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INTERVIEW/259: Kriegsschuld - was ihr euch nicht selber holt ...    Gabriele Heinecke im Gespräch (SB)


Strafrechtlich gefaßt ein krimineller Akt Deutschlands gegen Griechenland

Gespräch mit der Hamburger Rechtsanwältin Gabriele Heinecke vom Arbeitskreis Distomo

Veranstaltung "Griechenland: Reparationen, Zwangsanleihen und ein würdiger Weg aus der Krise" am 2. Mai 2015 in Hamburg


G. Heinecke am Rednerpult stehend - Foto: © 2015 by Schattenblick

Gabriele Heinecke
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schulden und Griechenland - ein Thema, das die Schlagzeilen füllt und immer wieder für Furore in Öffentlichkeit, Politik und Medien sorgt. In Deutschland hält sich hartnäckig das Bild fauler Griechen, die nicht wirtschaften können, über ihre Verhältnisse gelebt haben und nun auch noch erwarten, daß "wir" ihnen immer wieder aus der Patsche helfen. Eine solche Position entbehrt einer realen Basis, wie sich leicht eruieren ließe. Für die mit ihr kolportierten Fehlannahmen und bezichtigenden Ressentiments gibt es allerdings Gründe, die bis in die Geschichte des Zweiten Weltkrieges und der damaligen Besetzung des Landes durch Wehrmacht und SS zurückreichen. Wiewohl deren Verbrechen, die Ausplünderung des ganzen Landes und die Terrorisierung seiner Bevölkerung heute nicht in Abrede gestellt werden können, haben es deutsche Regierungen seit der Staatsgründung der Bundesrepublik stets verstanden, sich von Reparationen und Entschädigungen weitestgehend freizuhalten.

Wie dies geschehen konnte und weiterhin geschieht, ist eine Frage, der ein großes Aufklärungspotential zukommt, würde sie nur energisch und öffentlichkeitswirksam genug gestellt und verfolgt werden. In einer Gesellschaftsordnung, in der die Pflicht, Schulden zurückzuzahlen, so selbstverständlich ist, daß jedes Schulkind dies herunterbeten könnte, mutet es seltsam bizarr an, wenn höchste exekutive und judikative Organe eines Staates, sprich Bundesregierung(en) und hohe Gerichte inklusive des Bundesverfassungsgerichts, sich anmaßen, bestehende Schulden Deutschlands gegenüber einem anderen Staat bzw. dessen Bürgern komplett zu ignorieren.

Gezahlt wird nicht, ist auf einen kurzen Nenner gebracht die deutsche Haltung gegenüber den Reparationsforderungen Griechenlands. Läuft das heutige Deutschland, das sich gerade aufgrund seiner unrühmlichen Vergangenheit berufen fühlt, als moralisches Gewissen der Welt aufzutreten, um - wie zu vermuten steht - seine Weltmachtsambitionen zu realisieren, an dieser Stelle nicht Gefahr, sich selbst vollständig zu diskreditieren? Das Verhältnis zu Griechenland könnte zu einer Art Nagelprobe werden, da es eine hervorragende - und aus Sicht der notleidenden griechischen Bevölkerung dringend in Angriff zu nehmende - Gelegenheit bietet, Anspruch und Wirklichkeit in Deckung zu bringen.

Da in dieser Frage in Deutschland seit Jahren und Jahrzehnten ein gerüttelt Maß Unkenntnis und Ignoranz gegenüber der tatsächlichen Lage - auch in rechtlicher Hinsicht - vorherrscht, haben sich Initiativen wie der Arbeitskreis Distomo gebildet, um neben dem tatkräftigen Rechtsbeistand für die Opfer und Hinterbliebenen Aufklärungsarbeit zu leisten und die griechischen Forderungen in die Öffentlichkeit zu bringen. Zu diesem Zweck fand am 2. Mai im Festsaal des Hamburger Rathauses eine von der Bürgerschaftsfraktion der Linken organisierte Veranstaltung statt, zu der mit dem früheren Widerstandskämpfer Manolis Glezos das prominenteste Mitglied des griechischen Nationalrats für die Entschädigungsforderungen gegenüber Deutschland als Redner gewonnen werden konnte.

An der Podiumsdiskussion beteiligten sich unter anderen auch Gabriele Heinecke und Martin Klingner vom Arbeitskreis Distomo, die selbst Distomo-Kläger und -Klägerinnen vertreten haben. Mit der Hamburger Rechtsanwältin Gabriele Heinecke konnte der Schattenblick in einem anschließenden Gespräch die aufgeworfenen Fragen noch vertiefen.


G. Heinecke während des Interviews - Foto: © 2015 by Schattenblick

Im Festsaal des Hamburger Rathauses
Foto: © 2015 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Frau Heinecke, bei der Frage der Reparationszahlungen, die Deutschland an Griechenland zu leisten hat, ist es für juristische Laien nicht immer ganz einfach, die rechtlichen Bezüge und ihre historischen Hintergründe auseinanderzuhalten. Können Sie da für Aufklärung sorgen?

Gabriele Heinecke (GH): Klar. Erstens: Reparationen sind die staatlichen Ansprüche Griechenlands gegen Deutschland resultierend aus der Pariser Konferenz von 1946. Damals wurde festgelegt, daß Griechenland von Deutschland in etwa - nach damaliger Berechnung - 7,2 Milliarden US-Dollar bekommt. Das hat Deutschland nie gezahlt. 1953 wurde unter dem Verhandlungsführer Josef Abs von der Deutschen Bank das Londoner Schuldenabkommen vereinbart, wo für Deutschland ein Moratorium eingerichtet wurde, das besagte, daß bis zu einem Friedensschluß Deutschland frei sein sollte von Zahlungen aus den Schulden vom Zweiten Weltkrieg. Dieses Moratorium hat Deutschland bis zum Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 vor sich hergetragen.

Herr Genscher, der diesen Vertrag verhandelt hat, hat immer darauf geachtet und damals auch in einem Spiegel-Interview [1] erklärt, daß der Zwei-plus-Vier-Vertrag kein Friedensvertrag ist, weil sonst das Moratorium des Londoner Schuldenabkommens aufgeschlossen worden wäre, und das wollten sie nicht. Interessant ist dabei, daß inzwischen behauptet wird, daß der Zwei-plus-Vier-Vertrag ein Friedensvertrag sei. Warum? Wie gesagt: Damals wollten sie, daß das Moratorium nicht aufgeschlossen wird. Jetzt sagen sie: Dadurch, daß der Zwei-plus-Vier-Vertrag zu behandeln ist wie ein Friedensvertrag und in ihm nicht steht, daß Reparationen zu zahlen sind, haben die Reparationsansprüche keine rechtliche Grundlage mehr. Behauptet wird auch, daß alle auf diese Ansprüche verzichtet haben.

SB: War denn zum Beispiel Griechenland an diesem Vertragsabschluß überhaupt beteiligt?

GH: Nein. Manolis Glezos [2] hat das in der Veranstaltung eben schon erzählt. Es war schon so, daß Griechenland beim Zwei-plus-Vier-Vertrag jedenfalls nichts dagegen gesagt hat. Die Griechen haben irgendwann gesagt: Der Zwei-plus-Vier-Vertrag ist ganz okay, aber das bedeutet ja nicht, daß etwas, was nicht drinsteht, nämlich der Verzicht Griechenlands auf Reparationen, in irgendeiner Weise eine rechtliche Grundlage hätte. Griechenland hat 1995 zum ersten Mal gesagt: Ihr schuldet uns noch Reparationen. Seitdem sagt die Bundesregierung immer wieder - Schweinerei, muß man sagen -, Reparationsansprüche gibt es nicht mehr, das ist alles vorbei, es wurde auf alles verzichtet. Und Griechenland hätte schon deshalb keine Reparationsansprüche mehr, weil es 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg sozusagen verwirkt sei, sie geltend zu machen. So sieht die moralische Seite der Reparation aus. In rechtlicher Hinsicht wird immer auf den Zwei-plus-Vier-Vertrag verwiesen.

SB: Deutschland weigert sich also standhaft, Reparationen zu zahlen. Wie sieht es denn mit den Entschädigungen aus?

GH: Reparationen und Entschädigungsansprüche darf man nicht verwechseln. Entschädigungsansprüche sind die Ansprüche der einzelnen Menschen. Nach der Haager Landkriegsordnung von 1907 hätten sie nie ausgeschlossen werden können - auch nicht durch einen völkerrechtlichen Vertrag, also nicht durch das Londoner Schuldenabkommen von 1953, nicht durch das Zwei-plus-Vier-Abkommen, überhaupt gar nicht. Aber Deutschland hat gegenüber den Anspruchstellern, die bereits seit 1995 - die ehemaligen Zwangsarbeiter schon früher, ab 1990 - angefangen haben zu klagen, immer gesagt: Das Londoner Schuldenabkommen gilt weiter, es gibt keinen Friedensvertrag, ihr habt keine Ansprüche.

SB: Ist die Bundesregierung denn damit durchgekommen?

GH: Das Bundesverfassungsgericht hat 1996 in einem Verfahren bezüglich der Zwangsarbeiter gesagt: Na ja, also richtig liegt ihr da nicht. Es war eigentlich einem Individuum, das durch die Nazis geschädigt worden ist, rechtlich noch nie genommen, seine Ansprüche einzuklagen. Nach 1996 gab es eine Klagewelle, auch von den Leuten aus Distomo. [3] Wir haben hier beim Landgericht Bonn geklagt. Das hat damals schon 'mal ausgegraben, daß es keine Ansprüche gäbe, weil das Kriegshandlungen seien, für die es keine Entschädigung gäbe. In der Berufung hat das Oberlandesgericht Köln dann - ich glaube 1997 - erklärt: Im Zwei-plus-Vier-Abkommen steht nichts drin von Entschädigung, also bekommt ihr auch keine. Daher hat die Bundesregierung das dann auch.

Dann kam der BGH. Der ist zurückgekehrt zu dem, was das Landgericht Bonn schon gesagt hat, nämlich: Es gibt für euch deshalb keine Ansprüche, weil es Kriegshandlungen sind, und aus Kriegshandlungen gibt es keine Ansprüche. Punkt. Aus. Ende. Dann haben wir eine Verfassungsbeschwerde gemacht für die Familie, die geklagt hatte. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: Der Zugang zu den Gerichten, das sei alles kein Problem gewesen, Verfassungsrechte wären nicht verletzt worden. [4] Und wir waren beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Auch der hat unsere Menschenrechtsbeschwerde zurückgewiesen.

Das ist die Seite der Entschädigung, die in Deutschland völlig vor die Wand gelaufen ist, weil alle Gerichte sagen: Von uns kriegt ihr kein Geld! Das ist im übrigen bei den Zwangsarbeitern gleichlautend so gelaufen, wie auf der Veranstaltung vorhin schon gesagt wurde. Hätten die Zwangsarbeiter nur hier in Deutschland geklagt, wären sie nie zum Erfolg gekommen. Nur die "class action" [5] in den USA hat dazu geführt, daß genügend Druck aufgebaut worden ist, um dann Deutschland dazu zu bringen, diese Zwangsarbeiterstiftung zu machen. So sieht es auf der Seite der Entschädigungen aus.

SB: In der Presse ist immer wieder auch von der Zwangsanleihe zu lesen. Was hat es damit auf sich?

Das ist das dritte, die Frage des Diebstahls der Zwangskredite. 1942 ist Griechenland gezwungen worden, Gelder in Höhe von damals ungefähr 7 Milliarden Reichsmark zu übereignen zur Finanzierung der Besatzung und des Rommel-Feldzuges in Afrika. Darüber gibt es einen Vertrag, demzufolge sich das Deutsche Reich verpflichtet hat, den Kredit zurückzuzahlen. Es hat auch zwei Tranchen gezahlt. Sobald es allerdings die Bundesrepublik Deutschland gab, wurde gesagt: Kredite? Das fällt doch alles unter Reparation, unter das Londoner Schuldenabkommen von 1953. Wir zahlen nichts. Heute behaupten sie, daß die Zwangskredite ein Teil der Reparationen seien, sich sozusagen verflüchtigt hätten und kein Rechtsanspruch mehr darauf besteht. Das ist schlicht und einfach Unterschlagung. Wenn jemand Geld genommen, ein Darlehen aufgenommen hat, ist das zurückzuzahlen. Auf dieser Ebene kann ich nur sagen: Wenn man das strafrechtlich faßt, ist das ein krimineller Akt Deutschlands gegen Griechenland.

SB: Um welche Summen geht es denn insgesamt, läßt sich das abschätzen?

GH: Erst dieser Zwangskredit und dann die Reparationen, die wurden jetzt von der griechischen Regierung auf knapp 300 Milliarden Euro geschätzt. [6] Da sind die individualrechtlichen Entschädigungen noch gar nicht bei. Wenn es so wäre, daß die individualrechtlichen Entschädigungen durchgesetzt werden können - die verjähren nicht und sind vererblich, was ja auch wichtig ist -, dann hätte Deutschland einiges zu zahlen. Dazu kann man nur sagen: Es wäre gerecht.

Griechenland hat dadurch, daß nicht gezahlt worden ist, erhebliche Nachteile gehabt. Nach dem Krieg war Griechenland völlig am Boden. Griechenland wurde nicht mit irgendwelchen Marshall-Plänen gefördert, sozusagen als Schaufenster gegen den Kommunismus. Es mußte sich selber hocharbeiten. Und die Tatsache, daß in Griechenland auch Mißwirtschaft, Korruption und alles mögliche vorhanden sind, stellt ja eine Seite dar, mit der, wie Jannis Stathas [7] eben schon gesagt hat, das Volk nichts zu tun hat. Das Volk wird ausgeplündert, und zwar sowohl von den großen Konzernen, die in Deutschland ihren Firmensitz haben, als auch von der einheimischen Oligarchie, die es in Griechenland auch gibt. Da kann man nur sagen: Es ist unsere Aufgabe, diese drei Pfeiler, die es einfach gibt, deutlich zu machen und klarzustellen, daß da ein Unterschied besteht.

SB: In der gegenwärtigen Krise scheint sich alles um die Schulden zu drehen, die Griechenland gegenüber der Troika hat. Die letzte Tranche von 7,2 Milliarden Euro aus dem zweiten sogenannten Hilfsprogramm wird seit Ende April zurückgehalten, weil die Reformzusagen der neuen Athener Regierung als nicht ausreichend bewertet werden. Zugleich muß Griechenland, obwohl vom Staatsbankrott bedroht, seinen Rückzahlungsverpflichtungen gegenüber dem IWF nachkommen. Welche Bedeutung könnte in dieser Lage den Reparationen und Entschädigungsforderungen zukommen?

GH: Es gibt natürlich kein Gegenrechnen. Aber es gibt schlicht und einfach eine aktuelle Forderung Griechenlands gegen Deutschland, die endlich beglichen werden muß. Die Frage der Kredite, die Griechenland zurückzahlen muß, ist eine andere. Auch darüber sollte man sich einmal Gedanken machen. Es wird immer so getan, als hätten die Griechen sich irgendetwas erschlichen. Tatsächlich haben sie von Banken Geld geliehen. Von Banken! Und mußten dafür Zinsen zahlen. Daß die Banken sich schadlos gehalten haben und statt dessen unter anderem der deutsche Steuerzahler derjenige ist, der letztlich das Risiko trägt, wenn nicht zurückgezahlt wird, ist doch eine ganz andere Sache.

Soll sich doch der deutsche Steuerzahler dagegen wehren und genau das sagen, was hier heute abend schon gesagt worden ist, nämlich daß man das Geld da holen sollte, wo die Profite gemacht worden sind und nicht da, wo die Leute immer ärmer werden. Es ist ja nun auch bei uns in Deutschland so, daß die Schere zwischen arm und reich genauso aufgeht, wie es in Griechenland schon längst der Fall ist, wenn auch nicht auf demselben Level. Aber es ist doch auffällig, daß überall diejenigen, die eigentlich alles schaffen und auf die Beine stellen, auch diejenigen sind, die für die Profiteure arbeiten und hinterher das Nachsehen haben.

SB: Ihr Schlußwort?

GH: Eines möchte ich zum Schluß noch sagen. Das Schöne an der Veranstaltung heute abend war doch, daß auf der Ebene der internationalen Solidarität klar gesagt worden ist: Es wäre gut, wenn die Arbeiter in Griechenland und die Arbeiter in Deutschland dafür sorgen würden, daß es eine gerechte Lösung gibt. Nicht die Lösung der Profiteure, nicht die der Kapitalseite, sondern eine Lösung der Solidarität der Völker.

SB: Vielen Dank, Frau Heinecke, für das Gespräch.


Die Genannten nebeneinander am Podium, daran angebracht die Schriftzüge 'Faschismus bekämpfen - überall! Nazi-Opfer entschädigen - sofort!' - Foto: © 2015 by Schattenblick

Mit vereinten Kräften - Ulla Jelpke, Gregor Kritidis (Dolmetscher), Manolis Glezos, Martin Dolzer, Gabriele Heinecke, Rolf Becker und Martin Klingner (v.l.n.r.)
Foto: © 2015 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] In dem Interview erklärten Spiegel-Redakteure: "Michail Gorbatschow spricht neuerdings wieder von einem Friedensvertrag, den Bonn wegen möglicher gigantischer Reparationsforderungen nicht will. Die Sowjets haben schon einen Entwurf in der Schublade." Die Antwort des damaligen deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher lautete: "Ich kann nur sagen, worauf wir uns verständigt haben mit der sowjetischen Seite, nämlich daß man von einer abschließenden völkerrechtlichen Regelung und von einer Ablösung der Vier-Mächte-Rechte und -Verantwortlichkeiten spricht. Das ist ein erklärtes Ziel der Tagesordnung. Darüber sind sich die Sechs einig, und dabei soll es auch bleiben. Von einem Friedensvertrag ist da nicht die Rede."
Quelle: Nicht den Buchhaltern überlassen. SPIEGEL-Gespräch mit Außenminister Hans-Dietrich Genscher über den Streit um die Souveränität Deutschlands. In: DER SPIEGEL 20/1990 vom 14.05.1990
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13507117.html

[2] Siehe auch das Interview mit Manolis Glezos im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
INTERVIEW/257: Kriegsschuld - ich bin viele ...    Manolis Glezos im Gespräch (SB)

[3] Distomo ist ein Dorf in der Nähe von Delphi in Mittelgriechenland. Es ist eines von über einhundert "Märtyrer-Dörfern", in denen bis heute den Greueltaten der deutschen Besatzer gedacht wird. In Distomo wurden am 10. Juni 1944 von Wehrmacht und SS 281 der knapp 500 Dorfbewohner getötet, unter ihnen viele ältere Menschen, Frauen, Kinder und sogar Säuglinge. Im Jahre 2000 wurde der deutsche Staat vom höchsten griechischen Gericht, dem Areopag, zu einer Entschädigungszahlung von 28 Millionen Euro an die Opfer bzw. die Hinterbliebenen von Distomo verurteilt. Die Bundesrepublik Deutschland weigert sich ungeachtet dieses rechtskräftigen und vollstreckbaren Urteils zu zahlen.

Die Gläubiger aus Distomo bemühen sich inzwischen in Italien - mit Zustimmung des italienischen Verfassungsgerichts - um die Vollstreckung ihrer Ansprüche. Die rechtskräftigen Entschädigungsforderungen könnten auch in Griechenland vollstreckt werden, wie es ein griechischer Opferanwalt im Jahre 2000 versuchte, indem er die Pfändung deutscher Liegenschaften betrieb, um sie zugunsten der Distomo-Gläubiger versteigern zu lassen. Das scheiterte 2001 an der fehlenden Zustimmung des damaligen griechischen Justizministers, nachdem Deutschland gedroht hatte, die Aufnahme Griechenlands in die Euro-Zone zu verhindern. Nikos Paraskevopoulos jedoch, der neue Justizminister der Syriza-Regierung, hat vor kurzem erklärt, daß er den Vollstreckungsmaßnahmen der Distomo-Gläubiger zustimmen wird.
http://www.nadir.org/nadir/initiativ/ak-distomo/veroeffentlichungen2015/presse-16032015.html

[4] Die in Deutschland betriebenen zivilrechtlichen Klagen blieben erfolglos. Das Bundesverfassungsgericht entschied am 15. Februar 2006 (AZ: 2 BvR 1476/03), die vier von griechischen Bürgern, deren Eltern im Juni 1944 in Distomo von der SS erschossen worden waren, eingereichten Klagen nicht zur Entscheidung anzunehmen. Wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 3. März 2006 berichtete, habe das Gericht unter anderem damit argumentiert, daß das Geschehen in Distomo kein spezifisch nationalsozialistisches Unrecht darstelle und deshalb nicht dem getrennt geregelten Bereich der Wiedergutmachung von NS-Unrecht zuzuordnen sei. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts sei es nicht willkürlich, daß der Gesetzgeber zwischen Opfern von harten Völkerrechtsverstößen und Opfern ideologisch motivierter Verfolgung durch den Nationalsozialismus unterscheide.
http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/bundesverfassungsgericht-kein-schadenersatz-fuer-ss-massaker-in-griechenland-1302024.html

[5] Unter "class action" wird im US-amerikanischen Zivilrecht eine Gruppen- oder Sammelklage bezeichnet, die im Falle eines Erfolges nicht nur den unmittelbaren Kläger und Klägerinnen Rechtsansprüche verschafft, sondern auch für am Prozeß Unbeteiligte aus derselben Gruppe Geschädigter. Nach deutschem Zivilprozeßrecht sind solche Klagen nicht zulässig. Angesichts der in den USA von ehemaligen NS-Zwangsarbeitern mit Erfolg betriebenen "class action" wurde in Deutschland die Stiftung evz - Erinnerung Verantwortung Zukunft (www.stiftung-evz.de) ins Leben gerufen, die Zahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter leistet.

[6] Dimitris Mardas, Vizefinanzminister der neuen Syriza-Regierung, benannte am 13. April vor dem griechischen Parlament die Summe von 278,7 Milliarden Euro, die Griechenland von Deutschland als Entschädigung für die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs fordere. Darin enthalten seien 10,3 Milliarden Euro für den Zwangskredit, den die griechische Notenbank 1942 den deutschen Besatzern gewähren mußte. Bei den übrigen Milliarden handele es sich um Entschädigungszahlungen an die Opfer und ihre Angehörigen sowie für die zwischen 1941 und 1944 zerstörte Infrastruktur. Diese Forderungen beruhen auf Angaben von Experten des griechischen Rechnungshofes unter Verwendung einer der griechischen Regierung seit Anfang März vorliegenden Studie. Der aktuell geforderte Betrag liegt deutlich über den von Manolis Glezos geltend gemachten 162 Milliarden Euro.
http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/griechische-forderung-an-deutschland-ein-preis-fuer-leid-und-zerstoerung-1.2424219

[7] Jannis Stathas von der Aluminium-Basisgewerkschaft Griechenlands stammt aus Distomo. Er sitzt für die Regierungspartei Syriza als Abgeordneter im neuen Athener Parlament und hat am 2. Mai im Hamburger Rathaus auf der Veranstaltung "Griechenland: Reparationen, Zwangsanleihen und ein würdiger Weg aus der Krise" gesprochen.

13. Mai 2015


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