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INTERVIEW/330: Aufbruch demokratisch - wohin soll's gehen ...    Martin Sauber im Gespräch (SB)


Über den Kapitalismus hinaus

Interview am 15. November 2016 in Hamburg



M. Sauber in Großaufnahme - Foto: © 2016 by Schattenblick

Martin Sauber
Foto: © 2016 by Schattenblick

Der Ökonom Dr. Martin Sauber ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Vertrauensdozent am Fachbereich Sozialökonomie an der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Hamburg tätig. Obwohl selbst kein Mitglied bei DiEM25, steht er doch durch seine politische Arbeit in einem engen Austausch und Kontakt mit Menschen, die in dieser paneuropäischen Bewegung zur Demokratisierung der EU aktiv sind.

Am 15. November nahm er als Podiumsdiskutant an einer von DiEM25 Hamburg in Kooperation mit dem AStA der Universität organisierten Veranstaltung teil. [1] Unter dem Titel "Die gegenwärtige Europapolitik und die Demokratisierung der EU" präsentierten Yanis Varoufakis und seine Mitstreitenden das Projekt DiEM25 an diesem Abend mit großem Erfolg, nimmt man die fast als euphorisch zu bezeichnende Stimmung im vollbesetzten Hörsaal A der Universität Hamburg zum Maßstab.

Daß dieses europaweit aufgezogene Projekt zur Demokratisierung der EU auf große Sympathie unter den Anwesenden stieß, hieß jedoch nicht unbedingt, daß es nicht auch gewisse Bedenken oder kritische Fragen gegeben hätte, wie sich unter anderem auch im Gespräch mit Dr. Martin Sauber zeigte, der sich unmittelbar nach der Veranstaltung bereit erklärte, dem Schattenblick einige Fragen zum Themenkomplex DiEM25 zu beantworten.


Schattenblick (SB): DiEM25 hat ja sehr viele prominente Aushängeschilder - Politiker, Wissenschaftler und Künstler. Inwieweit ist es eine Bewegung, die von diesen Kreisen auch getragen wird? Hat DiEM25 eine Verbindung zur Basis, die immer wieder beschworen wird?

Martin Sauber (MS): Super Frage. Ich glaube schon, daß DiEM25 Stärken hat, aber sicher auch ein paar Sachen, die ich kritisieren würde. Eine Frage wäre zum Beispiel, inwiefern DiEM25 zu einer sozial-ökologischen Transformation beitragen kann. Ich glaube, daß sie aufgrund der Prominenz - heute war ja Yanis Varoufakis hier - und den unterschiedlichen Milieus, die in der Bewegung aktiv sind, durchaus ein Agenda-Setting machen und wichtige Themen ansprechen und diskutieren kann. DiEM25 könnte eine Plattform werden, wo sich Menschen mit einem anti-nationalen, linken Schwerpunkt kennenlernen und vernetzen.

Wir haben heute auch gesehen, wie gut das organisiert war von supersmarten Leuten, die überzeugt sind, ein Stück weit dazu beizutragen, daß die Welt besser wird. Da wünsche ich ihnen viel Erfolg, und deswegen bin ich auch unheimlich gerne heute hier gewesen. Was ich eher kritisch sehe oder vielleicht auch noch zum Problem werden könnte bei einem Format wie diesem, ist, daß wir hier in einem Hörsaal der Universität sitzen, der vorne eine Bühne hat, wo wir gesessen haben, und dann die Ränge, die steil nach oben gehen. Daß die Menschen so eng in Reihen sitzen, könnte so ein bißchen als Ausdruck von Hierarchien aufgefaßt werden, wobei der Mensch, der im Publikum sitzt, vielleicht Verantwortung abgibt an die Person, die vorne steht, gerade wenn sie auch noch als Experte vorgestellt wird. Ich glaube, daß sich das beißt, daß das ein Widerspruch ist zwischen dem, was mensch erreichen möchte - eine freie Gesellschaft -, und dem Prozeß, der dann doch wieder ein Stück weit hierarchisch organisiert ist und Leute eben nicht befähigt und ermächtigt zu handeln, was meiner Meinung nach aber notwendig ist.

SB: Es wurden ja eine Reihe von Forderungen aufgestellt, die in einem Stufenplan umgesetzt werden sollen. Über welche Mittel verfügt denn DiEM25 überhaupt, diesen Forderungen Nachdruck zu verleihen?

MS: Wenn ich danach gefragt worden wäre, hätte ich eben auf der Bühne gesagt, daß ich mich nicht in der Position sehe, das zu beantworten, weil die Leute, die in dieser Bewegung aktiv sind, das selbst entscheiden müssen und sollen. Wenn Sie sich umsehen, was für Leute heute hier waren, glaube ich, daß viele von ihnen politisch aktiv sind. Sie besetzen Häuser oder organisieren Räume für kollektives Wohnen, Arbeiten und Freizeitmachen. Die Studierenden sind beim AStA aktiv, machen hier Cafés etc. Und überhaupt steht hier vor Ort in Hamburg viel auf der Agenda mit dem Hafen, mit dem Abschiebegefängnis am Flughafen und mit dem G20-Gipfel nächstes Jahr im Juli, wo die Leute schon recht genau wissen, was sie mit wem machen.

SB: Yanis Varoufakis sagt ja, er sei ein Linker, aber die Plattform DiEM25 sei explizit kein linker Entwurf, sondern ein demokratischer, an dem sich viele Leute beteiligen können, weil in dieser historischen Phase dieses breite Bündnis notwendig wäre. Kann man das so akzeptieren oder gibt es aus Ihrer Sicht dagegen auch Einwände?

MS: Das ist auf jeden Fall eine gute Frage, die wir uns stellen müssen. Yanis verweist ja auch auf die Geschichte und sagt, daß damals, in den 1930er Jahren, durch die Krise des Kapitalismus die Rechten gewonnen haben. Gleichzeitig kann mensch die Geschichte aber auch anders lesen. Wenn ich jetzt die neue Geschichte mit Trump lese, könnte ich das auch so interpretieren, daß Trump nicht gewonnen, sondern Clinton verloren hat, weil keine wirklich linke Perspektive, wie es sie vielleicht mit Bernie Sanders gegeben hat, zur Wahl gestanden hat.

SB: Der Entwurf, der heute hier vorgestellt wurde, bezieht sich auf ein Europa, das ursprünglich eigentlich ein Europa der Bürger gewesen und erst später verändert worden sei. Ist das aus Ihrer Sicht heute noch akzeptabel oder müßte man nicht auch einen ganz anderen Entwurf der Nachkriegszeit schaffen?

MS: Yanis hat das ja - zumindest in seinem Buch - anders interpretiert. Heute hat er nur kurz angesprochen, daß Europa zunächst ein nationales Ding war und auch immer noch ist und daß dieses Europa aus einer Kohle- und Stahlunion heraus gegründet wurde. Es ist also ein kapitalistisches Europa der Unternehmer zu dem Zweck, Monopolmärkte zu generieren und Profite abzuschöpfen.

SB: Man hätte heute hier den Eindruck gewinnen können, daß die EU an sich ein neutrales Gebilde wäre, um das es sich auch von linker Seite zu kämpfen lohne. Eine Frage vorhin in der Podiumsrunde lautete, warum auch die Linke diese Institution bräuchte. Wurde damit nicht einer Diskussion gerade dieser Frage vorgegriffen, weil die Antwort im Grunde schon im voraus gegeben wurde?

MS: Das ist schwierig zu beantworten. Einerseits mag ich Yanis' Position, weil er stark antifaschistisch argumentiert und sagt: Der Rückfall zu nationalstaatlichen Argumentationsmustern, den ihr auch innerhalb der Linken beobachtet, ist der falsche Weg, damit befördern wir eher faschistische Bewegungen. Deswegen müssen wir europäisch argumentieren und arbeiten. Gleichzeitig jedoch, so habe ich versucht zu argumentieren, tue ich mich schwer mit diesem Dualismus, bei dem es heißt, es gibt einerseits den Staat und andererseits den Markt. Wer marxistische Literatur oder vielleicht die Werke Gramscis liest, stößt da auf interessante Hinweise. Gramsci würde dem ja widersprechen und sagen, daß gerade diese Institutionen, diese parlamentarisch- repräsentative Demokratie eine gute Sache ist für die Kapitalisten, sich zu organisieren, ihre eigenen Widersprüche zu überwinden und die Klassen mit diesem Klassenkompromiß konsensgepanzert in den im Fordismus herrschenden Zwang einzubinden.

SB: Sie haben vorhin die Proteste vom Hambacher Forst erwähnt. Es gab auch schon die Occupy-Proteste und noch heute eine starke Bewegung gegen die Freihandelsabkommen TTIP und CETA. Eine Menge Menschen an der Basis setzen sich also zur Wehr und artikulieren ihren Protest. Warum sollte es Ihrer Meinung nach jetzt mit DiEM25 noch eine weitere Bewegung geben? Könnte sich das nicht auch als kontraproduktiv erweisen, beispielsweise, indem man sich wechselseitig die Mitstreitenden abspenstig macht?

MS: Ich glaube schon, daß DiEM durch diese Formalisierung tatsächlich ein Stück weit eine andere Verbindlichkeit herstellt für Menschen, die etwas machen wollen, wobei sie sich wohler fühlen können. Ich kann mir vorstellen, daß sich im Hambacher Forst nicht jede Person wohlfühlt, weil sie eine andere Geschichte und andere Erfahrungen gemacht hat - sei es politisch, beruflich oder aus einem anderen Milieu heraus -, und daß DiEM25 durchaus einen wichtigen Beitrag leisten kann, um kommunikative Diskurse zu beeinflussen in einer Art und Weise, die den Leuten, die jetzt schon aktiv sind oder sich in anderen Feldern engagieren, noch mehr Möglichkeiten gibt.

SB: Bei den Debatten heute fiel auf, daß so etwas wie eine ökonomische Diskussion gesellschaftlicher Widersprüche relativ ausgespart wurde. Es wurde sehr viel über Institutionen und über Regierungshandeln auch der EU gesprochen, aber das Moment der Produktionsweise zum Beispiel kam kaum zur Sprache. Halten Sie das für ein für DiEM25 typisches Phänomen?

MS: Ich habe ja versucht, diese Kontroverse tatsächlich ein Stück weit aufzugreifen, indem ich in meiner Analyse betont habe, daß wir eine ganz besondere Wirtschaftsgesellschaft haben - nämlich eine kapitalistische -, daß der innerhalb des Kapitalismus vorherrschenden Logik die Ausbeutung von Mensch und Natur inhärent ist und daß die Akteure, die dort über Macht und Eigentum verfügen, alles daransetzen werden, um eine sozial-ökologische Transformation zu verhindern. Ich korrigiere mich ein Stück weit in dem letzten Punkt. Das trifft nicht auf alle zu, weil die Kapitalfraktion ja auch nicht homogen ist und es in ihr sehr wohl Akteure gibt, die von der sozial-ökologischen Transformation im Gesundheitsbereich oder in den neuen grünen Branchen profitieren. Gleichzeitig aber gibt es andere, die viel zu verlieren haben, so wie bei der Braunkohle zum Beispiel, und die alles dagegen tun, daß sich da irgendetwas ändert.

SB: Sie haben vorhin in Ihrem Wortbeitrag konkret auch das Privateigentum angesprochen. Kommt dieser Themenaspekt in den Diskussionen nicht viel zu kurz?

MS: Oh ja. Wenn ich sage, daß ich eine sozial-ökologische Transformation möchte, in der Braunkohle für die Energieproduktion keine Rolle mehr spielen darf, ist es ein Problem, wenn sich das Kohlekraftwerk in privatem Eigentum befindet. Deswegen muß ich das ansprechen. Dann klingt die Systemfrage zwar immer noch recht abstrakt, aber gerade so bei konkreten Sachen wie dem Hamburger Flughafen und den ganzen Sicherheitsfirmen, die jetzt aufkommen, wird das ziemlich greifbar. Ich glaube, daß wir auch außerhalb der Universität viele Leute überzeugen können, wenn wir nicht auf diesem theoretisch-abstrakten Niveau argumentieren, sondern ganz konkret vor Ort klarmachen, wer mit welchen Interessen wie und wo handelt.

Das sieht man in Hamburg zum Beispiel auch ganz gut bei der Gentrifizierung, wenn öffentliche Grundstücke an private Investoren verkauft werden, die Profit machen wollen. Das ist dann das Maß der Dinge, dann gelten die Bedürfnisse der Menschen vor Ort im Stadtteil nichts mehr. Dann ist es auch egal, wenn auch noch der letzte Spielplatz plattgemacht und eine Netto-Kaltmiete von 14 Euro verlangt wird. Ich glaube, daß wir die Menschen bei so ganz konkreten Sachen vor Ort, wo sie im Alltag diese Erfahrungen machen, erreichen können auch mit erst einmal abstrakt klingenden Begriffen wie der Eigentumsfrage und dem System des Kapitalismus.

SB: Bei DiEM25 wird ja auch eine grüne Ökonomie angesprochen. Was ist damit genau gemeint? Welche Kriterien müßten da angelegt werden, damit man dabei nicht einfach nur einen Grünen Kapitalismus favorisiert?

MS: Wenn mit dem Green New Deal, also dem Grünem Kapitalismus, ein "Weiter so wie bisher" nur mit einem grünen Anstrich gemeint ist, kommen wir aus dieser Wachstumslogik nicht heraus. Das geht dann nicht auf, weil die Wachstumslogik innerhalb des Kapitalismus einen starken Drive hat. Wir sind dann zwar vielleicht "grüner" und können ganz partikular auf der Mikroebene auch etwas erreichen, aber im Gesamtsystem werden dann immer noch mehr Ressourcen verbraucht und wird noch mehr CO² ausgestoßen, so daß sich die ökologische und die Klimakrise noch weiter zuspitzen. Das ist also eine Illusion. Wenn DiEM25 da aufspringen sollte, ist das sicher der falsche Weg.

SB: Haben Sie noch ein Schlußwort zum heutigen Abend?

MS: Mein Fazit war ja: beyond europe, beyond capitalism und beyond parlamentarisch-repräsentative Demokratie [2], und mit dem kann ich auch jetzt abschließen.

SB: Herr Sauber, wir bedanken uns für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] Siehe auch die weiteren Beiträge zu der Veranstaltung im Schattenblick unter www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
BERICHT/252: Aufbruch demokratisch - kleinster Nenner ... (SB)
INTERVIEW/329: Aufbruch demokratisch - Rechtsruck verhindern ...    Sören Altstädt im Gespräch (SB)

[2] Frei übersetzt würde dies in etwa bedeuten: über Europa, den Kapitalismus und die parlamentarisch-repräsentative Demokratie hinaus(gehend).

23. November 2016


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