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INTERVIEW/267: Kurdischer Aufbruch - Im Feuer erstritten ...    Necibe Qeredaxi im Gespräch (SB)


Kurdische Autonomie von äußeren Akteuren und eigener Oligarchie bedroht

Die kapitalistische Moderne herausfordern II - Konferenz an der Universität Hamburg, 3. bis 5. April 2015


Die Welt des geschriebenen Wortes mit der Wirklichkeit gesellschaftlicher Kämpfe in Übereinstimmung zu bringen, ist eine kaum zu bewältigende Aufgabe. Im Spannungsfeld divergierender Interessen gilt im Journalismus die Devise, neutraler Beobachter zu bleiben und die verschiedenen Akteure so zu Wort kommen zu lassen, daß die Leser sich selbst ein Bild machen können. Allerdings sind die Grenzen dieses Prinzips schnell erreicht, findet doch auch in der angeblich objektiven Berichterstattung häufig eine vorauseilende Bewertung statt. Selten wird der sogenannte Verbrecher der ihn verfolgenden Justiz gleichgestellt, die Milizen des Islamischen Staates und die Truppen der NATO gelten nicht als gleichrangige Akteure, und kaum jemand verfiele auf den Gedanken, einem brutalen Gewaltherrscher den gleichen unkommentierten publizistischen Raum zuzugestehen wie der demokratisch legitimierten Regierung, die ihn mittels einer militärischen Intervention zu entmachten versucht.

Den Schleier vermeintlicher Objektivität zu lüften und zu entdecken, daß ein Großteil der bürgerlichen Presse und etablierten Medien politischen Vorlieben und Abneigungen frönt, die die Klassenzugehörigkeit des Personals oder das strategische Interesse des Verlagskonzerns reflektieren, kann aber auch dazu führen, Position gegen die Vormachtstellung ökonomisch und politisch privilegierter Interessen zugunsten der Unterdrückten und Benachteiligten zu beziehen. Wer dies tut, verläßt die Galerie miteinander austauschbarer Perspektiven und begibt sich mitten in das Handgemenge unübersichtlicher Widerspruchslagen. Zwar wird dies in der Regel weder besonders gut bezahlt noch winken gesellschaftliche Meriten in anderer Form. Eine solche Positionierung hat jedoch den großen Vorteil, berufliche Pflicht und subjektives Interesse weitgehend miteinander in Übereinstimmung bringen zu können. Anstatt eine bloße Ware für den Nachrichtenmarkt oder Unterhaltungskonsum zu produzieren, können politisch aktive Autorinnen und Autoren den Grad an Entfremdung, der jede Profession mehr oder minder ausgesetzt ist, zumindest begrenzen.

Die irakische Kurdin und engagierte Journalistin Necibe Qeredaxi gehört eher jenem Typus von Journalistinnen an, die den beruflichen Auftrag und das persönliche Anliegen nicht voneinander separieren wollen. Die von der langjährigen Arbeit in einer Zeitungsredaktion zum kurdischen Fernsehen gewechselte Autorin versteht sich als Teil der kurdischen Freiheitsbewegung, als zivilgesellschaftliche Stimme gegen Ausbeutung und Unmündigkeit, ohne deren Überwindung sich Demokratie und Menschlichkeit nicht verwirklichen lassen.

Auf der Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern II" hielt Qeredaxi einen Vortrag über die internationalen Verflechtungen und innerstaatlichen Konflikte, die in dieser Region des Mittleren Ostens immer wieder zu Gewaltexzessen führen. Im speziellen kam sie dabei auf die Situation in Südkurdistan vor dem Hintergrund des Ringens um politische Macht zwischen der DPK (Demokratische Partei Kurdistans) und der PUK (Patriotische Union Kurdistans) zu sprechen. Beide Parteien überließen den Ölreichtum des Landes paternalistischen Zwecken und opferten so die Emanzipationsbestrebungen der Bevölkerung den Interessen äußerer Akteure wie der eigenen Oligarchie.

Zudem richtete Qeredaxi den Blick auf die koloniale Kartentischpolitik der Entente nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, die ethnischen Konflikte in der Region unter dem Regime des persischen Schahs und der irakischen Baath-Partei sowie die nach dem Sturz Saddam Husseins von der Bagdader Zentralregierung systematisch betriebene Ausschaltung der nichtschiitischen Opposition. Ein zentraler Punkt ihrer Kritik am nationalstaatlichen Modell, an dem der Irak zu zerreißen droht, kreist um die Rolle der Frauen im gesellschaftlichen Leben, die gegen sie tagtäglich verübte Gewalt und ihren Kampf um die Mitgestaltung der Zukunft ihres Landes. Im Anschluß an ihren Redebeitrag beantwortete sie dem Schattenblick einige Fragen zu den zeitgeschichtlichen Hintergründen dieses Konfliktszenarios.


Im Gespräch - Foto: © 2015 by Schattenblick

Necibe Qeredaxi
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Die vier kurdischen Provinzen im Irak wurden im Rahmen eines UN-Sicherheitsratbeschlusses zu Schutzzonen erklärt, was ihnen quasi einen autonomen Status verlieh. Hat die kurdische Bevölkerung diese Maßnahme als Zugewinn, vielleicht sogar als Befreiung vom Regime Saddam Husseins erlebt?

Necibe Qeredaxi (NQ): Man muß in diesem Zusammenhang mehrere Punkte auseinanderhalten, weil verschiedene Interessen mit hineingespielt haben. Die Einrichtung der Schutzzonen stellte aus Sicht der Kurden natürlich die Hoffnung dar, endlich die eigenen Interessen in die Hände nehmen zu können. Allerdings muß man dabei auch berücksichtigen, daß die Amerikaner damit durchaus eigene Ziele verfolgten, die mit den Wünschen und Perspektiven der Kurden nichts zu tun hatten. Im Konzept der Amerikaner sollten die Kurden weiterhin als Minderheit im Irak verbleiben. Daß das Regime Saddam Husseins im Rahmen der Operation Wüstensturm schließlich gestürzt und beseitigt wurde, lag daran, daß es nicht mehr die Interessen der USA in dieser Region des Mittleren Ostens vertrat. Aus amerikanischer Perspektive sollte der Irak als Nationalstaat intakt bleiben und lediglich das Regime ausgewechselt werden. Die kurdischen Interessen wurden dabei nicht berücksichtigt.

Die Kurden wollten jedoch nicht weiter zum Irak gehören und haben daher versucht, ihre eigenen Pläne zu entwickeln. Doch seit dem Sturz Saddam Husseins hat es bis heute keine weiteren Fortschritte mehr gegeben. Fest steht, daß die USA und die internationale Staatengemeinschaft bis jetzt keine 100prozentige Lösung für den Konflikt gefunden haben. Sicherlich gibt es in bezug auf die Ölreserven Pläne zur Neuordnung dieser ganzen Region. Für die Kurden bot sich so die Möglichkeit, sich als politische Kraft einzubringen. Man muß dazu sagen, daß die Kurden, als die Schutzzonen 1991 eingerichtet wurden, sich bereiterklärt hatten, das Projekt der Amerikaner unter der Voraussetzung zu unterstützen, daß sie ihre eigenen Interessen verfolgen können. Doch die Amerikaner wollten davon nichts wissen, weil sie an der Idee des Iraks als Nationalstaat festhalten.

SB: Vertreten die beiden hier in Deutschland bekannten Kurdenführer im Nordirak, Masud Barzani und Dschalal Talabani, tatsächlich das Interesse der kurdischen Bevölkerung an einer politischen Selbstbestimmung oder sind sie mit Blick auf ihre eigenen Interessen eher bemüht, eine Demokratisierung bzw. einen Neuanfang zu verhindern?

NQ: Wenn man sich anschaut, daß die beiden großen kurdischen Parteien, die Patriotische Union Kurdistans (PUK) von Talabani und die Demokratische Partei Kurdistans (DPK) von Barzani, von 1991 an über drei Jahre einen erbitterten Bruderkrieg geführt haben, kann man daraus schließen, daß die Vorstellungen von Demokratie und der Zukunft von Südkurdistan sehr verschieden waren. Das Ergebnis war, daß Südkurdistan in zwei große Regionen geteilt wurde, in denen Talabani und Barzani jeweils ihre eigene Politik betreiben. Darin spielen die Interessen der Bevölkerung keine Rolle.

Auf diese Weise ist eine Art Monopoldemokratie geschaffen worden, in der nur eine gewisse Gruppe vom wirtschaftlichen Aufschwung profitiert. Die Freiheit der Frauen nimmt dabei nur eine ganz kleine Rolle ein. Ich will nicht sagen, daß sie überhaupt keine Bedeutung hat, aber das entspricht ganz und gar nicht der Demokratievorstellung, die wir haben. Die wirtschaftliche Entwicklung konzentriert sich im wesentlichen auf das Ölgeschäft, aus dem große Teile der Bevölkerung jedoch herausgehalten werden. So werden die Menschen vom Fortschritt des Landes ausgeschlossen. Alle vier Jahre darf gewählt werden. Tagtäglich aber erleben wir eine Scheindemokratie mit einer Politik, die ganz bewußt verhindert, daß sich die Menschen weiterbilden können und ein Bewußtsein entwickeln, das sie kritikfähig macht. Vor allem die Jugend und die Frauen werden in dieser Politik ganz gezielt vernachlässigt. Das ist nicht die Demokratie, die wir gerne hätten.

Dies hat zur Folge, daß die Menschen ihre elementaren Wünsche nach Freiheit und Frieden nicht verwirklichen und ihre Bedürfnisse nicht angemessen entfalten können. Das ist die aktuelle politische Situation in Südkurdistan. Es ist keine fortschrittliche Politik, sondern eine Demokratie, in der die Bevölkerung lediglich wählen darf, von wem sie beherrscht wird.

SB: Als die PKK ihre Kämpfer in den 1990er Jahren in die Kandil-Berge im Norden Iraks zurückgezogen hat, soll es zeitweilig zu einem Bündnis zwischen Barzani und Ankara gegen die PKK gekommen sein. Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen der Türkei und der kurdischen Regionalregierung heute und welche Auswirkungen hat dies auf die kurdische Autonomiebewegung?

NQ: Die Zusammenarbeit zwischen der Türkei und der DPK besteht schon sehr lange. Seit den 1990er Jahren wird Erdöl von Südkurdistan in die Türkei exportiert und seitdem gibt es auch eine wirtschaftliche Kooperation. Richtig ist auch, daß Ankara mit Barzani in den 1990er Jahren ein militärisches Bündnis gegen die PKK geschlossen hatte. Das ist aber heute nicht mehr so. Es gibt zwar nach wie vor wirtschaftliche Beziehungen vor allem im Ölsektor, aber kein Militärbündnis mehr zwischen Ankara und Südkurdistan. Dennoch läßt sich eine ideologische Zusammenarbeit nicht leugnen. Die enge Beziehung der DPK zur Türkei ist bei den Parlamentswahlen 2011 offensichtlich geworden, als sie die AKP-Partei von Erdogan unterstützt hat. Das war ein deutlicher Hinweis auf den politischen Händedruck zwischen Erdogan und Barzani, auch wenn der Kampf gegen die PKK inzwischen nicht mehr eine derart starke Rolle spielt.

Die internationale Staatengemeinschaft, aber vor allem die Türkei, hat ein Problem mit der Autonomiebewegung des kurdischen Volkes. Daher zwingt Ankara Barzani in dieser Frage auf den türkischen Kurs, indem die wirtschaftlichen Beziehungen, die für den Machterhalt der DPK sehr wichtig sind, als Faustpfand eingesetzt werden. Zwischen der PKK und der DPK klafft ein ideologischer Graben. Die PKK will eine demokratische Autonomie unter Einbeziehung aller gesellschaftlichen Kräfte und Interessen, während die DPK strikt auf eine nationalstaatliche Demokratie setzt und überhaupt sehr nationalistisch geprägt ist. Dieser Nationalismus ist alles andere als demokratisch, schon deshalb, weil es in Südkurdistan kein Fundament für einen demokratischen Nationalstaat gibt.

Obwohl die Beziehungen manchmal haken, gibt es seit ein paar Jahren einen Dialog zwischen der PKK und der DPK. Dieser Dialog ist manchmal so intensiv, daß man auch in anderen Bereichen zusammenarbeitet, aber es gibt auch Zeiten, in denen der Dialog kaltgestellt ist und praktisch keine Kontakte gepflegt werden. Die Politik der Türkei besteht darin, einen Keil zwischen diese beiden Parteien zu treiben und damit die kurdische Gesellschaft zu spalten. Das fällt Ankara nicht besonders schwer, denn die DPK muß Rücksicht auf die wirtschaftlichen Beziehungen nehmen. Dieser ideologische Kampf setzt sich auch innerhalb der kurdischen Gesellschaft fort, aber es gibt zumindest kein militärisches Kräfteringen mehr, das durch die Zusammenarbeit mit der Türkei verursacht wurde.

SB: Beruht der vom Barzani-Clan und der DPK propagierte Nationalismus auch auf materiellen bzw. oligarchischen Interessen?

NQ: Ja, die Oligarchen regeln und steuern in Südkurdistan praktisch alles. Nahezu alle wirtschaftlichen, aber vor allem die Bauunternehmen sind in der Hand der Oligarchen. Dahinter stecken die DPK und PUK. So gesehen haben wir es in Südkurdistan mit einer Oligarchen-Demokratie zu tun.

SB: Halten Sie es für denkbar, daß die Türkei neoosmanische Ansprüche auf die erdölreichen Gebiete im Nordirak anmelden könnte, falls der Irak zerfallen sollte? Könnte sie eine territoriale Annexion mit dem Schutz der dort lebenden Turkmenen rechtfertigen?

NQ: Tatsächlich hat die Türkei immer schon versucht, sich den Nordirak anzueignen. Eine Teilung des Iraks könnte für sie natürlich ein Grund sein, sich vermehrt einzumischen, aber Ankara macht das nicht mehr so offensichtlich wie früher. Auf militärischem Wege haben sie oft versucht, Südkurdistan anzugreifen, um die Kurden dort zu bändigen. Eine Zeitlang hat die Türkei ihre Politik mit dem Schutz der Turkmenen in Kirkuk und anderen Provinzen gerechtfertigt. Heute bedienen sie sich einer anderen Strategie.

Südkurdistan ist wirtschaftlich aufgeteilt. Der Bereich der DPK steht massiv unter dem Einfluß der türkischen Ökonomie. Über 600 türkische Firmen und Konzerne betreiben dort Handel. Auf diese Weise übt die Türkei politischen und gesellschaftlichen Druck in jenen Regionen und Orten in Südkurdistan aus, die von der DPK kontrolliert werden. In Sulaimaniyya und Umgebung dagegen tritt eher der Iran als wirtschaftlicher Hauptakteur auf. Die neoosmanischen Ziele von Erdogan wurden bei seinen letzten Wahlen, die er als großen Sieg verbuchen konnte, immer offensichtlicher. In einer seiner Wahlkundgebungen sagte er, dieser Sieg ist für Ankara, Arbil, Aleppo und Damaskus. Damit hat er seinen neoosmanischen Traum unterstrichen und seine Ziele in aller Deutlichkeit erklärt. Es war immer Teil der türkischen Politik, vor allem unter Erdogan, ihren Einflußbereich weit über ihre Grenzen hinaus in die Nachbarstaaten auszudehnen. Dazu gehörte auch der Versuch Erdogans, den Sieg des Schiiten Nuri al Maliki in Bagdad zu verhindern. Die militärischen Erfolge des IS sind ein Ergebnis dieser Politik. All das dient dem Projekt eines osmanischen Reiches. Wenn es zu einer Teilung des Iraks kommen sollte, würde es der Türkei leichter fallen, ihre Ziele zu verwirklichen, denn sie hat für ihr Projekt vorgesorgt.

SB: Inwiefern ist der IS ein Ergebnis der Besatzungspolitik der von den USA geführten "Koalition der Willigen", in deren Folge die schiitischen Führer gegenüber den sunnitischen Eliten, die vorher im Irak das Sagen hatten, bevorzugt wurden? Wie wird die Entwicklung des IS in Südkurdistan wahrgenommen?

NQ: Man muß das Thema IS wesentlich tiefer betrachten. Trotz der verschiedenen Ansichten in den kurdischen Parteien und Organisationen sind sich die Kurden in einem Punkt einig: Der IS ist der Feind, nicht nur der Kurden, weil sich die Angriffe des IS im wesentlichen auf sie konzentrieren, sondern auch der Feind der Demokratie und der Menschlichkeit. Die IS-Milizen vernichten alles, was nicht in ihr menschenverachtendes Weltbild paßt: Frauenrechte, Jugend, Demokratie, Fortschritt. Die Entstehung des IS geht unter anderem auch darauf zurück, daß es in diesen Regionen keine Demokratie gibt. Außerdem muß man berücksichtigen, daß der Kampf zwischen Sunniten und Schiiten über 1400 Jahre alt ist. All das hat zur augenblicklichen Situation beigetragen.

Dennoch muß man sich ganz konkret fragen, wer der IS ist und vor allem wer ihn unterstützt. Sicherlich hat der IS Rückhalt aus jenen Bevölkerungsgruppen erhalten, die von heute auf morgen von der Regierung in Bagdad weitgehend ausgeschlossen wurden. Das betraf in erster Linie die Sunniten und weniger die Kurden, die in ihrer eigenen Region eine Selbstverwaltung aufgebaut hatten. Unter diesen Umständen sind alle Demokratisierungsbemühungen auf der Strecke geblieben, was wiederum den Nährboden für den IS gegeben hat.

Man muß sich natürlich auch die Frage stellen, welche Staaten im Nahen Osten einen Nutzen aus dem IS-Terror zum Beispiel gegen Kurdistan ziehen. Saudi-Arabien und Katar haben sich dazu bekannt, den IS militärisch und strategisch zu unterstützen, aber auch die Türkei darf in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben. Es gilt zudem zu berücksichtigen, daß der IS nicht nur innerhalb des Iraks und Syriens existiert, sondern auch außerhalb dieser Regionen agiert. Wie kann es sein, daß der IS junge Leute aus Deutschland, Frankreich, Belgien und anderen Staaten für den Dschihad gewinnt? Die westlichen Staaten müssen sich mit der Frage konfrontieren, ob ihre Demokratie vielleicht nicht gut genug für diese Jugendlichen ist. Warum lassen sie sich sonst davon überzeugen, daß der IS für sie eine bessere Perspektive darstellt? Wie bringt der Islamische Staat Menschen dazu, in den Tod zu gehen und gegen die Menschlichkeit zu kämpfen? Aufgrund meiner Recherchen als Journalistin kann ich sagen, daß der IS ein Apparat ist, der von einzelnen Staaten bzw. internationalen Staatengemeinschaften für ihre Vorteile benutzt wird.

Man darf dabei nicht vergessen, daß die Kurden den Kampf gegen den IS nicht nur für sich selber, sondern vor allem für die Menschlichkeit geführt haben, denn der IS kennt weder Grenzen noch Toleranz. Sicherlich hat der IS die Kurden in Rojava und Schengal angegriffen, gefangengenommen, gefoltert und getötet, aber sein Kampf richtete sich gegen Demokratie und Menschlichkeit. In Schengal wurden die Kurden zweifach angegriffen, einmal als Volk und zum anderen als Glaubensgemeinschaft der Jesiden. Dieser Völkermord zielte darauf, bestimmte Kulturen und Sprachen, überhaupt die Vielfalt der Lebenserscheinungen in dieser Region zunichte zu machen. Das sind die Ziele des IS.

Es ist jetzt nicht der richtige Ort und Zeitpunkt, um in allen Einzelheiten zu besprechen, wer oder was der IS ist. Aus meiner Sicht müssen diese Fragen auf internationalen Konferenzen tiefgründig analysiert und diskutiert werden, um zu verhindern, daß der IS weiteres Unheil über die vielfältigen Völker dieser Region bringt. Und natürlich muß man auch die Frage stellen, wer den IS weiterhin unterstützt und politische Vorteile aus der Zerrüttung des Mittleren Ostens zieht. Die nicht vorhandene Demokratie im Irak und in Syrien ist der eine Punkt, aber auch die Scheindemokratie im Westen hat dazu geführt, daß Tausende Menschen für den IS gekämpft und getötet und die Demokratiebewegung in Rojava angegriffen haben. Für diejenigen, die dort durch den IS bedroht und herausgefordert wurden, steht fest, daß der IS ein Produkt ist, um vor allem die Demokratie im Nahen und Mittleren Osten zu beseitigen und damit der ganzen Menschheit einen Schlag zu versetzen.

SB: Die deutsche Politik hat offensichtlich ein starkes Interesse daran, ihren Einfluß in Südkurdistan zu verstärken. So erhalten die Peschmerga in Arbi^l Waffenlieferungen aus Deutschland und werden von der Bundeswehr für den Kampf gegen den IS ausgebildet. Wie beurteilen Sie als Journalistin, daß die Bundesrepublik sich unter dem Vorzeichen humanitärer Hilfe dort militärisch engagiert?

NQ: Man muß die Entsendung von Waffen und die Unterweisung in ihren Gebrauch ein wenig differenzierter sehen. Die größte Waffe ist vor allem, von sich selbst überzeugt zu sein und sich in seiner Politik nicht beirren zu lassen. Das ist am wichtigsten. Sicherlich brauchen wir Waffen, zumal der Feind schweres Kampfgerät besitzt. Was die internationale Staatengemeinschaft und vor allem die Bundesrepublik Deutschland einmal mehr betreibt, ist eine Spaltung der Kurden, indem sie zwischen guten und nicht guten Kurden unterscheidet. Sie führt die PKK auf der Terrorliste, andere kurdische Parteien jedoch nicht. Doch der Kampf wird überall gleich ausgetragen, überall werden Waffen benötigt. Die PKK führt seit über 40 Jahren einen Kampf für Frieden und Freiheit und hat keine Vereinbarung mit einem internationalen Staat für die Entsendung von Waffen.

Wenn man an Waffen herankommen möchte, dann kriegt man sie im Nahen Osten. Das ist kein Problem in dieser Region und gilt auch für die Peschmerga. Die internationale Politik ist ein Minenfeld verschiedenster Interessen, und in diesem Sinne muß man Waffenlieferungen immer kritisch betrachten. Als Journalistin erkenne ich, daß die kurdische Freiheitsbewegung gespalten werden soll, und das ist nicht akzeptabel. Die kurdischen Kämpferinnen und Kämpfer kommen aus verschiedenen politischen Parteien zusammen, sei es in Rojava, Südkurdistan oder Schengal. Es dürfen keine Unterscheidungen gemacht werden, weil der Gegner immer der gleiche ist. Daß die Bundesrepublik und die internationale Staatengemeinschaft dennoch unterscheidet, ist eine Herangehensweise mit fatalen Folgen.

SB: Frau Qeredaxi, vielen Dank für das Gespräch.


Am Tisch im Vorraum des Audimax der Universität Hamburg - Foto: © 2015 by Schattenblick

Necibe Qeredaxi mit Dolmetscher Yilmaz Kaba
Foto: © 2015 by Schattenblick


Beiträge zur Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern II" im Schattenblick unter
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10. Juni 2015


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