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INTERVIEW/361: Gegenwartskapitalismus - widerstands- und linksübergreifend ...    Miguel Juaquin im Gespräch (SB)



Miguel Juaquin studiert Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und hat sich in letzter Zeit insbesondere mit antikolonialen Theorien, marxistischer Staatstheorie und der marxistischen Analyse des zeitgenössischen Rassismus befaßt. Er ist aktiv in politischer Bildungsarbeit und Organisierung in Berliner Migrantengruppen.

Auf der Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern III", die vom 14. bis 16. April an der Universität Hamburg stattfand, hielt Miguel Juaquin in der Session III - "Wege, das Neue aufzubauen und zu verteidigen" einen Vortrag zum Thema "Stufen der Befreiung: Kurdistan und das Fanonsche Konzept der antikolonialen Revolution". [1] Darin arbeitete er Übereinstimmungen zwischen der Theorie Frantz Fanons zur antikolonialen nationalen Befreiung und dem Entwurf Abdullah Öcalans zur kurdischen Freiheitsbewegung heraus. Zudem regte er zu einem konstruktiven Dialog zwischen diesen beiden Ansätzen und älteren Formen revolutionären Denkens wie dem Marxismus an.

Am Rande der Konferenz beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zu seiner Auseinandersetzung mit Fanon und dem Marxismus, zu der Bedeutung des letzteren für den demokratischen Föderalismus, zum Paradigmenwechsel der kurdischen Freiheitsbewegung und zu den Widersprüchen zwischen Traditionsmarxisten und Anarchisten.


Im Gespräch - Foto: © 2017 by Schattenblick

Miguel Juaquin
Foto: © 2017 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Frantz Fanon und seine Theorie des antikolonialen Befreiungskampfes waren vor Jahren nicht nur unter Linken geläufig. In jüngerer Zeit ist das offenbar weniger oder unter anderen Vorzeichen der Fall. Wie bist du denn auf ihn gestoßen?

Miguel Juaquin (MJ): Auf Fanon gestoßen bin ich wie viele Leute der jüngeren Generation, die jetzt anfangen, Politik zu machen, nämlich über seine Schriften zum Kolonialismus und Rassismus, die heutzutage aber eher aus einer antirassistischen Ecke rezipiert werden, die vom Marxismus ziemlich entfremdet ist. Bei mir lief das hingegen parallel, denn ich habe Fanon als einen der bekannteren Autoren entdeckt, bei denen diese Trennung natürlich gar keinen Sinn macht. Es ist interessant zu untersuchen, inwiefern der Kolonialismus und daran gebunden auch der Rassismus mit dem kapitalistischen Produktionssystem zusammenhängen, und diese verschiedenen Themen auch mit marxistischer Theorie zu begreifen, aber auch zu ergänzen. Damals erwies sich für mich die Zusammenführung von marxistischer Theorie, von Revolutionstheorie, mit einer Erweiterung der Perspektive auf antikoloniale Kämpfe als sehr fruchtbar.

SB: Wie kam es, daß du dich mit dem Marxismus auseinandergesetzt hast, was ja heutzutage auch nicht mehr selbstverständlich ist?

MJ: Im Grunde ging zu der Zeit eines mit dem anderen einher. Als ich mich mit Frantz Fanon und anderen Autoren beschäftigte, die als marxistische Theoretiker in antikolonialen Kämpfen aktiv waren, lernte ich den Marxismus als eine Theorie kennen, die in solchen Kämpfen vor allem in den 50er, 60er, 70er Jahren sehr präsent war, was heute nicht mehr so bekannt ist. Viele Menschen, die heute antirassistische Politik machen, was ja eine Art Ausläufer der früheren Auseinandersetzung ist, führen diese Ideologie nicht mehr in ihren Reihen. Ich finde es aber wichtig, daran anzusetzen und zu überlegen, inwiefern wir Fanon weiterdenken und seine Analyse neokolonialer Verhältnisse auf die heutige Situation anwenden und uns mit Rassismus in der deutschen Gesellschaft unter Anwendung marxistischer Begriffe auseinandersetzen können und nicht diese Trennung von antirassistischen und ökonomischen Kämpfen vornehmen.

SB: Manche Kritiker des demokratischen Föderalismus attestieren ihm eine grundsätzliche Abkehr vom Marxismus. Trifft diese Einschätzung aus deiner Sicht zu?

MJ: Ich finde, nicht. Meines Erachtens haben viele Kritiken auch hier auf der Konferenz, die sich gegen den Marxismus richten, ein sehr simplifiziertes Bild von dem, was Marxismus angeblich ist, und führen gewissermaßen eine marxistische Kritik gegen den Marxismus ins Feld. Ich glaube, das beruht auf einem falschen Verständnis dessen, was Marxismus ist. Für mich sind die verschiedenen Analyseebenen von Marx wichtig, auf die sich auch viele Anarchistinnen stützen können und die in der kurdischen Bewegung durch den Paradigmenwechsel Ende der 90er Jahre sehr prominent geworden sind. Das Problem hierbei ist aber, daß das eine Verständnis von Marxismus, nämlich Klassenkampf, was ja auch nicht von Marx selber kam, sondern schon älter war, ausgespielt wird gegen ein anderes marxistisches Verständnis, das auch nicht von ihm selber kam. Er hat vielmehr diese verschiedenen Ebenen verbunden und gezeigt, inwiefern das kapitalistische System, die bürgerliche Gesellschaft, in verschiedenen Widersprüchen steckt, nämlich einerseits dem Klassengegensatz und andererseits dem Widerspruch zwischen Staat und Gesellschaft und wie diese verschiedenen Ebenen miteinander vermittelt sind. Deshalb glaube ich, daß die Abkehr vom Klassenkampf oder zumindest von der Rhetorik des Klassenkampfs in der kurdischen Bewegung ein Problem ist. Es gibt auch hier immer noch viele Genossinnen, bei denen das nicht der Fall ist, und soweit ich weiß, werden innerhalb der Bewegung Debatten darüber geführt. Ich war jedenfalls ganz froh darüber, daß es auch auf dem Podium verschiedene Stimmen gab, die solidarisch-kritische Signale in Richtung der Genossinnen der kurdischen Bewegung geschickt haben, daß sie diesen Bestandteil des Kampfes nicht vergessen sollten.

SB: Auf dem Kongreß sind einige Menschen vertreten, die viele Jahre des Kampfes hinter sich und teils lange im Gefängnis gesessen haben. Andererseits sind zahlreiche junge Leute zugegen, für die diese Bewegung auf eine andere Art aktuell ist. Gibt es da aus deiner Sicht eher Widersprüche oder doch eine Brücke zwischen den Generationen?

MJ: Die ältere Generation ist offensichtlich noch viel vertrauter mit dem alten Paradigma, wie sie es nennen, dem Marxismus-Leninismus, zum Teil auch Marxismus-Leninismus-Maoismus, der damals mehr oder weniger die Parteiideologie war. Das ist spätestens seit dem Paradigmenwechsel, der jetzt aber auch schon fast 20 Jahre her ist, eben nicht mehr das Programm. Insofern kommen viele junge Aktivistinnen in der Bewegung damit nicht mehr so in Berührung, es sei denn, sie sind in einer politischen Familie aufgewachsen. In dieser Hinsicht kann das schon zu ideologischen Konflikten führen, was aber okay ist, weil die Bewegung ja genau das propagiert, daß innerhalb der Bewegung und in der Gesellschaft Auseinandersetzungen geführt werden sollen. Ich habe gleichzeitig auf der Konferenz mit verschiedenen jungen kurdischen Aktivistinnen gesprochen, die wiederum als Reaktion auf die fehlende Diskussion über ökonomische Grundlagen in der aktuellen Ideologie der Bewegung selber anfangen, kritische Nachfragen zu stellen oder zu bemängeln, daß konkrete Analysen und Kritiken an ökonomischen Verhältnissen nicht nur in Kurdistan, sondern auch in Deutschland fehlen, obgleich sie dringend erforderlich wären.

SB: In Deutschland gab es stets den Widerspruch zwischen Traditionsmarxisten und Anarchisten, der teilweise bis zur Todfeindschaft ging. Wie würdest du das sehen - ist dieser Konflikt heute noch relevant oder überwiegt inzwischen die Zusammenarbeit in bestimmten Fragen?

MJ: Ich finde es wichtig, daß die verschiedenen revolutionären Traditionen das Gemeinsame betonen, weil es auf jeden Fall überwiegt, und sehr fruchtbar ist, auch wenn es hitzige Diskussionen gibt, in denen die Unterschiede aufeinanderprallen. Ich habe oftmals das Gefühl, daß sich viele Leute zu schade dafür sind oder sich nicht trauen, diese Unterschiede hervorzuheben, obwohl das doch spannende Diskussionen sein könnten. Dann reduziert sich das häufig auf eine rein identitäre Auseinandersetzung, Marxisten gegen Anarchisten beispielsweise, die aber für sich genommen nichts aussagt. Meines Erachtens sollte der Inhalt hervorgehoben werden und das bedeutet, daß auf beiden Seiten folgendes konkret gemacht werden sollte: Worum geht es uns, was ist unser Ziel, was sind unsere Kritiken, wo gehen unsere Strategien auseinander? Darüber werden dann auch Räume geöffnet, beispielsweise von seiten von Marxistinnen, die eingestehen, daß Anarchistinnen tatsächlich in der Praxis viele Dinge entwickelt haben, die auch für marxistische Praxis sehr inspirierend sein können, und umgekehrt Anarchistinnen lernen können - das sind so meine Beobachtungen aus der Praxis -, daß oftmals in marxistischen oder kommunistischen Gruppen mehr Wert darauf gelegt wird, stärkere Strukturen zu schaffen, die in der Lage sind, eine breitere Organisierung der Gesellschaft möglich zu machen, wo der Anarchismus, der in Deutschland sehr individualanarchistisch geprägt ist, oftmals zu kurz kommt.

SB: Du bist angehender Wissenschaftler, aber auch Aktivist. Wie verträgt sich das?

MJ: Mir geht es insbesondere darum, nicht nur Theoriearbeit zu betreiben. Das ist natürlich schon für sich genommen nicht einfach, weil der Universitätsbetrieb heutzutage uns alle dazu zwingt, unsere gesamte Zeit, wenn wir nicht überdies noch parallel lohnarbeiten müssen, in das Studium reinzustecken, wo die Inhalte sehr stark durch eine bürgerliche und staatliche Ideologie geprägt sind. Ich denke aber, daß es eine Verantwortung von Wissenschaftlerinnen gibt, und das betrifft nicht nur fertige Professorinnen oder Dozentinnen an den Universitäten, sondern auch die Studierenden selbst - ich studiere ja auch noch. Ihre Verantwortung als Intellektuelle, die Zugriff haben auf Bibliotheken, auf Bücher, die sie gelesen haben, auf Diskussionen, die leider an anderen Orten nicht geführt werden, besteht darin, dieses Wissen der Gesellschaft zugänglich zu machen. Und auch wenn das noch sehr abstrakt klingt, müßte es zumindest bedeuten, daß sich die Menschen, die sich an der Universität in politischen Auseinandersetzungen befinden, organisieren, sei es an der Universität oder außerhalb, um einen Weg zu finden, ihre Kritik - und es gibt sehr viele Menschen, die kritisch denken - in der Praxis daraufhin zu testen, ob sie denn wirklich von Wert ist. Das ist das große Manko vieler Studierender, für die Kritik einen hohen Stellenwert hat, daß sie das selten in der Praxis ausprobieren, was es bedeutet, wirklich ein kritischer Mensch zu sein.

SB: Miguel, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnote:

[1] Siehe dazu:
BERICHT/266: Gegenwartskapitalismus - eine antiimperiale Befreiungspraxis ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0266.html


Beiträge zur Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern III" im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/262: Gegenwartskapitalismus - den Droh- und Vernichtungswuchten revolutionär entgegen ... (SB)
BERICHT/264: Gegenwartskapitalismus - für Kurden und für alle Menschen ... (SB)
BERICHT/265: Gegenwartskapitalismus - wie ich dir ... (SB)
BERICHT/266: Gegenwartskapitalismus - eine antiimperiale Befreiungspraxis ... (SB)
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12. Mai 2017


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