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INTERVIEW/359: Gegenwartskapitalismus - selbstbestimmt und regional ...    Salih Muslim im Gespräch (SB)


Salih Muslim ist Kovorsitzender der Partei der Demokratischen Einheit (Partiya Yekitîya Demokrat - PYD). Sie wurde 2003 gegründet und verfolgt in den mehrheitlich von Kurden bewohnten Kantonen Nordsyriens, in denen unter dem Namen Rojava ein Modell der autonomen Selbstverwaltung entwickelt wurde, die Politik des Demokratischen Konföderalismus. Muslim teilt sich den Parteivorsitz mit Asya Abdullah [1] aufgrund des Prinzips der Geschlechtergerechtigkeit, nach dem auf allen institutionellen Ebenen Rojavas gleichberechtigte Strukturen geschaffen wurden. Auf der Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern III", die vom 14. bis 16. April an der Universität Hamburg stattfand, beantwortete der 1951 in der Nähe des nordsyrischen Kobani geborene und von der syrischen Regierung mehrfach aus politischen Gründen inhaftierte und gefolterte Salih Muslim dem Schattenblick einige Fragen.



Im Gespräch - Foto: © 2017 by Schattenblick

Salih Muslim
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Der Aufstand in Syrien hat den nordsyrischen Kurden die Möglichkeit verschafft, sich unabhängig von Damaskus selbst zu organisieren. Wie sehr hängt die Existenz Rojavas von der weiteren Existenz des Staates Syrien ab?

Salih Muslim (SM): Unser erster Aufstand gegen das Regime fand 2004 statt. Seitdem befanden wir uns im Kampf mit dem syrischen Regime. Die syrische Revolution gab uns die Gelegenheit, uns gegen das Regime zu organisieren. Wir wollten von Anfang an ein demokratisches und dezentralisiertes Syrien, in dem wir unser eigenes Projekt der demokratischen Selbstverwaltung verwirklichen konnten. Jetzt haben wir mit dem demokratischen Föderalismus ein Projekt für ganz Syrien, ein Modell für die Dezentralisierung Syriens. Seit dieses Modell Realität geworden ist, brauchen wir keinen separaten Staat oder anderen Status, weil wir uns als Teil Syriens verstehen. All unsere Aktivitäten und sogar unser Kampf sind dem Vorhaben gewidmet, eine demokratische Föderation in ganz Syrien mit arabischen und anderen Teilnehmern zu etablieren. Darauf bestehen wir weiterhin. Das ist unser Projekt für die Zukunft Syriens.

SB: Welche Rolle spielen äußere Kräfte wie die USA, Rußland und die Türkei für die Zukunft Syriens in Ihrem Sinne?

SM: Wir glauben, daß die Ursache dieser Einmischung im syrischen Regime liegt. Es hat sich geweigert, das Problem auf demokratische Weise zu lösen. Es weigerte sich, auf die Forderungen des syrischen Volkes einzugehen. Als sich äußere Kräfte wie Saudi-Arabien, die Türkei und andere einmischten, nutzten sie syrische Oppositionsgruppen, um den Sturz des Regimes voranzutreiben und all diese Fehler zu begehen, für die auch der Iran verantwortlich ist, der das Regime unterstützt hat. Dieser Kampf wurde um die Übernahme der Macht im Land geführt. Aber das ist nicht unser Ziel. Alles in Syrien bedarf grundlegender Veränderungen, das gilt auch für das Regime. Letztendlich liegt die Entscheidung bei der Bevölkerung Syriens, sie sollte entscheiden.

Wir sind natürlich nicht gegen Rußland, die USA oder andere. Sie befinden sich in Syrien, um bestimmten Gruppen zu helfen. Wenn diese Gruppen zusammenkommen und sich auf die Zukunft Syriens verständigen, sollten sich die anderen Gruppen meiner Ansicht nach nicht in diesen Prozeß einmischen. Ich meine insbesondere Regionalmächte wie die Türkei, Saudi-Arabien und Katar. Wenn die Syrer untereinander einig werden, wie sie sich regieren und ein neues Syrien errichten wollen, wird es ihre Entscheidung sein. Ohnehin behauptet jede Partei, daß der syrischen Bevölkerung schlußendlich die Entscheidungshoheit zukommt. Wir hoffen, daß sie dies ehrlich meinen.

SB: Die Eziden in Sengal scheinen sich an Rojava zu orientieren, indem sie ein ähnliches Modell der Selbstverwaltung und Selbstverteidigung schaffen. Zeichnet sich damit bereits die Ausweitung des in Rojava praktizierten Modells des demokratischen Föderalismus ab?

SM: Ja, wir glauben, daß unser Modell für den ganzen Mittleren Osten geeignet ist, nicht nur für die Eziden. Aber die Eziden waren in besonderer Weise von der Entwicklung in der Region betroffen. Die Eziden in Sengal wurden angegriffen und umgebracht. Wenn sie also sagen, daß dieses System für sie im Rahmen eines vereinigten Iraks funktioniert, dann sollte das kein Problem darstellen. Es liegt an ihnen, darüber zu befinden. Aus unserer Sicht eignet sich dieses Modell nicht nur für die Eziden, sondern für Syrien, für Ninive und all die Provinzen, in denen verschiedene Gruppen gegeneinander kämpfen. Alle Menschen sollten in der Lage sein, sich im Rahmen einer demokratischen Selbstverwaltung zu organisieren.

SB: Was ist Ihrer Ansicht nach wichtiger: Die innerkurdische Einheit oder die demokratische Lösung aller Probleme des Nahen und Mittleren Ostens?

SM: Kurdistan ist durch vier Staaten geteilt. Und jeder Teil hat seine eigenen Vorstellungen für die Bewältigung dieser Situation entwickelt. Wir glauben, daß jeweils eigene Lösungen für die auf diese Länder verteilten kurdischen Bevölkerungen angestrebt werden sollten. Die Kurdinnen und Kurden im Iran sollten sich mit der iranischen Regierung darüber verständigen, wie die Lage in ihrem Sinne zu bewältigen ist. Das gleiche gilt für den Irak, Syrien und die Türkei. Darüberhinaus sollte eine Art von Koordination zwischen allen Teilen erfolgen, denn wir sind eine Nation. Wir sollten uns auf politischer Ebene koordinieren und solidarisch zeigen, was bedeutet, daß wir eine Institution wie einen Nationalkongreß für alle Kurden haben sollten. Einfach, um sich auf solidarische Weise als Nation zu koordinieren, während jeder Teil die Entscheidungen der Bevölkerung in den anderen Ländern respektiert. Vielleicht werden sich irgendwann alle Kurdinnen und Kurden auf solidarische Weise miteinander abstimmen.

Dabei mischen wir uns nicht in die Lösung der Probleme im Iran ein, denn dort ist die kurdische Bevölkerung selbst in der Lage, sich mit der Regierung in Teheran zu arrangieren. Auch die Kurdinnen und Kurden in der Türkei können selbst über Lösungen für ihre Situation befinden. Aber die Türkei sollte sich in Syrien nicht in unsere Angelegenheiten einmischen. Dazu hat niemand das Recht. Solidarität ist etwas anders. Einige Kurdinnen und Kurden aus anderen Ländern sind bei der Verteidigung von Kobani gefallen. Das ist eine Form von Solidarität, gegen die niemand etwas haben kann. Aber letztendlich wird die Bevölkerung Rojavas darüber befinden, was zu tun ist. Das ist unsere Vorstellung von der Zukunft. Jede Bevölkerung kümmert sich um ihre eigene Lösung, und jede Lösung, die sie mit der Zentralregierung ihres Landes erreichen, werden wir respektieren.

SB: Was würden Sie der deutschen Regierung empfehlen, um die Situation der Kurdinnen und Kurden, die in der Bundesrepublik mit repressiven Maßnahmen zu rechnen haben, zu verbessern?

SM: Wir bitten die hier lebenden Kurdinnen und Kurden immer, sich in Deutschland zu engagieren, in der Bevölkerung, den Institutionen und Parteien, um effizient und hilfreich zu sein. Das gilt in dieser Zeit auch für die globale Bedrohung des Terrorismus, dessen Bekämpfung auch auf globaler Ebene erfolgen sollte. Wir wissen, wie man gegen diese terroristischen Gruppen kämpft, und man sollte auch gegen die Staaten vorgehen, die sie unterstützen. Bei den jüngsten Anschlägen in London und anderen Orten kamen die Terroristen aus der Türkei, und sie wurden auch dort ausgebildet. Offensichtlich gibt es keine klaren Leitlinien, wie gegen diese Terroristen vorzugehen ist. Ich glaube, diese Terroristen sind vor allem Werkzeuge in den Händen anderer.

Wir sind gegen diese Terroristen, wir sind auch dagegen, daß die Türkei Flüchtlinge dazu benutzt, um Druck auf die Bundesrepublik und die EU auszuüben. Wir beklagen uns darüber, daß man nicht besser mit der kurdischen Bevölkerung in Rojava zusammenarbeitet, daß es keinen direkten Kontakt mit dem Ziel gibt, sich gegen die terroristischen Gruppen und die Akteure, die sie unterstützen, zusammenzuschließen und solidarisch miteinander vorzugehen. Diese Zusammenarbeit kann gar nicht eng genug sein, um Wirkung zu zeigen.

SB: Herr Muslim, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnote:

[1] INTERVIEW/254: Kurdischer Aufbruch - Volksbefreiung, Selbstbefreiung ...    Asya Abdullah im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0254.html


Beiträge zur Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern III" im Schattenblick unter:
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8. Mai 2017


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