit, in der die Erde selbst kapitalistisch geworden ist, seien Begriff und Wirklichkeit des Nationalstaats jedoch zu eng geworden, so Elmar Altvater unter Verweis auf die ungeheure Zunahme der Ungleichheit in der Welt. Wie David Harvey analysiert habe, nehme diese stetig zu, wenn die Kapitalakkumulation nicht mehr nur aus dem produzierten Mehrprodukt erfolge, sondern als Enteignung aus der durch vergangene Arbeit produzierten beziehungsweise von der Natur ererbten Substanz finanziert werde.

Ein emanzipatorischer Fortschritt im Sinne des Ausgleichs dieser Widersprüche sei seiner Ansicht nach nur im Zuge einer großen Transformation der kapitalistischen Gesellschaftsordnung möglich. Ob diese revolutionär oder reformierend erfolge, könne nur im nachhinein entschieden werden. So könne eine reformatorische Entwicklung sich zu einem revolutionären Umbruch entwickeln, aber Revolutionen könnten, wie ihre Geschichte zeige, auch sehr leicht im Reformismus versanden.

Rahmen und Regelwerk dieser Auseinandersetzung sei der Markt. Dieser sei keineswegs, wie propagiert, frei, sondern der Gesellschaft und Natur völlig entrückt, weshalb er den imperativen Charakter eines Sachzwanges angenommen habe. Dabei habe sich die Doktrin des Marktes zu einer mächtigen Ideologie entwickelt, die das Handeln der politischen Akteure bestimme und in den Institutionen der globalisierten Welt fest verankert sei. Dort trage diese Ideologie Namen wie Strukturanpassungsprogramme des IWF, Konsens von Washington, Acquis Communautaire der EU oder Auflagen der Troika, die Griechenland fast bis zum Exitus erwürgt haben.

Die mit einem durch den Markt definierten Ordnungsrahmen versehene neoliberale Weltordnung habe die Funktion des nationalstaatlichen Souveräns übernommen. Das zeige auch das Beispiel Griechenland, wo eine legitime Entscheidung der Regierung den erpresserischen Forderungen der Troika gegenüber keinerlei Bedeutung habe.

Während natürliche Ressourcen in früheren Jahrtausenden dazu eingesetzt wurden, die Menschen unter Druck zu setzen und mit Zwang gefügig zu machen, habe sich dieses Gewaltverhältnis seit der fossil-industriellen Revolution des 18. Jahrhunderts grundlegend verändert. Seitdem speist sich ökonomische Macht aus fossilen Energieträgern, bei deren Förderung die Natur rücksichtslos ausgeplündert und ihre Tragfähigkeit durch schädliche Emissionen gnadenlos überlastet werde. Um so schärfer stellt sich die Frage, wie die Menschen sich auf der begrenzten Kugelfläche des Planeten Erde (Immanuel Kant) organisieren, um ein friedliche Zusammenleben überhaupt möglich zu machen.

In allen historischen Epochen wollten große Eroberer die Grenzen der Erde überwinden und mußten dabei entdecken, daß ihnen neue Grenzen erwuchsen. Während die Welteroberer der Prämoderne noch versuchten, große Reiche zu bilden, stellten sich moderne Eroberungsstrategien als Prozesse der Inwertsetzung dar. Eingespeist in die globale Verwertungsdynamik des Kapitals würden Regionen, Lebensweisen und Gemeingüter. Dieser in Raum und Zeit schrankenlose Prozeß umschließe alle geografischen Bezirke und beziehe sich auf alle Ressourcen der Welt. Da die ökonomische und finanzielle Reproduktion des Systems weitgehend von fossilen Brennstoffen abhänge, gerate das herrschende Konsum- und Produktionsmodell der entwickelten Industriestaaten zu einem Sachzwang, der keine Abweichung zuläßt.

Die wesentliche Ursache der vielen gewaltsam ausgetragenen Konflikte gerade auch im Nahen und Mittleren Osten, wo sich die Tankstelle des Fossilismus befindet, sieht Altvater im Verwertungszwang des Kapitals, das sich permanent auf die Suche nach neuen Anlagemöglichkeiten macht. Eine Lösung des Problems könne nur darin bestehen, vom fossilen Energiesystem abzurücken und auf erneuerbare Energien umzusteigen. Die regionalen und globalen Ressourcen in diesem Sinne zu nutzen könne nur gelingen, wenn die Verfügung über sie demokratisiert und eine neue Form des Produzierens, Konsumierens und Zusammenlebens gefunden wird.

Mit dieser Perspektive schlug der Referent den Bogen zurück zur kurdischen Freiheitsbewegung und ihrem Konzept, neue genossenschaftliche Formen der Produktion und Organisation der Gesellschaft zu entwickeln. Im Anschluß an seine Rede beantwortete Elmar Altvater dem Schattenblick einige ergänzende Fragen.


Elmar Altvater im Interview - Foto: © 2015 by Schattenblick

Für eine solidarische und solare Zukunft ...
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Die kurdische Freiheitsbewegung verfolgt auch sozialökologische Ansätze, was im Widerspruch zu der Bedeutung steht, die fossile Energieträger für die Region des Nahen und Mittleren Ostens spielen. Sehen Sie überhaupt eine Chance, daß aus dieser von Kriegen erschütterten Situation heraus Fragen der Energiewende gestellt oder die Etablierung erneuerbarer Energien durchgesetzt werden können?

Elmar Altvater (EA): Ich bin davon überzeugt, schon deshalb, weil von dem Ölreichtum in den nah- und mittelöstlichen Gesellschaften nur eine kleine Minderheit profitiert. Was die Menschen im Irak und in Syrien, selbst im Iran oder in den Golf-Scheichtümern erleben, ist die Zerstörung nicht nur von materiellen Reichtümern, sondern auch von Lebensverhältnissen, gepaart mit einer zunehmenden kriegerischen Aggression, die ganz offensichtlich zu einer Bedrohung für das friedliche Zusammenleben der Menschen geworden ist. Was der Islamische Staat (IS) an terroristischen Akten verübt, ist nur der Reflex dessen, was den Menschen dort von den westlichen Industriegesellschaften angetan worden ist.

Wir kritisieren die Zerstörung der Buddha-Statuen oder der irakischen Kulturdenkmäler, aber sehen nicht, daß die ersten Zerstörer im Irak die USA gewesen sind. Sie haben die Kulturgüter 2003 nicht nur militärisch zerstört, sondern auch zur Ausplünderung durch die internationale Antiquitäten-Mafia freigegeben und dies durch ihr Besatzungsregime geschützt. Der IS macht das heute mit größerer Grausamkeit, um damit den Westen und die Medien zu provozieren. Die Mediengesellschaft ruft so etwas mit hervor. Ich will das damit keineswegs rechtfertigen oder verteidigen, im Gegenteil, aber man muß wissen, in welchem Rahmen das stattfindet und wo in dieser Dynamik Ursache und Wirkung liegen.

Alternativen zum fossilen Energieverbrauch sind deshalb eine Notwendigkeit, was viele Menschen in diesen Gesellschaften offenbar begriffen haben, weil die Ausbeutung von Erdöl und die Kämpfe um die letzten Reserven nicht zu einer friedlichen Gesellschaft führen. Ein gutes Leben kann man sich mit Geld vielleicht erkaufen, aber dazu ist immer nur eine kleine Minderheit in der Lage, während der Rest absolut nichts davon hat.

SB: In der Bundesrepublik werden ehrgeizige Klimaziele definiert. Gleichzeitig befindet sie sich in einer geopolitischen Auseinandersetzung mit der Russischen Föderation. In dem Zusammenhang wird gefordert, autark von russischen Erdöl- und Erdgaslieferungen zu werden, weswegen zum Beispiel Frackinggas stärker in Anspruch genommen werden soll. Wo bleiben in diesem Kontext die Ziele der Energiewende und des ökologischen Umbaus der Gesellschaft?

EA: Sie werden, wenn man so verfährt, natürlich in den Hintergrund der öffentlichen und politischen Auseinandersetzung gedrängt. Wir leben in einer sehr widersprüchlichen Zeit. Tatsächlich existiert so etwas wie ein Bewußtsein von der Notwendigkeit einer Energiewende. Wir müssen weg von fossilen und hin zu erneuerbaren Energieträgern. Das bedeutet aber auch, daß wir unsere Lebensverhältnisse und die Art und Weise, wie wir produzieren und unseren Lebensstandard organisieren, verändern müssen. Eigentlich wissen das alle, und häufig wird es auch von Politikern in dieser Weise formuliert. Wenn dann so ein Schockerlebnis wie Tschernobyl oder Fukushima kommt, wird auf einmal eine Energiewende selbst von denjenigen gefordert, die ursprünglich und noch kurz vor der Katastrophe in Japan das genaue Gegenteil praktiziert haben.

Momentan wird in den Industrieländern und auch in Deutschland der Versuch gemacht, fossile Energieträger durch andere fossile Energieträger zu ersetzen. Da das Erdgas für die europäische Region vor allen Dingen aus Rußland kommt, will man aus geopolitischen Gründen unabhängiger davon werden, was verrückt ist, weil man nicht wirklich unabhängig werden kann, wenn man bei fossilen Energieträgern bleibt. Statt dessen bohrt man im eigenen Vorgarten tiefer in die Erdkruste hinein, nicht nur ein paar 100 Meter, wo die konventionellen Öllagerstätten sind, sondern 2000 bis 3000 Meter tief und setzt auch noch Quer- und Horizontalbohrungen an, um eine ganze Region bergmännisch zu untertunneln und zu durchlöchern, was natürlich entsprechende Instabilitäten der Erdkruste erzeugt, die irgendwann zu Erdbeben führen können, bis alles unter unseren Füßen zusammenbricht. Das ist eine ziemlich gefährliche Geschichte, nur um geopolitisch unabhängiger von den konventionellen Erdgaslieferungen aus Rußland zu werden.

SB: Die hochgerüstete Kriegsmaschinerie der USA verbraucht an einem Tag so viel Erdöl wie ganz Schweden. Können Sie sich vorstellen, daß Kriege ohne Verbrennungsmotoren auf fossiler Basis überhaupt durchführbar wären?

EA: Eine moderne Militärmacht wäre ohne fossile Energiereserven völlig ausgeschlossen. Das heißt, wenn wir weg wollen von fossilen Energieträgern, müssen wir auch die Frage von Krieg und Frieden und wie wir eine Friedensordnung organisieren aufwerfen. Insofern ist das auch eine Friedensfrage. Daß die US-Armee so viel wie die gesamte schwedische Volkswirtschaft verbraucht, zeigt die Größendimension. Der Fossilismus hat dafür gesorgt, daß wir immer produktiver werden. Die Produktivitätsfortschritte der vergangenen 200 Jahre wären ohne fossile Energieträger gar nicht möglich gewesen. Denn Produktivitätsfortschritt heißt, daß wir alles schneller durch die Pipeline jagen können und am Ende der Produktionskette mehr herauskommt. Das geht nur mit Beschleunigung, aber dies hat auch eine destruktive Seite. Man kann die Beschleunigung genauso gut zur Produktivitätssteigerung wie zur Destruktion einsetzen. Das berührt die Dual-Use- und Double-Use-Problematik, die eine ganz fundamentale Bedeutung für die fossilistische Wirtschaftsordnung hat.

SB: Wenn man die offiziell anerkannten Ziele zur Verhinderung eines dramatischen Klimawandels zum Maßstab nimmt, ist eine CO2-Reduktion um 80 Prozent bis 2050 erforderlich, um überhaupt das Zwei-Grad-Ziel zu erreichen, was bereits eine Verschlechterung der Lebensumstände bedeutet. In der Bundesrepublik gibt es Exponenten eines Postwachstumsdiskurses wie Niko Paech, die ganz klar sagen, daß es dazu eines fundamentalen Wandels im Konsumverhalten der Menschen bedürfte. Gleichzeitig machen sich die Menschen nicht ernsthaft ein Bild davon, was es bedeuten würde, vier Fünftel des bisherigen CO2-Verbrauchs einzusparen. Können Sie sich vorstellen, daß das erklärte Reduktionsziel auf dieser gesellschaftlichen Grundlage überhaupt erreichbar ist?

EA: Wenn es nur um die Einsparung im Konsumbereich ginge, könnte ich es mir sogar vorstellen. Das ist aber gar nicht das Problem. Deswegen ärgere ich mich auch über Niko Paech, weil er wirklich am Thema vorbei redet. Er begreift nicht, daß die fossilen Energieträger nicht nur unsere Lebensweise ermöglichen, sondern vor allen Dingen auch die Produktivitätssteigerungen, die, um es in Marxscher Terminologie zu sagen, dazu dienen, relativen Mehrwert zu erzeugen, das heißt, die Profitrate zu steigern. Das ist das eigentliche Ziel bei der Nutzung der fossilen Energieträger. Wenn wir davon reden, 80 Prozent des Energieverbrauchs einzusparen, heißt das, daß wir 50 bis 80 Prozent, da schwanken die Einschätzungen, an Erdöl im Erdboden lassen müssen. Das gilt im übrigen auch für die anderen fossilen Energieträger. Diese Kapitalwerte, die dann im Erdboden bleiben, sind aber zum großen Teil bereits eingepreist.

Was passiert aber, wenn man einen Kapitalisten eines großen Unternehmens der Erdölbranche auffordert, 200 Milliarden US-Dollar an Erdölreserven in dieser oder jener Region, die er in der Bilanz stehen hat, zu streichen? Darauf sagt er: Wenn wir das tun, sind wir pleite. Dann kommt die Regierung und sagt: Ihr dürft nicht pleite gehen. 200 Milliarden US-Dollar sind zu viel, da hängen soundsoviele tausend Arbeitsplätze dran. Also laßt das in der Bilanz stehen. Wenn man es jedoch in der Bilanz läßt, muß man auch dafür sorgen, daß sich das Bilanzierte verwertet, und es kann sich nur verwerten, wenn man Erdöl verbrennt und damit Klimagase in die Atmosphäre entläßt.

Das heißt, wir müssen wirklich die Frage des Akkumulationsprozesses und damit die Systemfrage stellen, wenn wir uns mit Klimapolitik beschäftigen. Das wurde im übrigen auch von Naomi Klein in ihrem Buch so beschrieben, als sie die Alternative Kapitalismus oder Klima aufgeworfen hat. Wenn wir das Klima retten und unsere Lebensbedingungen auch in der Zukunft noch menschenfreundlich gestalten wollen, müssen wir den Kapitalismus abschaffen. Das klingt so brutal wie einfach, seit die Alternative auf der Tagesordnung ist, aber es in konkrete Politikschritte umzusetzen, ist natürlich ungeheuer schwierig. Man muß erst einmal begreifen, wie dramatisch die Situation ist, um überhaupt solche Fragestellungen und Perspektiven zu denken.

Darin sehe ich in der Degrowth-Bewegung einen großen Mangel, weil sie nicht begreift, daß dies etwas mit unserem System zu tun hat. In diesem Punkt sind die Kapitalisten bereits weiter als viele aus der Degrowth-Bewegung. Im Internetportal Carbon Tracker werden dazu bereits Angebote gemacht: Wenn ihr eure Bilanzen aus Rücksicht auf das Klima bereinigen und Erdöl oder Erdgas im Boden lassen, also Kapital abschreiben müßt, dann helfen wir euch dabei, die Abschreibung so zu gestalten, daß ihr nicht pleite geht. Demnach haben sich die Kapitalisten bereits darauf eingestellt. Das ist vielleicht sogar eine kleine Hoffnung, aber man muß dabei begreifen, daß es um ganz harte kapitalistische Eigentumsinteressen geht und nicht nur darum, daß sich Herr Meier oder Frau Müller statt eines großen nur ein kleines Auto leisten oder jetzt ausschließlich mit dem Fahrrad unterwegs sind und Fernreisen überhaupt nicht mehr unternehmen. Durch dieses Verhalten werden sicherlich CO2-Emissionen eingespart, was sehr löblich ist und auch unterstützt werden sollte, aber es reicht absolut nicht aus. Wir müssen viel radikaler an die Dinge herangehen, als es sich die Degrowth-Bewegung bislang vorstellt.

SB: Im Konzept des grünen Kapitalismus oder der Green Economy lautet die Formel im wesentlichen, durch Effizienzsteigerung Einspareffekte zu erzeugen, die es den Menschen ermöglichen, auf etwa gleichbleibendem Konsumniveau dennoch weniger CO2-Ausstoß zu verursachen. Halten Sie das für eine seriöse Lösung?

EA: Überhaupt nicht. Entweder handelt es sich dabei um einen Selbstbetrug, weil man nicht weit genug gedacht hat und dies bereits für eine Lösung hält, oder um einen Betrug der Öffentlichkeit, weil man weiß, daß es eigentlich nicht ausreicht. In dieser Hinsicht wäre es sinnvoll, einen Blick in das Marxsche Kapital zu werfen. Im dritten Band gibt es ein kurzes Kapitel über "Entgegenwirkende Ursachen" zum Fall der Profitrate. Der dritte Band ist posthum erschienen, und so konnte Marx dieses Kapitel nicht richtig ausarbeiten. Immerhin werden darin sehr viele Methoden aufgezeigt, die man heute als grünen Kapitalismus bezeichnen könnte, wie etwa das Einsparen von Ressourcen, Wiederverwendung, Recycling-Prozesse und so weiter. All das wird von Marx unter dem Aspekt der entgegenwirkenden Ursachen des Falls der Profitrate dargestellt.

Der grüne Kapitalismus ist der Versuch, aus der Falle des braunen Kapitalismus herauszukommen, aber der Kapitalismus wird auf jeden Fall so weitermachen, wie es die kapitalistische Logik verlangt, nämlich durch Produktivitätssteigerung. Dazu braucht man Beschleunigungsaggregate, und wo sollen sie sonst herkommen als von fossilen oder atomaren Energieträgern? Für manche Produktionsprozesse wie das Transportwesen ist Atomenergie nicht geeignet, fossile Energieträger aber schon. Deswegen ist der grüne Kapitalismus keine Lösung für die Herausforderungen, mit denen wir es zu tun haben. Ich sehe darin so etwas wie einen grünen Frosch, den manche Experten aus dem Hut zaubern, um das Publikum zu begeistern, aber zur Lösung der Probleme trägt es nicht bei.

SB: Sehen Sie in der bundesrepublikanischen Linken überhaupt Akteure, die zwischen dem Postwachstumsansatz und einer kapitalismuskritischen Position die Frage einer ökologischen Veränderung ins Auge fassen?

EA: Es gibt überall in der Welt Akteure, die das zum Teil aus Not, weil sie gar nicht an fossile Energieträger herankommen, bereits praktizieren. So waren zum Beispiel in vielen afrikanischen Ländern die Busse einfach stehengeblieben, weil sie den Sprit nicht mehr bezahlen konnten. Ich habe das selbst einmal in Mosambik gesehen. So etwas erlebt man selbst in Ländern mit reichem Erdölvorkommen, wo von fossilen Energieträgern abgerückt wird, weil man erkennt, welche Konsequenzen das für das friedliche Zusammenleben in einer Region hat, vor allem, wenn die Großmächte ihren Zugriff auf die Ressourcen erhöhen und regionale Kräfte für Stellvertreterkriege um die Ressourcen einspannen. Die Leidtragenden sind immer die dort lebenden Menschen.

Insofern gibt es schon ein Bedürfnis, Alternativen zu suchen und auch zu finden, zumal inzwischen sehr viele Methoden, mit erneuerbaren Energien zu operieren, existieren. Aber es muß dabei immer zweierlei zusammenkommen. Eine Alternative muß sowohl solar, das heißt, weg von fossilen Energieträgern und hin zu erneuerbaren Energien, als auch solidarisch sein. Das Solidarische betrifft die Frage, wie man Leben und Produktion organisiert. Deswegen hat der Genossenschaftsgedanke überall in der Welt einen neuen Aufschwung genommen. Ein Wandel kann jedoch auch auf der Basis alter indigener Traditionen stattfinden, indem neue Eigentumsformen, die im Grunde ganz alte sind, wieder revitalisiert werden und auf diese Weise auch neue Produktions- und Arbeitsformen entstehen. Das muß man im einzelnen der Phantasie der Leute, ihren Erfahrungen und Traditionen, die eine ganze große Rolle spielen, überlassen. Da bin ich relativ optimistisch. Was bliebe auch anderes übrig? Mit den fossilen Energieträgern und den kapitalistischen Organisationsformen im Betrieb und im Alltagsleben kommen wir nicht weiter.

SB: Wird auf dieser Konferenz möglicherweise eine glaubwürdige Alternative entworfen?

EA: Ob sie glaubwürdig und eine Alternative ist, wird sich erst im nachhinein herausstellen. Das kann man von vornherein nicht so klar sagen. Try and error, Versuch und Irrtum, es findet immer ein iterativer Prozeß statt. Viele Versuche werden scheitern, einige werden vielleicht erfolgreich sein, und diese muß man zu verbreiten versuchen. Auch das ist ein demokratischer Prozeß und kann nur so funktionieren, daß man sich über die Erfahrungen austauscht und dann zu Entscheidungen kommt, wie es weitergehen könnte. Das Solidarische ist dabei das wichtigste Prinzip. Solidarisch und solar, hin zu erneuerbaren Energien und damit zu verträglichen Produktionsformen.

Mit dem Kapitalismus kam die fossile Welt und diese ist zur Basis des Kapitalismus geworden. Wenn diese Basis nicht mehr weiterführt, wird sich auch der Kapitalismus verändern müssen. Ob er abgeschafft wird, weiß ich nicht, zumal das Abschaffen nicht von heute auf morgen durch irgendeinen zentralen Beschluß geschehen kann, sondern durch viele Versuche, Eigentums- und Arbeitsformen zu praktizieren, die nicht mehr im traditionellen und vielleicht auch in gar keinem Sinne kapitalistisch sind.

SB: Herr Altvater, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnote:

Degrowth-Konferenz im September 2014 an der Universität Leipzig im Schattenblick
unter dem Sammeltitel "Aufbruchtage"
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT:


Beiträge zur Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern II" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/190: Kurdischer Aufbruch - fortschrittlicher Beginn (SB)
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INTERVIEW/251: Kurdischer Aufbruch - der Feind meines Feindes ...    Norman Paech im Gespräch (SB)
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12. Mai 2015


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