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INTERVIEW/276: Minenfeld Afghanistan - Krieg, Schuld und Schaden ...    Karim Popal im Gespräch (SB)


Das Massaker von Kundus - Türöffner forcierter deutscher Kriegsführung

Tagung Afghanistan 2015. Frieden in Afghanistan? Vergessen? am 13. Juni 2015 in Düsseldorf


Beim folgenschwersten Angriff in der Verantwortung deutscher Soldaten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bombardierten am 4. September 2009 kurz vor 2 Uhr morgens Kampfjets der NATO nahe Kundus zwei entführte Tanklaster. Dabei wurden laut Bundesverteidigungsministerium 91, nach Angaben Karim Popals 137 Zivilisten getötet. Der Bremer Anwalt vertritt insgesamt 79 Familienangehörige und fordert für jeden der vielen Toten eine Entschädigungssumme zwischen 20.000 und 75.000 Euro, insgesamt geht es um 3,3 Millionen Euro. Die Bundesregierung hatte zunächst geleugnet, daß es zivile Opfer gab, später mußte jedoch der zuständige Verteidigungsminister, Franz-Josef Jung, zurücktreten. Schließlich wurden 91 Opfer anerkannt, denen man jeweils pauschal 5000 US-Dollar zukommen ließ, ohne damit ein Schuldeingeständnis zu verbinden.

Karim Popal spricht von einem Verstoß gegen das Völkerrecht und wirft dem damaligen Kommandeur für Kundus, Georg Klein, eine grob fahrlässige Amtspflichtverletzung vor. Er habe trotz der Zweifel auf seiten der US-Jetpiloten die Bombardierung der Menschenmenge veranlaßt. Videoaufnahmen eines Aufklärungsflugzeugs belegten, daß überwiegend Zivilisten an den feststeckenden Tanklastern versucht hatten, Benzin zu zapfen. Oberst Klein wurde nie zur Rechenschaft gezogen. Weder leitete die Bundeswehr ein förmliches Disziplinarverfahren gegen ihn ein, noch wurde ungeachtet eines Untersuchungsausschusses des Bundestags und sogar einer Anzeige wegen Mordes Anklage gegen ihn erhoben. Statt dessen beförderte man ihn im Frühjahr 2013 zum Abteilungsleiter im neuen Bundeswehramt für Personalmanagement und ernannte ihn später zum Brigadegeneral.

Popal zufolge verfolgten die Vertreter des Verteidigungsministeriums stets die Strategie, Informationen zu vernebeln, sie für geheim zu erklären und keine Auskunft zu geben. Wurden Fragen aufgeworfen oder Ansprüche geltend gemacht, schützten sie Unkenntnis vor und stritten alles ab. In dem Zivilverfahren, das fast sechs Jahre nach dem Massaker von Kundus noch immer anhängig ist, geht es einerseits um eine Entschädigung der notleidenden Angehörigen, darunter zahlreiche Waisen. Es geht zugleich darum, die anhaltende Verschleierung des damaligen Angriffs auf zivile Opfer zu durchbrechen und ihn als Türöffner forcierter deutscher Kriegsführung auszuweisen.

Auf der Tagung "Afghanistan 2015. Frieden in Afghanistan? Vergessen?" am 13. Juni 2015 im Bürgerhaus Bilk in Düsseldorf hielt Karim Popal einen Vortrag zum Thema "Afghanistan nach den Wahlen - Aktuelle innenpolitische Lage". Nach der Veranstaltung beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zum aktuellen Stand des Kundus-Verfahrens, zu dessen Signalwirkung in der deutschen Öffentlichkeit, zu den Folgen der Besatzung in Afghanistan und zur Kriegspolitik Deutschlands.


Stehend vor einer Hecke - Foto: © 2015 by Schattenblick

Karim Popal
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr Popal, Sie vertreten die Betroffenen im Kundus-Verfahren. Auf der heutigen Tagung wurde unter anderem die Frage diskutiert, was man auf dem Rechtsweg erreichen kann. Wie ist der aktuelle Stand im Kundus-Verfahren und welche Bedeutung kommt ihm aus Ihrer Sicht zu?

Karim Popal (KP): Ich vertrete weiterhin die Kundus-Verfahren hier in der Bundesrepublik Deutschland. Wir sind jetzt beim Bundesgerichtshof angelangt und haben auch einen BGH-Anwalt. Wir haben Revision eingelegt und werden demnächst deren Begründung einreichen. Allerdings hat das Bundesverteidigungsministerium meinen schwachen Punkt ausfindig gemacht, nämlich daß ich wirtschaftlich nicht in der Lage bin, die Anwälte und die Gerichtskosten zu zahlen. Die Gegenseite in diesem Verfahren hat sofort einen Kostenbeschlußantrag gestellt, in dem die Gerichtskosten und alle weiteren finanziellen Aufwendungen zusammengefaßt werden. Wir werden dennoch weiterkämpfen.

Kundus ist in jeder Hinsicht von Bedeutung, vor allem für die Bundesrepublik Deutschland, für die hiesige Politik, für den hiesigen Frieden, für die hiesige Kriegsteilnahme, für die hiesige Rüstung. Das Kundus-Verfahren ist ein Beitrag zur Förderung des Bewußtseins für Frieden in der deutschen Bevölkerung wie auch für die Ärmsten der Armen in Afghanistan, die auf eine finanzielle Entschädigung angewiesen sind.

SB: Neben der unmittelbar juristischen Frage, nämlich der Möglichkeit, eine Entschädigung der Angehörigen der Kundus-Opfer zu erwirken, setzen Sie demnach auch auf eine Signalwirkung des Verfahrens in der deutschen Öffentlichkeit?

KP: Selbstverständlich. Deutschland ist nach dem Zweiten Weltkrieg ein anderes Land gewesen. Wir haben eine Verfassung, in der die damalige Entscheidung zum Ausdruck kommt, niemals wieder am Krieg teilzunehmen. Wie sich heute jedoch in aller Deutlichkeit abzeichnet, hat sich die deutsche Politik inzwischen Schritt für Schritt von all diesen Errungenschaften der damals gezogenen Konsequenzen verabschiedet. Bei dem Angriff auf Zivilisten nahe Kundus ist die höchste Zahl an Opfern unter Beteiligung der Bundeswehr seit dem Zweiten Weltkrieg zu beklagen.

Das ist nicht vereinbar mit der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, mit der Rolle Deutschlands in der Welt und insbesondere der Friedensrolle, die die Bundesrepublik eigentlich spielen müßte. Dieses Verfahren ist eine Lektion für alle Deutschen, denn man darf es nicht nur juristisch in Hinblick auf die Entschädigungsfrage der Opfer und ihrer Angehörigen sehen. Man muß die Angelegenheit auch gesellschaftspolitisch bewerten, und ich gehe davon aus, daß Kundus eine sehr wichtige Rolle in der politischen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland spielt, insbesondere in Fragen des Friedens, der Rüstung und möglicher weiterer Kriege.

SB: Afghanistan war in gewisser Weise ein Exerzierfeld für die Bundeswehr, sowohl in militärischer Hinsicht als auch, was die Akzeptanz der Kriegsführung in der deutschen Bevölkerung betrifft. Welche rechtlichen Argumente führen Sie ins Feld, die der Begründung derartiger Waffengänge und ihrer Billigung in der Öffentlichkeit in die Parade fahren könnten?

KP: Mit unserer Klageerhebung zu Kundus haben wir ein deutliches Zeichen gesetzt. Wir sind im Recht, da die Bundesrepublik Deutschland unseres Erachtens eindeutig gegen internationales Völkerrecht verstoßen hat. Wir haben dort die Zivilbevölkerung nicht in Schutz genommen, wie es unsere Pflicht gewesen wäre. Oberst Klein, der inzwischen in den Generalsrang befördert worden ist, hat damals eindeutig gegen Völkerrecht verstoßen. Er hat die ausdrückliche Warnung der amerikanischen Piloten zurückgewiesen, die ihm mitteilten, daß sie bei den beiden Tanklastern sehr viele Menschen erkennen könnten, und deshalb zuerst einen Tiefflug vorschlugen, um die Menge auf diese Weise zu zerstreuen und zu vertreiben. Diesen Vorschlag hat Klein zurückgewiesen, das ist ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht. Sein Ziel war es, die Menschen dort zu vernichten, denn er erwiderte auf die Frage der Piloten eindeutig, sie sollten die von ihm als Taliban ausgewiesenen Opfer bombardieren.

Wie sich jedoch zweifelsfrei zeigte, kamen bei dieser Bombardierung keine Taliban, sondern Zivilisten ums Leben. Die Taliban sind auch in dieser Region längst wieder aktiv, Kundus ist in ihren Händen. Verlierer sind wir und wir haben das Problem, daß die deutschen Politiker nicht die Wahrheit sagen, offensichtlich damals gelogen haben und noch immer vorsätzlich lügen. Dieses Verfahren ist also langsam aber sicher von großer Bedeutung für den Frieden in Deutschland.

SB: Deutschland ist inzwischen dabei, insbesondere im Ukraine-Konflikt und der damit verbundenen Konfrontation mit Rußland, möglicherweise am nächsten großen Krieg in Europa mitzuzündeln. Könnten die Lehren aus Afghanistan Ihres Erachtens dazu beitragen, diese Eskalation zu verhindern?

KP: Direkt verhindern kann man sie insofern nicht, als die Politiker heute erheblich mehr Macht als in früheren Jahren der Bundesrepublik in Händen halten. Sie machen in der Ukraine eine einseitige, eine falsche Politik. Sie versuchen tatsächlich, dort Krieg zu führen, obgleich es der erste vor unserer Haustür seit 1945 ist. Ich warne davor, daß Deutschland wieder in den Krieg eintritt, denn das ist nicht der Wille der Bevölkerung. Der Frieden, den man geschaffen hat, ist provisorisch, die ganze Bevölkerung lebt wieder in der Angst, erneut eine solche Situation des Krieges erleben zu müssen. Die Kinder und Jugendlichen haben von ihren Eltern viel vom Krieg gehört und diese wiederum von ihren Eltern. In Deutschland lebt mittlerweile die dritte und vierte Generation nach dem Zweiten Weltkrieg. Um die Menschen von dieser Angst zu befreien, bedarf es einer offenen und ehrlichen Politik, insbesondere was Krieg anbelangt. Wir haben genug Kriege geführt in Europa, wir haben genug Menschen getötet, das reicht!

Wir müssen uns in der Welt für eine friedliche Politik einsetzen, indem wir mit gutem Beispiel vorangehen. Leider macht unsere Regierung zur Zeit das Gegenteil. In Afghanistan hat die deutsche Beteiligung an Krieg und Besatzung nichts erreicht, sie hat in allen Belangen versagt. Man hat die eigene Bevölkerung jahrelang belogen, von Hilfsprojekten und Aufbau gesprochen. Am Ende hat in Afghanistan nichts stattgefunden, von dem die dort lebenden Menschen sagen könnten, dies und jenes haben die Deutschen gut gemacht. Wie auch in der heutigen Veranstaltung zur Sprache kam, wurden alle nutzbringenden Projekte von der afghanischen Bevölkerung selber zustande gebracht.

Ich komme jetzt wieder auf die Politik der Bundesrepublik Deutschland zurück. Afghanistan, die Ukraine, alle Regionen der Welt, in denen man einen Brandherd lokalisiert, könnten ein Signal für den Frieden setzen. Die allermeisten Menschen weltweit wollen Frieden und keinen Krieg. Dieser Krieg in der Ukraine nützt doch nicht der ukrainischen Bevölkerung. Fremde Akteure schüren dort den Krieg und lassen das Land allein damit zurück. Ein zentraler Gesichtspunkt ist dabei, daß Minderheiten wie die Russen nicht anerkannt werden. Man kann doch nicht verschleiern, daß es die Sowjetunion gab. Man kann nicht verschleiern, daß in der gesamten Sowjetunion auch Russen ansässig waren. Man kann nicht verschleiern, daß in verschiedenen Ländern wie der Ukraine und anderen heute unabhängigen Staaten nach wie vor russische Bevölkerungsteile leben, die Minderheiten sind. Diese müssen nach der internationalen Menschenrechtskonvention geschützt werden. Warum redet man von Krieg, warum beschuldigen Ukrainer Rußland, wo hat Rußland angegriffen? Ich will nicht Rußland in Schutz nehmen, aber zeigen Sie mir, wo Rußland Menschen angegriffen und Krieg geführt hat - nirgends! Deswegen ist diese einseitige Politik sehr gefährlich für den Frieden.

SB: Im Diskussionsteil der heutigen Tagung wurde vereinzelt der Einwand laut, die Veranstaltung sei mit ihrer Forderung nach einem vollständigen Abzug der westlichen Besatzungsmächte zu einseitig. Man dürfe doch das begrüßenswerte zivile Engagement deutscher Organisationen und Einzelpersonen nicht unterschlagen. Was würden Sie auf diesen Vorwurf erwidern?

KP: Der Vorwurf, wir seien einseitig, trifft nicht zu. Wir haben in der Vergangenheit und auch auf der heutigen Veranstaltung betont, wie sehr wir ein solches ziviles Engagement in Afghanistan begrüßen und schätzen. Wogegen wir uns jedoch wenden, ist der Krieg, der ohne den Abzug der Besatzungstruppen nicht beendet werden kann. Wir können diesem Krieg nicht zustimmen, denn solange er herrscht, kann von einem Aufbau des Landes keine Rede sein. Ich gehörte selbst dem Team an, das die Justiz in Afghanistan aufbauen sollte, und mußte feststellen, daß sehr viel Geld für ein Täuschungsmanöver ausgegeben wurde. Man hat auch in dieser Hinsicht Afghanistan nicht aufgebaut.

Unter der großen Zahl von Flüchtlingen weltweit findet man auch viele Afghanen. Sie hätten ihr Land sicher nicht verlassen, wenn sich die Verhältnisse dort zum Besseren wendeten. Vergleicht man dies beispielsweise mit der Türkei, stellt man fest, daß in jüngerer Zeit viele Türken dorthin zurückkehren. Nach Afghanistan kehrt hingegen so gut wie niemand zurück, vielmehr flüchten Afghanen in alle Welt. Die jüngste Generation ist bereits die vierte, die vor dem Krieg flieht. Deswegen müssen wir diesen Krieg kritisieren, und das ist nicht Einseitigkeit, sondern Friedenspolitik. Diese setzt voraus, daß man ehrlich ist, daß man offen ist, daß man rückhaltlos kritisiert und offenlegt, was tatsächlich in Afghanistan geschieht. Deswegen begrüße ich es, wenn die deutsche Friedensbewegung insbesondere eine argumentativ fundierte Kritik an der NATO übt.

SB: Herr Popal, vielen Dank für dieses Gespräch.


Bisherige Beiträge zur Tagung "Afghanistan 2015" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/203: Minenfeld Afghanistan - Die Haftung des Westens ... (SB)
BERICHT/204: Minenfeld Afghanistan - Ratio de jure oder der fortschreitende Krieg ... (SB)
BERICHT/205: Minenfeld Afghanistan - Ersatzkriegsperspektiven ... (SB)
INTERVIEW/274: Minenfeld Afghanistan - Zur Burka zurück ...    Fereshta Noori im Gespräch (SB)
INTERVIEW/275: Minenfeld Afghanistan - Ruinen, Elend, aussichtslos ...    Matin Baraki im Gespräch (SB)

23. Juli 2015


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