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INTERVIEW/304: Migrationskonferenz Kampnagel - halbherzig ...    Nadya Hareket im Gespräch (SB)


Hilfe ohne Herablassung - geht das überhaupt?

Interview mit Nadya Hareket, Aktivistin der anti-rassistischen Gruppe ReachOut, am 27. Februar 2016 auf Kampnagel in Hamburg


Wer je einem Vortrag beigewohnt hat, weiß, daß er inspirierend, instruktiv und interessant, aber auch sterbenslangweilig, mitunter mißverständlich, in sich widersprüchlich oder schlichtweg schlecht sein kann. Fast immer jedoch bleibt eine Distanz zwischen Referent und Zuhörer. Einen ganz anderen Weg beschritt der Workshop "how to ... support" von ReachOut, der Beratungsstelle für Opfer rassistischer Attacken in Berlin, indem die Zuhörer von Anfang an gleichsam ins Labor der Fragestellung mit eingebunden wurden. Es galt, auf vorgetragene Statements jeweils eine Pro- oder Contra-Position einzunehmen und die persönliche Entscheidung kurz zu kommentieren. Dabei ging es um nichts geringeres als das eigene Verständnis von Solidarität mit den Geflüchteten, die seit dem letzten Jahr in großer Zahl nach Deutschland kommen.

Die aktuelle gesellschaftliche Debatte darüber könnte nicht kontroverser sein. Die weltwelt auf positive Resonanz stoßende Willkommenskultur in Deutschland steht im diametralen Gegensatz zu den Aufmärschen sogenannter Heimatschützer von Pegida über die Hetzkampagnen der AfD bis zu den Haßinszenierungen rechtsradikaler Gruppierungen, die im Aufwind von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus ihre ewiggestrigen Parolen und Ideologien wieder verstärkt unters Volk bringen. Der Unversöhnlichkeit beider Lager zum Trotz findet sich dennoch ein kleinster gemeinsamer Nenner in der Forderung, daß sich die Geflüchteten in die deutsche Kultur und Wertetradition zu integrieren haben. Als würden Heuschrecken und nicht Menschen in Not, die vor dem Bombenhagel im syrischen Bürgerkrieg nach Deutschland geflüchtet sind, um Asyl bitten, wird ihnen mit der Verschärfung des Asylrechts - einem Eckpfeiler der Menschenrechtskonvention -, mit Grenzkontrollen, Kasernierungen und dem Einsatz von Tränengas am griechisch-mazedonischen Grenzübergang Idomeni begegnet. Zu alledem kommt auch noch der jüngste Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei, der die Menschenrechte geradezu mit Füßen tritt.


Mehrere weiße Wohncontainer im Scheinwerferlicht abends - Foto: © 2016 by Schattenblick

Flüchtlingsunterkunft in Hamburg-Harburg
Foto: © 2016 by Schattenblick

ReachOut ist ein Projekt von ARIBA e.V. (Antirassistische interkulturelle Bildungsarbeit) und bietet kostenlose Opferberatung und emotionale Unterstützung für Angehörige, Freunde und Freundinnen der Opfer und Zeuginnen und Zeugen eines Angriffs an. Das Beratungszentrum in der Oranienstraße hilft zudem bei aufenthaltsrechtlichen wie allgemein juristischen Fragen, der Vor- und Nachbereitung von Gerichtsverfahren und Suche nach Rechtsanwälten. Zum weiteren Aufgabenfeld gehören Begleitung zu Polizeistellen, Behörden, Gerichtsterminen und Ärzten sowie eine psychosoziale Beratung und Vermittlung von therapeutischen Angeboten. Im Bildungsprogramm stehen Workshops für Schulen und Seminare, Veranstaltungen und Trainings zur Aufklärung über Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus. ReachOut recherchiert darüber hinaus akribisch fremdenfeindlich motivierte Übergriffe auf Migrantinnen und Flüchtlinge in Berlin und veröffentlicht dazu eine umfassende Chronik, gelegentlich auch in Verbindung mit Pressemitteilungen und eigenen Stellungnahmen. Im Vordergrund stehen die Opferperspektive und Bedürfnisse der Betroffenen. Ziel von ReachOut ist neben einer gleichberechtigten Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben die Stärkung der von Verfolgung und Diskrimierung betroffenen Menschen in ihrer Handlungsautonomie und Entscheidungskompetenz. Neben der Hilfe zur Selbsthilfe setzt ReachOut auf eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit für und Solidarisierung mit den Opfern.

Auf dem Weg dahin sind strittige Fragen nach den Wurzeln für Überfremdungsängste und den nach den Anschlägen von Paris aufkochenden antimuslimischen Rassismus von Flensburg hinunter bis in die bayrischen Hochebenen zu klären. Daran orientiert sich auch, den eigenen Ansatz im solidarischen Umgang mit Geflüchteten, Migranten und Opfern rassistischer Gewalt selbstkritisch zu hinterfragen und Handlungsstrategien auch in gesellschaftlich problematischen Kontexten zu entwickeln. Die Analyse griffe jedoch zu kurz, wollte man den Konflikt quer durch die Republik nur über die aufgespannten Spruchplakate - hier "Refugees Welcome", dort "Nein zum Heim" - thematisieren. Den Aktivistinnen und Aktivisten von ReachOut geht es um eine verantwortungsvolle Solidarität, das Aufdecken von Vorurteilen und darum, Unterschiede welcher Art auch immer, die oftmals kolonialgeschichtlich gewachsen sind und in der Gegenwart in vielerlei Figuren und Facetten in Erscheinung treten, partizipativ und emanzipatorisch aus dem Weg zu räumen.

Versteht man den strukturellen Rassismus als einen Mechanismus gesellschaftspolitischer Unterdrückung, zeigt sich, daß die Ausübung von Repression auf der einen und das Gewähren von Privilegien auf der anderen Seite dazu dient, die für die kapitalistische Verwertung erforderliche Verfügbarkeit der Lohnabhängigen zu vertiefen und eine widerständige Solidarisierung von unten durch das Prinzip des Teilens und Herrschens möglichst zu unterbinden. Als schwächste Gruppen der Gesellschaft sind Minderheiten, Migranten und Geflüchtete am schwersten davon betroffen, Strategien der Sozialkontrolle und Klassenspaltung ausgesetzt zu sein. Die Frage, wie Diskriminierung im Alltag funktioniert und welche Eigenbeteiligungen bzw. Voraussetzungen institutioneller Art dafür gegeben sein müssen, um Machtverhältnisse zwischen Menschen zu etablieren, begleitete den interaktiven Workshop vom Anfang bis zum Ende. Nicht immer treten sie so offen zutage wie repressive Gesetze, sie können auch versteckt und mitunter gerade dort, wo man sich frei davon fühlt, ungestört wirken. Um so wichtiger ist es aufzudecken, auf welche Weise tiefverwurzelte Vorurteile und latente Überlegenheitsgefühle das eigene Verhalten bestimmen und welche Formen und Gesichter Gewaltverhältnisse annehmen können. Im Anschluß an den Workshop hatte der Schattenblick Gelegenheit, Nadya Hareket, die bei dem Treffen assistierte, einige Fragen zu stellen.


Fernsehschirm mit dem Titel des Workshops, 'Solidarity or white charity?' in schwarzen Buchstaben auf weißem Hintergrund - Foto: © 2016 by Schattenblick

Den Fremden begegnen - ohne Vorurteile
Foto: © 2016 by Schattenblick

Schattenblick: Nadya, könntest du einmal erzählen, in welchen Bewegungen du aktiv bist und in welchem Zusammenhang euer Projekt zur Konferenz steht?

Nadya Hareket: Ich bin in verschiedenen antirassistischen Zusammenhängen organisiert, vor allem aber im Bündnis gegen Rassismus in Berlin. Vor drei, vier Jahren war ich auch sehr involviert gewesen im Protest-Camp am Oranienplatz in Berlin und ganz generell in den Flüchtlingsprotesten. Zur Konferenz auf Kampnagel gibt es natürlich viele Beziehungen, weil sich in den letzten Jahren verschiedene Geflüchtetenselbstorganisierungen in ganz Deutschland gegründet haben. Außerdem kenne ich die Gruppe Lampedusa in Hamburg ziemlich gut. Wir haben bereits gemeinsame Aktionen gemacht, zuletzt den Protestmarsch von Straßburg nach Brüssel, wo wir 500 Kilometer marschiert sind und Grenzen gebrochen haben, um die EU-Wahlen anzuprangern und die Innenministerkonferenz in Straßburg - sagen wir es einmal so - zu belästigen.

SB: Bist du auch in der Beratungsstelle für Opfer rassistischer Attacken tätig?

NH: Nein, meine Kollegin Sanchita Basu, die die Beratungsstelle gegründet hat, macht dort Opferberatungsarbeit. Ich bin als Aktivistin sehr eng mit dieser Stelle verbunden, aber selbst berate ich nicht, sondern mache eher Aktionen, Selbstorganisierung, basisdemokratische Prozesse und Widerstand.

SB: Der Workshop "how to ... support" stand unter dem Leitsatz "solidarity or white charity?", was im ersten Moment ziemlich provokant klingt. Wie seid ihr auf die Fragestellung gekommen?

NH: Die Fragestellung kommt daher, daß traditionell Geflüchtetenpolitik immer eine Stellvertreterpolitik ist. Wenn Gesetze oder Aktionen gemacht werden, wird nie mit Geflüchteten selbst kommuniziert, sondern es wird immer nur über Geflüchtete gesprochen. Das ist für uns, die wir selbst von Ausgrenzung, Rassismus und anderen Unterdrückungsformen betroffen sind, ein großes Problem. Wenn man betroffene Menschen nicht in Politik involviert, wird sich die Politik niemals ändern, weil sie keine Ahnung davon hat, was diese Menschen alles durchgemacht haben und brauchen. Im Grunde zeichnen sich dadurch hierarchische Machtverhältnisse ab, und das wollten wir mit dem Workshop thematisieren.

SB: Der Workshop hatte einen interaktiven Rahmen. Die Besucher wurden mit dem Ziel in die Fragestellung eingebunden, ihr Solidaritätsverständnis selbstkritisch zu reflektieren. Bei jeder Frage mußten sich die Probanden von neuem pro oder contra positionieren. Auffallend war, daß die Gruppe mit einer Contra-Position lange Zeit dominiert hat und erst zum Schluß bei der Frage, ob nicht helfen egoistisch sei, stark geschrumpft ist und die Pro-Leute, die für ein selbstloses Helfen standen, plötzlich eine deutliche Mehrheit stellten. Hast du diese Entwicklung erwartet und welche Schlüsse ziehst du persönlich aus diesem Ergebnis?

NH: Ich habe keine speziellen Erwartungen gehabt, weil die Methode zum Ziel hat, daß sich Menschen über die Statements, die wir zur Basisfrage "Was ist helfen?" vorgelesen haben, zuerst einmal Gedanken machen. Natürlich war es am Anfang so, daß sich viele, nicht zuletzt weil sie mit der Methode noch nicht warmgeworden waren, auf die Contra-Seite gestellt haben. Sie repräsentierten damit die Haltung, sich genau zu überlegen, wann und in welchem Ausmaß sie helfen und daß die Verweigerung einer Hilfe für sie nicht partout egoistisch sei. Ich denke, daß sich die meisten für eine lange Zeit für die Contra-Seite entschieden, daran lag, daß sie in der Kürze der Situation nicht in dem Maße in sich gehen konnten, um zu realisieren, daß die Art ihres Agierens auch Probleme für sie schafft.

Die Egoismus-Frage am Ende ist natürlich sehr aufgeladen, weil es ja auch um Solidarität geht, die mit dem Nein immer verhandelt wird. Niemand will egoistisch, sondern jeder solidarisch sein. Deswegen erkläre ich mir, daß sich die Leute am Ende mehrheitlich auf die Ich-bin-nicht-egoistisch-Seite gestellt haben. Aber das ist ja Teil des Problems, denn es ging in diesem Workshop darum, daß wir uns selbst grundlegend hinterfragen, warum wir in einer Bewegung überhaupt aktiv sind, die nicht aus unserem Erfahrungswert schöpft. Es geht um Leute, die flüchten mußten. Die meisten Besucher des Workshops sind in ihrem Leben nie geflohen, aber meinen sich herausnehmen zu können, welche Art von Hilfe gebraucht wird. Wie kann man das wissen, wenn man nicht einmal weiß, mit welcher Situation die Geflüchteten konfrontiert sind?

SB: Solidarität könnte man auch übersetzen mit Aufhebung der Distanz, daß die Probleme, die der andere hat, vielleicht auch meine eigenen sind. Inwieweit kann ein Begriff wie Egoismus, der im gesellschaftlichen Diskurs eher konservativ besetzt ist, indem das Prinzip Jeder-ist-sich-selbst-der-nächste quasi zum unüberwindlichen Naturgesetz erklärt wird, während die linke Kritik häufig moralisch argumentiert, überhaupt sinnvoll sein, um den Zusammenhang zur Frage des Helfens zu beleuchten?

NH: Den Begriff Egoismus haben wir in der Methode nicht explizit genommen, vordergründig ging es um das Wort helfen, das eingebunden war in Statements, die von anderen Workshops zusammengetragen wurden. Solidarität wird meistens mit dem eigenen Handeln impliziert oder drückt sich in der Art und Weise aus, wie man unterstützt. Die eine Seite gibt der anderen Seite etwas, aber es wird nicht berücksichtigt, daß Geflüchtete selbst viel Erfahrung besitzen und schon dort, wo sie herkommen, mitunter politischen Widerstand geleistet haben. Statt dessen heißt es immer, wir wissen, wie das in Deutschland funktioniert und erzählen euch jetzt, wie man eine Aktion macht. Es wird aber nicht davon ausgegangen, daß Geflüchtete in ihrem Leben selbst schon viele Aktionen gemacht haben. Deswegen wird Solidarität immer einseitig gedacht. Gleichzeitig wird nicht erwartet, daß man Solidarität auch zusammendenkt, weil man gemeinsam gegen Ausbeutung, Kolonialismus und Abschottung der Grenzen steht.

SB: Helfen setzt Hilfsbedürftigkeit voraus, und es ist daher nicht erstaunlich, daß gerade in der Kolonialgeschichte den von Fremdherrschaft betroffenen Völkern westliche Werte mit dem Habitus rassistischer Überlegenheit aufoktroyiert wurden. Wie läßt sich vor diesem Hintergrund der Anspruch zu helfen mit einem linken Solidaritätsverständnis in Einklang bringen?

NH: Wir haben das Wort helfen gezielt eingebracht, weil wir dem dahinterstehenden Verhalten einen Spiegel vorhalten wollten. Uns verwundert nicht, daß die Gesetze immer repressiver werden, weil den Geflüchteten auf diese Weise ein Rahmen vorgesetzt wird. Mit dem Helfen verhält es sich nicht anders, auch hier wird ein gewisser Rahmen vorgegeben, den die Helfenden bestimmen. Diese Abhängigkeitsbeziehung ist gewollt und stellt aus unserer Sicht ein Problem dar, weil Helfen immer mit Integration vermengt ist, aber darum geht es nach unserem Verständnis von Geflüchtetenpolitik gar nicht. Es geht um Solidarität in einer Art und Weise, die politische Verantwortung gemeinsam für diese Thematik übernimmt und nicht einfach punktuell im Affekt eine Linie zieht: Ich helfe dir aus deiner Not heraus, aber alles, was davor war und danach kommt, interessiert nicht. Man muß die Zusammenhänge sehen und ebendeswegen ist es wichtig, Solidarität in einem politisch verantwortlichen Verständnis in der Geflüchtetenselbstorganisierung von der unterstützenden Seite aus zu etablieren. So gesehen machen die Kategorien - wir sind Helfer und ihr seid Geflüchtete - überhaupt keinen Sinn.

SB: In der deutschen Asylpolitik verfolgt Kanzlerin Merkel die Strategie, angeblich illegale Migration zu stoppen, so daß die Geflüchteten in Menschen mit legalem Rechtsanspruch auf Asyl und Illegale ohne Bleibeperspektive gespalten werden. Die Ausweisung von sicheren Herkunftsländern diskreditiert zudem Menschen, die aufgrund ethnischer Diskrimierung wie im Fall der Roma bzw. ihrer sexuellen oder religiösen Orientierung ihr Geburtsland verlassen mußten. In welchem Maße wird die politische Flüchtlingsarbeit der ehrenamtlichen Helfer und Aktivisten dadurch schwieriger?

NH: Aus Bewegungsperspektive und mit Blick auf die Geflüchtetenselbstorganisierung gibt es die Einstellung, wir helfen nur denen, die legal hierher gekommen sind, und weisen die Illegalen ab, nicht. Nein, denn es geht darum, daß man eine Gesellschaft ohne Grenzen denkt und dies als Bewegung im Idealfall auch vorlebt. Man muß dabei auch berücksichtigen, daß die Kategorien von Helfenden und Geflüchteten Machtverhältnisse in zwei Kästen stopfen, die man nicht in zwei Kästen stopfen kann, weil eine Beziehung nicht nur eine Dimension, sondern ganz viele hat, die auch Macht und Unterdrückung auslösen, selbst in einer Selbstorganisierung wie zum Beispiel beim Thema Frauen, egal, ob geflüchtete oder nichtgeflüchtete. In einer Gruppe mit überwiegend männlichen Supportern und Geflüchteten, in der die Frauen in der Minderheit sind, bringt es mir nichts, daß ich Supporterin bin, denn ich bin so oder so unterdrückt. Die Kategorie paßt mich nicht ein, zumal Helfende früher auch einmal Geflüchtete waren, die jetzt legalisiert sind und politisch aktiv sein möchten, weil sie wissen, wie es ist, auf der Flucht zu sein. Helfende Frauen mit Migrationshintergrund können sich nicht privilegiert fühlen, weil sie hier in Deutschland trotzdem Rassismus ausgesetzt sind und keinen Zugang zum Arbeitsamt haben, selbst wenn sie Papiere besitzen. Die Kategorisierung paßt mit der Komplexität und Problematik nicht zusammen.

SB: Wo du von Machtverhältnissen sprichst, ihr hattet im Workshop den Begriff Whiteness eingeführt, der wohl nicht als Hautfarbe zu verstehen ist, sondern als umfassenderes Konzept sozialer Verhältnisse. Könntest du das einmal genauer erläutern?

NH: Whiteness kam auf, um ein Unterdrückungsverhältnis zu beschreiben, in dem konkreten Fall den aus der Kolonialgeschichte entstandenen Rassismus, zumal unsere Gesellschaften sehr rassistisch aufgebaut sind. Es geht immer um die anderen, um die Geflüchteten, die sexistisch sind, oder jene, die illegal hierherkommen. Immer werden Menschen marginalisiert, aber wer definiert das? Aus dieser Kritik heraus wurde das rassistische Verhältnis, weil es immer um blacks und nonwhites ging, als Weißsein benannt: Weißsein als Rolle im Machtverhältnis des Rassismus, die weder gesehen noch offen ausgesprochen wird. Wir benutzen Weißsein deswegen als eine Kategorie, die eine bürgerlich-koloniale Tradition und damit stellvertretend den Imperialismus repräsentiert, weil die Staaten des Nordens stark auf rassismusbasierten Systemen operieren, sowohl intern in ihren Ländern als auch global.

SB: Wenn Menschen, die aus Kriegsgebieten flüchten oder weil sie in ihren Ländern keine Lebensgrundlage mehr finden, sich hier in Deutschland solidarisieren, bringen sie zum einen ihre eigenen Kämpfe, aber zum anderen auch ihre eigenen Vorurteile mit, die sie zum Teil auch auf andere Flüchtlinge übertragen. Wie schätzt du die Möglichkeiten für einen belastbaren und entwicklungsfähigen solidarischen Zusammenhalt ein?

NH: Ich begegne dieser Problematik ziemlich oft, aber die Ursache oder Verantwortung suche ich nicht bei den Menschen, die so denken, sondern in dem, wie das System operiert. Ganz konkret spalten die Asylgesetze die Menschen in verschiedene Kategorien auf. Jetzt kommen syrische, irakische und afghanische Geflüchtete durch die Grenzen, und alle anderen aus den Balkan- oder afrikanischen Staaten werden direkt abgewiesen. Das spaltet natürlich auch die Geflüchteten untereinander, aber immer, wenn solche Konflikte aufkommen, besinnen wir uns auf den Kontext der uns spaltenden Gesetze. Wir müssen nach oben und nicht uns gegenseitig schlagen, weil das System durch verschärfte Gesetze genau dies implementiert, nämlich daß wir uns gegenseitig an die Gurgel gehen und niemand mehr die eigentlich Verantwortlichen benennt.

SB: Man könnte auch vermuten, daß ein bestimmtes politisches Interesse dahintersteckt, jetzt nicht nur die Geflüchteten untereinander zu isolieren, sondern sie auch als Bedrohung für die arbeitende Klasse in Deutschland zu inszenieren. Unter diesen gibt es sicherlich viele, die bereit sind zu helfen, aber deren reale Existenzängste in der sogenannten Flüchtlingskrise instrumentalisiert werden.

NH: Du spielt auf Bewegungen wie zum Beispiel Pegida an, in der der kleinbürgerliche Mittelstand oder die Arbeiterklasse repräsentiert sind. Es ist dasselbe Problem, nur daß hier soziale Gesetze die Konfrontation bewirken. Natürlich gibt es eine politische Motivation des Staates, daß die Arbeiter, die eine minderwertige Rolle in der Gesellschaft spielen, und die Geflüchteten, die als Subalterne oder Lumpenproletariat ebenfalls in diese Kategorie fallen, sich untereinander bekriegen. Ich würde diesen bekloppten Pegida-Leuten am liebsten ins Gesicht sagen, hey, ihr verschwendet eure Zeit, indem ihr Geflüchtete angreift, weil das euer Problem nicht lösen wird. Euer Problem kommt von denen da oben und dorthin müßt ihr schlagen. Es ist immer dasselbe, daß die Leute dazu neigen, unter sich Stehende zu beschuldigen, zu diffamieren und zu treten, anstatt den großen Kontext zu sehen.

SB: Nadya, vielen Dank für das Interview.


Weiße Wohncontainer, davor ein Metallzaun, dahinter blattlose Bäume - Foto: © 2016 by Schattenblick

Lagertristesse im deutschen Winter 2015/2016
Foto: © 2016 by Schattenblick


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www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

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14. März 2016


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