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ALTER/181: Vom Abstellgleis in die Demenzschleife (planet)


planet - ZEITUNG DER GRÜNEN BILDUNGSWERKSTATT # 59
OKTOBER-NOVEMBER 2009

Vom Abstellgleis in die Demenzschleife

Von Herbert Langthaler


Persönliche Betroffenheit, die Endlichkeit unseres Daseins und der Druck demographischer Entwicklungen brachten ein Tabuthema in die Schlagzeilen: Pflege im Alter. Jedermann und jedefrau haben dazu ihre persönliche Geschichte.


Ich kann mich erinnern, wie ich auf Spaziergängen in meiner Heimatgemeinde manchmal den Garten des örtlichen Altersheimes durchqueren musste. Der Anblick der alten Menschen, die eingehüllt in Decken in ihren Sesseln in der Sonne saßen, hat mich damals zutiefst erschreckt. Es waren weniger die eingefallenen zahnlosen Münder und von hunderten Falten zerfurchten Gesichter, als die Stille, die dort herrschte. Jede Kommunikation schien erstorben.

Wenn ich heute meine Mutter im Pflegeheim der Caritas Socialis um die Ecke besuche, tue ich das mit heiterer Gelassenheit. Die schwer dementen PatientInnen, die in ihren Rollstühlen an den Tischen sitzen, sind zwar auch nicht die Golden Girls, aber ich habe gelernt an ihre Welt von Wiederholungen, Erinnerungsfetzen aber auch sehr unmittelbaren Bedürfnissen nach körperlicher Nähe für die Zeit meiner Besuche anzudocken. Ich erschrecke auch nicht mehr, wenn meine Mutter nach einer halben Stunde fragt, wer ich bin und warum ich so freundlich sei.


Ängste und Tabus

Kaum ein Feld der Sozialpolitik ist so mit Emotionen, Ängsten und Tabus besetzt wie die Altenpflege. Die Entscheidung wo und unter welchen Umständen jemand die letzten Jahre seines oder ihres Lebens verbringt, erweist sich als schwieriger Parcours zwischen Selbstbestimmung und Verantwortung, angstbesetzten Bildern und nüchternen Überlegungen, bürokratischen Hürden und engagiertem Dienstleistertum.

Dabei hat sich in den vergangenen Jahren einiges verändert. Niemand kann sagen, das Thema werde verdrängt. Dafür sorgen nicht nur die steigende Lebenserwartung und die damit verbundene Tatsache, dass fast jeder und jede irgendwann mit den Problemen pflegebedürftiger Angehöriger konfrontiert ist, auch die mit Pflege, Finanzierung und Durchführung befassten Institutionen und Berufsgruppen gehen verstärkt an die Öffentlichkeit. An Plakatwänden werden Alzheimer, Demenz und Sterben in Würde thematisiert, im Architekturzentrum Wien läuft die Ausstellung "Ich wohne, bis ich 100 bin", Webseiten wie www.geronto.at bieten Projekte, Infos und News zu Altenpflege und die Caritas veranstaltet einen Pflegetag.


Wendepunkt Pflegeskandal

Ein für den Beginn von Reformen und öffentlicher Debatte zentrales Ereignis waren die Skandale im städtischen Wiener Pflegeheim Lainz - inzwischen, wohl um die Schmach zu tilgen, in "Geriatriezentrum am Wienerwald" umbenannt. Dort hatten zwischen 1983 und 1989 Krankenschwestern dutzende PatientInnen ermordet, ohne dass danach an den die Verbrechen begünstigenden Umständen tiefgreifende Reformen durchgeführt wurden. Im Juli 2003 wurden bei unangemeldeten Erhebungen der Aufsichtsbehörde haarsträubende Missstände konstatiert. Personalmangel (70 Planposten konnten nicht besetzt werden) in der mit 2.000 Menschen - von denen 1.300 in Achtbettzimmern lagen - größten derartigen Einrichtung, führte dazu, dass die PatientInnen ungewaschen in ihren Betten lagen, Finger- und Fußnägel waren nicht geschnitten, das Haar ungewaschen. Um Personal zu sparen, war der Tag um 15 Uhr zu Ende, die PatientInnen wurden, wie es die Grüne Gesundheitssprecherin Sigrid Pilz bezeichnete, "ins Bett gepflegt": Immobilität, Schlafstörungen, Inkontinenz nahmen zu, statt durch Therapien bekämpft zu werden.

Der darauf folgende Untersuchungsausschuss brachte die katastrophalen strukturellen Mängel, das Wegschauen der Kontrollinstanzen und die Untätigkeit der politisch Verantwortlichen ans Tageslicht. Die Wiener Grünen, vor allem in Person von Sigrid Pilz, waren eine treibende Kraft bei der Neuordnung des Pflegebereichs in Wien(1).


Daheim oder im Heim?

Durch die notwendige Skandalisierung ist ein Bild von stationärer Pflege entstanden, das, auch dazu geführt hat, dass niemand seine Angehörigen "ins Heim" geben will. Dazu kommen die wirtschaftlichen Interessen der öffentlichen Körperschaften: Häusliche Pflege ist kostengünstiger als das Betreiben von Pflegeheimen mit zeitgemäßem Standard. Dabei ist Pflege-rund-um-die-Uhr nur unter bewusster Inkaufnahme prekärer und teilweise illegaler Arbeitsverhältnisse durchführbar. Bei Formen mobiler Pflege lassen sich Qualitätsstandards schwer kontrollieren, andererseits sind Arbeitsbedingungen und Bezahlung in diesem Bereich wesentlich schlechter als im stationären Bereich. Da acht Stunden mobile Pflege am Tag kaum durchhaltbar sind, sind hier die meisten PflegerInnen teilzeitbeschäftigt und leiden an der Dichte des abzuwickelnden Arbeitspensums, während die KollegInnen in den Pflegeheimen zwischendurch ruhige Phasen haben, was auch den PatientInnen zugute kommt.

Viele Menschen nehmen die Pflege ihrer Angehörigen in eigene Hände, weil sie den (Groß)Eltern ermöglichen wollen in vertrauter Umgebung zu bleiben, oder weil es schlicht und einfach keine Pflegeeinrichtung in der Region gibt. Ein Grund mag auch sein, dass ein Zugriff der öffentlichen Hand auf das Eigenheim oder Sparbuch befürchtet wird, wenn die Pflegekosten Pension und Pflegegeld der zu Pflegenden übersteigen.


Bundesweite Standards

Das Resultat ist, dass österreichweit immer noch 80 Prozent der Pflegebedürftigen von der Familie (meistens von Frauen) gepflegt werden. Wie Johannes Wancata, Demenzexperte am Wiener AKH, beim heurigen Pflegetag der Caritas erklärte, fühlen sich zwei Drittel jener Menschen, die Angehörige pflegen, ausgebrannt, mehr als die Hälfte ist selbst krank und ein Viertel habe mit finanziellen Belastungen zu kämpfen.

Hier setzen NGOs und Grüne an, die ein umfassendes, bundesweites Pflegekonzept fordern, das leistbare, an die Bedürfnisse von zu Pflegenden und ihren Angehörigen angepasste professionelle Unterstützung bei der häuslichen Pflege beinhaltet.

In Wien hat sich die Gemeinde inzwischen durchgerungen, ein völlig neues Pflegekonzept, hin zu pflege- und behindertengerechten Wohneinrichtungen, umzusetzen. Die Standards, die nun für städtische Einrichtungen gelten, müssen auch von allen privaten Trägern umgesetzt werden.

Zentral dabei ist, neben ausreichendem und durch Anerkennung und bessere Arbeitsbedingungen motiviertem Personal, der architektonische Rahmen. Bei einer Exkursion des Architekturzentrums Wien konnte man jüngst besichtigen, wie Pflege im 21. Jahrhundert ausschauen kann: etwa die Baustelle des Geriatriezentrums Leopoldstadt. Hier werden aus der Erfahrung der Pflege entwickelte Details umgesetzt. Gänge und Aufenthaltsräume sind als bewohnbarer öffentlicher Raum konzipiert, die nach der Idee "Haus im Haus" konzipierten drei bis vier Zimmer umfassenden Einheiten in freundlichen Farben gehalten, viel Glas und Loggien ermöglichen Ausblicke auf das Leben "draußen". Dabei ist höchstmögliche Intimität durch Einzelzimmer gewahrt. Zentren wie diese sollen als Ersatz für die alten Pflegeburgen dezentral in ganz Wien entstehen: kleine Einheiten in gewohnter Wohnumgebung.

Meine Mutter genießt bereits ähnliche Standards und fühlt sich offensichtlich wohl. Dass sie, wenn schon nicht in ihrer gewohnten Umgebung so doch in unserer Nähe lebt, sollte dazu führen, dass ich sie öfter besuchen kann. Aber die Bedürfnisse der Pflegebedürftigen und der im Berufsleben stehenden Angehörigen sind schwer zu vereinbaren - und so schaffe ich es doch nicht öfter als ein höchstens zweimal die Woche, weil ich zum Beispiel an Artikeln wie diesem sitze.

http://mxl.fcp.at/fcp/de/projekte/detail.jsp?Pl=363
http://www.sozial-global.at/de_at/news/welt-der-pflege/5

(1) Die lesenswerte Chronologie vom Skandal Lainz II bis zur Verabschiedung des Pflegeheimgesetzes auf
http://wien.gruene.at/pflegeskandal_lainz/u_kommission/


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Quelle:
planet - Zeitung der Grünen Bildungswerkstatt # 59,
Oktober-November 2009, S. 13
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Oktober 2009