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INTERVIEW/270: Die Hartz IV Diktatur - eine Verkehrung des Gemeinwohls ...    Inge Hannemann im Gespräch (Teil 1) (SB)


Arbeit - egal zu welchem Preis

Gespräch mit Inge Hannemann, der Autorin von "Die Hartz IV Diktatur" (Teil 1)

Lesung und Diskussion am 21. Juni 2015 im Eidelstedter Bürgerhaus, Hamburg



I. Hannemann mit Transparent 'Die Linke Eimsbüttel' - Foto: © 2015 by Schattenblick

Inge Hannemann
Foto: © 2015 by Schattenblick

Kapitalistische Verwertung und marktwirtschaftliche Logik bringen, was schon lange vor Hartz IV Anlaß und Gegenstand sozialer Proteste und klassenkämpferischer Positionen war, Erscheinungsformen mit sich, die jede Frage danach, ob diese Organisationsform gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion ihr immanentes Versprechen, für alle Menschen das beste herauszuholen, wenn nur den wirtschaftlichen Kräften freier Lauf gelassen werde, überflüssig machen. Agenda 2010 und Hartz IV sind längst zu Synomymen einer Armutsverwaltung geworden, in der die Frage des eigenen Überlebens an die Unterwerfung unter behördliche Vorgaben, Arbeits- und Verhaltenszwänge so fest gekoppelt ist, daß Proteste, widerständiges und solidarisches Handeln einem Schritt ins gesellschaftliche Abseits gleichzukommen scheinen.

Als eine der wenigen Stimmen, die aus dem Innenleben der mit der Umsetzung dieses Systems maßgeblich befaßten Jobcenter heraus öffentlich machen, was hier in dem so ungleichen Verhältnis zwischen Staat und Bürger geschieht, ist mit Inge Hannemann eine ehemalige Arbeitsvermittlerin in Erscheinung getreten, die nun auch mit ihrem Buch "Die Hartz IV Diktatur" aufklären, wachrütteln und Stellung beziehen will. In Politik und Medien zur "Hartz-IV-Rebellin" stilisiert, so als könne eine Rebellion unter Auflösung eigener Verstrickungen in all jene gesellschaftlichen Interessen und Verhältnisse, gegen die aufbegehrt wird, die Sache einzelner sein, nahm sie im Vorwort ihres Buches zu dieser Frage Stellung:

Mit der internen Kritik, mit meinen Verbesserungsvorschlägen und Konzepten bin ich gescheitert. Antworten auf meine Fragen habe ich nicht erhalten, Zustimmung durch die Kollegen hinter verschlossenen Bürotüren durchaus. Die verständliche Angst vor dem eigenen Jobverlust oder vor Mobbing machte so einen kollektiven Zusammenschluss unmöglich. Mir ist bewusst, dass weder eine einzelne Person noch die Betroffenen selbst die Abschaffung von Hartz IV erreichen können. Dafür ist Hartz IV einfach zu sehr ein Politikum und darüber hinaus ein Finanzsystem geworden, das inzwischen den Wirtschaftsstandort Deutschland durch den prekären Arbeitsmarkt finanziert und aufrechterhält. Und dennoch bin ich der Meinung, dass die Forderung "Weg mit Hartz IV" laut und unüberhörbar in die Welt gesetzt werden darf und muss - auch und gerade weil sie polarisiert.
(S. 8/9)

Im Anschluß an eine Lesung, in der Inge Hannemann ihr Buch vor- und zur Diskussion stellte [1], konnte der Schattenblick mit ihr ein längeres Gespräch führen. Während der erste Teil den unmittelbaren Fragen um Hartz IV gewidmet ist, geht es im zweiten um ihr partei- und parlamentspolitisches Engagement wie auch die Frage danach, wie es um solche Formen der Armutsverwaltung in anderen europäischen Staaten bestellt ist.


Schattenblick (SB): Sie kennen die Behörden von innen her, haben selbst im Job-Center gearbeitet und stehen heute noch, wenn auch an anderer Stelle, in diesem Arbeitsverhältnis. Ihr Engagement für Betroffene wie auch der Schritt, mit Ihrer Kritik am Hartz-IV-System an die Öffentlichkeit zu gehen, haben zu heftigen Reaktionen geführt. Wußten Sie, worauf Sie sich da einlassen?

Inge Hannemann (IH): Ja. Ich habe eigentlich sogar damit gerechnet, daß ich sofort eine Kündigung bekomme, was nicht passierte, weil ich sehr schnell, innerhalb von Stunden, eine Öffentlichkeit hinter mir hatte. Später war dann für die Behörde der Zeitpunkt vorbei, da wäre das nur noch lächerlich gewesen.

SB: Sie haben mit Ihrem jetzigen Arbeitsplatz im Dezember vergangenen Jahres einen Vergleich geschlossen. Verstehe ich das richtig, daß Sie dem zustimmen mußten, weil mehr nicht drinlag und es keine weiteren Möglichkeiten gab, rechtlich etwas anderes durchzusetzen?

IH: Genau. Es ist ja so: Der Öffentliche Dienst hat ein sogenanntes Direktionsrecht. Das heißt, daß er jeden Mitarbeiter unabhängig von der Qualifikation irgendwohin versetzen kann. Hauptsache, es ist dieselbe Entgeldgruppe. Es muß noch nicht einmal von der Tätigkeit her passend sein. Da hätte ich mich durchklagen können bis ganz nach oben und hätte nie gewonnen. Deswegen haben wir gesagt: Okay, dann machen wir den Vergleich.

SB: Entspricht das demselben Denken, wie auch mit Hartz-IV-Empfängern umgegangen wird, daß Sie sozusagen versetzt werden können, wohin auch immer das Job-Center es will, und Sie kaum Möglichkeiten haben, das zu verweigern?

IH: Auch im Öffentlichen Dienst - ich bin da jetzt schon seit vielen, vielen Jahren - ist jede Tätigkeit zumutbar. Ich sehe das auch bei ehemaligen Kollegen, die aus dem Job-Center rauswollen. Die landen dann in irgendeiner Archiv-Abteilung, also gar nicht mehr da, wo sie vorher waren.

SB: Befürchten Ihrer Einschätzung nach Kollegen, die sich zu Hartz IV eigentlich nicht öffentlich äußern, daß sie sozusagen selbst auf der anderen Seite des Schreibtisches landen könnten?

IH: Das ist meiner Meinung nach wirklich eine ganz subtile Angst, die wird natürlich nicht öffentlich ausgesprochen. Man kann sie auf verschiedene Art und Weise bemerken. Manchmal erwähnen sie es im Gespräch mit mir. Manchmal sieht man es in der Art, wie sie arbeiten, also wenn sie absolut linientreu oder konform sind oder eine totale Ignoranz aufgebaut haben. Das ist dann sozusagen Dienst nach Vorschrift. Bei manchen äußert es sich in psychosomatischen Erkrankungen. Wir haben einen sehr hohen Krankenstand, in Hamburg liegt er zwischen 6 und 14 Prozent pro Job-Center. Das sind dann aber Erkrankungen, die nicht kurzfristig sind, in der Regel Nervenzusammenbrüche oder Burnout. Man denkt dann immer schnell, das würde mit Überlastung zusammenhängen, doch wenn man da genauer hinschaut, ist es das oftmals gar nicht, sondern eher so etwas wie "Ich bin hier in einem Korsett, aber was soll ich tun?" oder "Ich bin 40 oder 45plus und kriege keinen anderen Job".


I. Hannemann in Großaufnahme - Foto: © 2015 by Schattenblick

Während des Interviews
Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Mit welchen Ansprüchen oder Ideen haben Sie denn in diesem Beruf angefangen?

IH: Mit einem ganz hohen Idealismus. Ich bin ja in den Job-Center eigentlich aus Geldnot reingekommen. Vorher war ich bei verschiedenen Bildungsträgern tätig, ich glaube über 10 Jahre lang. Doch mit der Agenda 2010 hat sich die Verteilung der Maßnahmen verändert. Das heißt, vorher haben wir vor Ort Maßnahmen geschaffen und vor Ort an das damalige Arbeitsamt verkauft. Die waren passend für die Betroffenen und für uns natürlich auch. Wir haben gut verdient. Ich habe zum Beispiel, als ich noch in Baden-Württemberg war, 3.600 brutto verdient. Mit der Agenda 2010 wurden die Maßnahmen ausgeschrieben und der günstigste Anbieter hat den Zuschlag bekommen, was bis heute noch so ist. Damit sanken auch die Löhne bei uns tatsächlich um 50 Prozent. Bei mir war dann schlußendlich die Überlegung: Nehme ich den nächsten befristeten Vertrag an im Beschäftigungs- oder Bildungsträgersektor und stocke auf mit Hartz IV - was ich vom niedrigen Lohn her, mit Kind und alleinerziehend, hätte tun müssen - oder gehe ich dorthin, wo man meinen Platz sozusagen wegrationalisiert hat?

SB: Wenn ich das richtig gelesen habe, waren Sie von Anfang an eine Kritikerin der Agenda 2010?

IH: Das Interessante war ja: Als die Agenda 2010 kam und 2005 die Job-Center haben wir in Süddeutschland mit unserem damaligen Job- Center noch eine Demo dagegen gemacht. Der damalige Centerleiter hat gesagt: Das geht gar nicht. Das war eine Regelleistung von 345,- Euro. Da haben wir eine Kartonmauer aufgebaut, was von den 345,- Euro bezahlt werden muß und was nicht mehr zu bezahlen ist. Wir als Job-Center haben selbst dagegen demonstriert. Klar, er hat natürlich Ärger bekommen aus Nürnberg. Ganz interessant war auch: Als wir im Dezember noch Geld übrig hatten, haben wir das an die Erwerbslosen in Form von Weihnachtsgeld ausgegeben. Da hat, glaube ich, damals jeder 80 Euro bekommen, weil wir nicht wollten, daß das Geld zurückgeht an den Bund. Der damalige Standortleiter war einfach sehr sozial. Er war Sozialarbeiter und hat dann auch Ärger bekommen, wir durften das dann nicht mehr.

SB: Viele Menschen werden durch Hartz IV gezwungen, ihre eigenen finanziellen Werte und Ersparnisse zu entäußern. Gibt es Ihres Wissens nach Untersuchungen darüber, in welchem Umfang der Staat auf diese Weise seine Ausgaben reduziert und wofür die auf diesem Weg "eingesparten" Beträge verwendet werden?

IH: Ich habe bisher noch keine Statistik dazu gesehen. Ich hörte einmal etwas von einer möglichen Höhe von einer Milliarde pro Jahr, aber ob das der Wahrheit entspricht, weiß ich nicht. Ich glaube, das ist ganz schwer zu evaluieren, weil die Menschen erst dann ins Job-Center gehen oder dort aufgenommen werden, wenn sie ihr Vermögen bis zu einer gewissen Freigrenze, was vom Alter abhängig ist, aufgebraucht haben. Aber es ist halt so, daß das Hartz-IV-System Lebensentwürfe zerstört, was hauptsächlich eine angesparte Rente betrifft oder zum Beispiel auch das eigene Haus. Das muß dann eventuell verkauft werden, wenn es zu groß ist, das wird dann ja auch gegengerechnet. Aber gerade bei der angesparten Rente ist das ein Problem. Da gilt es aufzuklären, daß man bei solchen Rentenansparverträgen wirklich sagt: Auszahlung mit 65, dann muß man sie nicht auflösen. Ansonsten muß man Renten- und Lebensversicherungen auflösen. Das ist heftig.

SB: Würden Sie sagen, daß da ein vollständig neues System hinsichtlich der Renten und des Altersruhegeldes aufgebaut wurde? Erst die Riester-Rente, an der es auch schon Kritik gab, und dann die Hartz-IV-Geschichte. Sind das zwei Säulen der gleichen Entwicklung?

IH: Ja, auf jeden Fall. Den Begriff Eigenverantwortung finde ich in diesem Zusammenhang einfach ganz gefährlich. Den hat Schröder 2002 in seiner Rede zur Agenda 2010 schon erwähnt. Aber ich möchte das umgedreht sehen, indem ich sage: Unser Sozialstaat, wie er sich selbst bezeichnet, hat die Verantwortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern. Mit diesem Begriff Eigenverantwortung wurde das komplett an sie abgegeben. Das heißt, der Bürger oder die Bürgerin sind zuständig dafür, wie sie überleben.

SB: Könnte man auch sagen, daß, bevor jemandem die Eigenverantwortung zugestanden wird, sie ihm erst einmal genommen werden muß und daß die Bürgerinnen und Bürger in einer Gesellschaft sowieso für sich selbst verantwortlich sind?

IH: Die finanzielle Eigenverantwortung, die sie sich vielleicht in einem noch guten Status aufgebaut haben, wird ihnen entzogen und gleichzeitig aber mit dem ersten Schritt ins Job-Center wieder aufgebürdet. Zunächst einmal durch die Schuldzuweisung: Du bist schuld. Es wird ja fast gar nicht gefragt: Warum sind Sie arbeitslos? Das passiert nicht. Sie sind arbeitslos, Sie sind im Job-Center, also haben Sie nichts geleistet.

In der Arbeitsagentur ist das noch nicht ganz so extrem. Da merkt man zum Glück schon noch einen Unterschied, weil es da die Denkweise gibt: Sie haben vorher gearbeitet und in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt, das wurde von Ihrem Lohn abgezogen. Im Job-Center ist der Duktus: Sie leben jetzt auf Kosten des Steuerzahlers. Also, das ist so eine ganz andere Wahrnehmung und Schuldzuweisung. Es wird ja gar nicht transportiert, daß die Menschen vorher auch zum Teil Jahrzehnte lang gearbeitet und entsprechend Steuern gezahlt haben, auch mit ihren Einkäufen. Das wird komplett ignoriert.

SB: Sehr oft ist zu hören, daß sich die Hartz-IV-Bezieher wie Bittsteller fühlen. Bei Ihrer Lesung, bei der auch viele Betroffene waren, wurde in der anschließenden Diskussion so ein bißchen als Lösung ausgegeben: Zurück zur alten Sozialhilfe, zu Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe. Trifft nicht, und das ist jetzt meine Frage, das Grundverhältnis zwischen dem Bürger als einem Bittsteller gegenüber dem Staat nicht auch auf die frühere Sozialhilfe zu? Läßt sich die Kritik, daß Menschen zu Bittstellern gemacht und so behandelt werden, wirklich auf Hartz IV begrenzen?

IH: In meinen Augen ja. Bei der Sozialhilfe oder jetzt der Grundsicherung ist es immer noch eine Leistung an Menschen, die nicht mehr arbeiten können oder nicht genug Geld haben im Alter. Das heißt, sie werden damit "versorgt" - in Anführungszeichen - oder unterstützt. Das ist als Sozialleistung noch unabhängig vom zum Teil restriktiven Vorgehen der damaligen Grundsicherungsämter, was wir ja leider auch noch haben. Doch im Job-Center ist es so, daß ich um das Geld betteln muß. Das heißt: Ich muß mich als Betroffener erst einmal nackt machen. Nackt heißt: Wie sind meine Finanzen und die meiner Kinder? Ich muß also das Sparkonto der Kinder vorlegen oder eventuell auch das meiner Frau oder Lebenspartnerin, die vielleicht arbeitet, die eigentlich für meinen Zustand gar nichts kann und trotzdem dafür einstehen muß.

SB: Stellt das nicht eine enorme Steigerung dar, was den administrativen Zugriff betrifft, gegenüber den Verhältnissen, wie sie noch bei der früheren Sozialhilfe bestanden?

IH: Das ist - ich sage das immer ganz kraß - ein Einschnitt in die Privatsphäre, also auch eine Datenschutzverletzung. Das sieht der Datenschutzbeauftragte anders, aber ich persönlich sehe das so. Ich finde es zum Beispiel sehr extrem bei den klassischen Patchwork-Familien, diese Fälle haben wir ja zuhauf. Da heiratet eine Frau einen neuen Mann oder umgekehrt, dann bringt irgendeiner ein Kind mit, oder sie wohnen einfach nur zusammen, sind also nicht verheiratet, und dann muß der Lebenspartner plötzlich für alle geradestehen, ob er es kann oder nicht. Natürlich liebt er die Frau oder eben den Mann und die Kinder, und ich glaube, er ist sowieso bereit, für die Familie, die er angeheiratet hat oder die bei ihm eingezogen ist, aufzukommen. Aber daß er sich wirklich mit seinem Vermögen nackt machen muß, eventuell sogar sein Vermögen veräußern muß, das, finde ich, ist nicht mehr fair.

SB: Da wird sozusagen sein Vermögen abgeschmolzen, während der Staat hier die Gelder und Finanzmittel einspart.

IH: Ja. Er muß es ja komplett auch verbrauchen.

SB: Ist das auch ein Grund dafür, daß Sie Ihrem Buch den Titel "Die Hartz IV Diktatur" gegeben haben - Diktatur ist ja ein sehr starker Begriff -, oder kam das vom Verlag her?

IH: Wir haben im Verlag sehr lange darüber diskutiert. Diktatur heißt ja unter anderem: Ich nehme einen Eingriff in die Privatsphäre von Menschen vor. Er wird gerne mit dem Dritten Reich assoziiert, aber vom Grundbegriff heißt es 'ich nehme Einfluß in etwas'. [1] Deswegen hat der Verlag das vorgeschlagen. Ich mußte lange drüber nachdenken, ich hatte eher "Hartz-IV-Regime" im Kopf. Aber auf der anderen Seite sind die Mechanismen, die wir da haben innerhalb des Systems, so, daß es ein Eingriff, eine Einflußnahme in die Privatsphäre ist. Es ist eine Doktrin von oben: Du hast das zu machen, und wenn nicht, dann sorgen wir dafür, daß du das machst, und das entspricht einer Diktatur.

SB: Dürfen denn die Mitarbeiter der Job-Center in die Wohnung hineingehen und tatsächlich auch Schränke öffnen, dürfen sie quasi polizeiliche Ermittlungsarbeit machen, ist das tatsächlich so?

IH: Die Mitarbeiter in den Job-Centern selbst nicht, aber dafür gibt es den sogenannten Außendienst. Es ist tatsächlich so: Die kommen in der Regel auch unangemeldet, gerne morgens, so um acht Uhr. Sie dürfen die Wohnung nicht betreten. Das dürfen sie nicht, aber sie tun es trotzdem. Zum Teil drohen sie. Sie sagen: Wenn Sie mich nicht reinlassen, dann stoppen wir jetzt Ihren Antrag oder Sie kriegen das und das nicht. Und dann gucken sie in die Schränke rein und in den Kühlschrank. Der Kühlschrank sollte, wenn man sagt, man lebt in einer Wohngemeinschaft, getrennte Fächer haben. Also, dann würde in dem einen Fach "Inge" stehen und in dem anderen, was weiß ich, "Martin" oder so. Zahnputzbecher am besten zwei, auch zwei Waschbecken - wer hat das schon? - und dann natürlich den Nachweis, daß man getrennt schläft. Dieser Griff in die Schränke, also das ist, wie ich finde, eine unwahrscheinliche Verletzung der Privatsphäre, auch das unangemeldete Kommen. Ich empfehle da immer, die Mitarbeiter nicht hereinzulassen und einen neuen Termin ausmachen.

SB: Meinen Sie, daß man den Begriff der Diktatur auch auf weitere Bereiche der Gesellschaft ausdehnen oder sie vielleicht sogar insgesamt so bezeichnen könnte oder stellt das Hartz-IV-System sozusagen eine Fehlentwicklung in der Demokratie dar? Welches Verständnis haben Sie da?

IH: Ich sehe das eher als einen Fehler in der Demokratie an. Wir haben in der Gesellschaft vielleicht diktatorische Züge wie jetzt bei dieser Vorratsdatenspeicherung, das ist wirklich sehr kraß. Wir haben den Bereich TTIP und ich bin froh, daß es diesen Widerstand gibt. Ich glaube aber, wir verlieren unsere Demokratie. Wir haben zum Glück noch das Wahlrecht, wir können wählen, und wir dürfen eine andere Religion und Hautfarbe haben. Natürlich gibt es auch rassistische Tendenzen, klar, aber wie zu Beginn der 30er Jahre ist es zum Glück noch nicht. Es entwickelt sich, aber das sehe ich noch nicht so extrem. Die Demokratie bzw. den sozialen Frieden innerhalb der Demokratie, die sehe ich inzwischen schon als gefährdet an.

SB: Es gibt hier in Hamburg schon 500 Null-Euro-Jobber. Wenn Sie einen Blick in die Zukunft wagen würden: Halten Sie es, wenn die gegenwärtige Entwicklung so weitergeht, für vorstellbar, daß so etwas wie Sammelunterkünfte geschaffen werden, in denen man zwangsweise leben muß, und daß der Zwang zur Arbeit noch weiter ausgebaut wird?

IH: Wir haben in Hamburg ab Juli 1000 Null-Euro-Jobs, das wird jetzt aufgestockt. Nein, das mit den Zwangsunterkünften sehe ich zum Glück noch nicht. Was ich aber sehe, ist eine mögliche Entwicklung, wie wir sie in Großbritannien haben. Das heißt, daß die Erwerbslosen irgendwann dazu verpflichtet werden zu arbeiten, wobei das, was sie an Hartz IV beziehen, mit dem Lohn gegengerechnet wird. Also: Ich arbeite, bekomme aber keinen Lohn, sondern für die Arbeit sozusagen Hartz IV, was schlußendlich dazu führt, daß ich, wie es in London schon praktiziert wird, für meine Vollzeittätigkeit den Hartz-IV-Satz bekomme. Das sind derzeit bundesweit durchschnittlich 690,- Euro, und das ist Ausbeutung.

SB: Stellt sich für Arbeitsvermittler heute nicht auch die Frage: In welche Verhältnisse vermittel' ich da eigentlich? Bringt mich das nicht in Konflikte, wenn ich Menschen dazu verhelfe, sich durch Arbeit finanziell vielleicht ein kleines bißchen besser zu stellen, aber eigentlich unzumutbare Umstände akzeptieren zu müssen? Liegt nicht auch bei der sogenannten Arbeit selbst eine Zuspitzung eigentlich inakzeptabler Verhältnisse?

IH: Der Begriff Arbeit wird innerhalb der Job-Center gar nicht definiert. Die Job-Center müßten endlich einmal damit anfangen, den Begriff Arbeit zu definieren. Was ist Arbeit eigentlich? Reproduktive Arbeit wie die Pflege Angehöriger oder Erziehungszeit wird in dem Sinne nicht anerkannt. Und was ist mit Künstlern, Schauspielern, Journalisten?

SB: Und der sogenannten Hausfrauenarbeit?

IH: Die gibt es gar nicht innerhalb vom Job-Center. Es gibt auch wenig Überlegungen dazu, wohin ich vermittele. Wir haben einzelne Mitarbeiter, die auch kritisch sind und versuchen, sozial empathisch zu arbeiten. Zum Glück gibt es die, aber es kommt nicht von oben und auch nicht von seiten der Teamleitung. Es wird im Grunde totgeschwiegen. Es gilt: Hauptsache vermitteln, vermitteln, vermitteln .... Und die schnellste Vermittlung ist wirklich seit Jahren die in die Zeitarbeit.

Dabei muß man bedenken: Man wird nach der Anzahl der Vermittlungsquote bewertet. Je mehr ich vermittele, ein desto besserer Arbeitsvermittler oder eine -vermittlerin bin ich. Ich muß einfach immer gewisse Quoten erfüllen. In Hamburg zum Beispiel, und das ist fast der bundesweite Schnitt, liegt die Quote bei 20 bis 25 Prozent, die ich im Monat zu vermitteln habe. Das ist auf dem regulären Arbeitsmarkt derzeit nicht zu schaffen, das geht nur mit Zeitarbeit.

SB: Eine vielleicht zynische Frage: Es gibt ja Bestrebungen, Prostitution zu legalisieren, was man aus Sicht der Frauen noch nachvollziehen kann, und den etwas bösen Witz, daß dann quasi in der Job-Vermittlung zu arbeitslosen Frauen gesagt wird: Na ja, Sie sind doch noch jung, ich gebe Ihnen hier 'mal eine Adresse. Ist das mehr als ein schlechter Scherz?

IH: Also jetzt wird so etwas noch nicht bewußt gemacht. Aber es ist schon passiert, weil die Arbeitsvermittler nicht wußten, welches Unternehmen dahintersteckt und nicht die Zeit hatten, das zu prüfen, und die Arbeitgeber sagen, ich habe da einen breiten Service, daß man später feststellt, daß das Table-Dance auf der Reeperbahn ist. Also das gab es auch schon. Auf der anderen Seite kenne ich inzwischen zwei Fälle, die sich zuvor prostituiert haben und da zum Glück ausgestiegen sind. Das Job-Center hat in beiden Fällen gesagt: Machen Sie das doch weiter, da haben Sie ja gut verdient, dann brauchen Sie uns nicht mehr. So etwas ist absolut diskriminierend. Diese Frauen sind wirklich im Kampf und mit was weiß ich wieviel Tränen und Kraft da rausgekommen.

SB: Sie sprachen eben schon von der schnellen Vermittlung in Zeitarbeit. Inzwischen ist es aber auch so, daß Zeitverträge auch schon wieder abgelöst werden durch Werkverträge. Macht sich diese Entwicklung auch in den Job-Centern bemerkbar, wenn beispielsweise solche Jobs in der Fleischindustrie vermittelt werden?

IH: Bei den Job-Centern ist es egal, ob Zeit- oder Werkvertrag, darauf wird gar nicht geachtet. Zuerst wird geguckt: Wird der Mindestlohn bezahlt? Ist der Lohn sittenwidrig im Vergleich zur Tarifbindung der Region? Aber ansonsten macht das überhaupt keinen Unterschied. Es gilt einfach: Arbeite - egal zu welchem Preis.

SB: Und wenn jemand, der Veganer ist - jetzt 'mal als fiktives Beispiel -, in eine Fleischerei oder in die Tierverwertung vermittelt wird und sich weigert, werden ihm dann die Bezüge gestrichen?

IH: Dann würde er entweder die Sanktionen bekommen oder er hat einen menschlichen Sachbearbeiter, der sagt dann: Okay, ich respektiere das. Das kann er ja machen. Aber da gibt es einfach immer beides.

(wird fortgesetzt)


R. Peters und I. Hannemann am Tisch sitzend - Foto: © 2015 by Schattenblick

Während der Lesung - Ralf Peters, Bezirksvorstand der Linken in Hamburg-Eimsbüttel, und Inge Hannemann
Foto: © 2015 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] Dem Duden-Herkunftswörterbuch (1989) zufolge kam der Begriff Diktatur im Sinne einer "unumschränkten Gewaltherrschaft" im 16. Jahrhundert auf. Das zugrundeliegende Verb diktieren in der Bedeutung von "(zum Nachschreiben) vorsprechen; vorschreiben, aufzwingen" wurde im 15. Jahrhundert aus dem lateinischen Wort "dictare", dem Intensivum von dicere ("sagen, sprechen") entlehnt. Das lateinische Wort dicere wiederum bedeutete eigentlich "mit Worten auf etwas hinweisen" und gilt als etymologisch urverwandt mit dem neuhochdeutschen Verb zeihen; von ihm entlehnt wurde auch das Wort dichten.


Siehe auch den Bericht zur Lesung mit Inge Hannemann im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/199: Die Hartz IV Diktatur - Eine Arbeitsvermittlerin klagt an ... (SB)

28. Juni 2015


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