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ARBEIT/492: Die deutsche Tariflandschaft verödet (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 25 vom 22. Juni 2012
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Die deutsche Tariflandschaft verödet
Betriebliche Interessenvertretung und Tarifbindung sind rückläufig

von Manfred Dietenberger



Inzwischen ist es eine Binsenwahrheit, dass die Arbeitsbedingungen und Löhne in der Hotel- und Gaststättenbranche in der Bundesrepublik besonders mies sind. "Obwohl es zum Beispiel für das Hotel- und Gaststättengewerbe in Bayern Tarifverträge gibt, in denen eine Wochenarbeitszeit von 39 Stunden und Stundenlöhne deutlich oberhalb der Niedriglohnschwelle (9,26 Euro) vereinbart sind, werden in der Branche extrem viele Menschen zu Niedriglöhnen beschäftigt," stellte Anfang Juni 2012 zum Beispiel Hans Hartl, Landesbezirksvorsitzender der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) fest. "Die Arbeitgeber halten sich häufig nicht an die Tarifverträge oder begehen Tarifflucht", so der NGG-Funktionär weiter.

Das Fehlen von Tarifbindung und betriebsrätlicher Interessenvertretung wirkt sich auch bundesweit besonders drastisch für die prekär Beschäftigten von Discountern, von Betrieben der Gebäudereinigung und eben wie gezeigt im Gastgewerbe aus. Also genau in solchen Branchen, in denen aber eine effektive Interessensvertretung besonders von Nöten wäre, existieren nur in Ausnahmefällen Betriebsräte. Das hat neben dem Rückzug der Gewerkschaften aus der Fläche und anderen, von den Gewerkschaften selbst zu verantwortenden Fehlern, auch damit zu tun, dass über ein Jahrzehnt lang in den Medien über fast alles geschrieben wurde, aber so gut wie gar nichts über die Gewerkschaften. Wenn ausnahmsweise doch, war der Tenor alles andere als positiv. Öffentlich, sogar öffentlich/rechtlich wurden Betriebsräte und Gewerkschafter als "Betonköpfe", als "Bremser" und "Gestrige", die zu nix nutze sind, beschimpft und madig gemacht. Ja, dereinst wollte gar ein Industriepräsident am liebsten alle Tarifverträge verbrennen. Und so glaubten immer mehr abhängig Beschäftigt, sie bräuchten keine Lobby mehr.

"Ich handele mein Gehalt mit meinem Boss selber aus", dachten viele. Doch wem gelingt es wirklich, alles selbst zu regeln: z. B. Lohn-/Gehalt, Urlaubstage, Weihnachtsgeld, Arbeitszeit, Prämien usw.? In Folge orientierten sich immer weniger "frei" vereinbarte Gehälter noch an einem Tarif. Immer weniger Beschäftigte werden nach Tarif bezahlt, und immer weniger Betriebe zahlen, was nach Tarifvertrag bezahlt werden muss. Das hat die gerade veröffentlichte Auswertung der vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) jährlich gemachte Umfrage unter rund 15.300 Betrieben zu Tage gefördert.

Im Jahr 1996 arbeiteten noch 70 Prozent aller Beschäftigen in Westdeutschland in Unternehmen, für die ein Branchentarifvertrag galt. Vergangenes Jahr (2011) waren es nur noch 54 Prozent. In Ostdeutschland ging der Anteil von 56 auf 37 Prozent zurück. In der selben Zeit sank die Zahl der Betriebe mit Branchentarifvertrag im Westen von 49 auf 32 Prozent und im Osten von 28 auf 18 Prozent. Einen Rechtsanspruch auf tarifliche Bezahlung hatten allerdings in diesen Betrieben nur Mitglieder von Gewerkschaften. Ein Unternehmer aber, der nichtgewerkschaftlich organisierten Beschäftigten weniger zahlen würde (es sei denn der Tarifvertrag zwinge ihn dazu), wäre mit Dummheit gepudert - er triebe ja die Beschäftigten geradezu in die in Gewerkschaften.

Neben den Flächentarifverträgen gibt es noch Haus- oder Firmentarifverträge. Diese aber nur in zwei Prozent der westdeutschen und etwa drei Prozent der ostdeutschen Betriebe. An überhaupt keinen Tarifvertrag halten sich inzwischen 66 Prozent der Betriebe im Westen und 79 Prozent im Osten. Immerhin orientierten sich laut IAB angeblich noch rund die Hälfte dieser tariflich nicht gebundenen Unternehmen mit ihren Einzelarbeitsverträgen an bestehende Branchentarife. Wie aus der Studie weiter hervorgeht, variiert das Ausmaß der Tarifbindung stark zwischen den einzelnen Wirtschaftszweigen und je nach Betriebsgröße. So gibt es bei Finanz- und Versicherungsdienstleistern und im Baugewerbe sowohl in West- wie in Ostdeutschland eine weit überdurchschnittliche Tarifbindung, im Bereich Information und Kommunikation dagegen kaum. In Kleinbetrieben spielen Tarifverträge kaum eine Rolle, bei Betrieben mit mehr als 500 Beschäftigten wird dagegen die Mehrheit der Beschäftigten nach Tarif bezahlt - dort gibt es auch eher Betriebsräte.

Eine der Folgen der zu geringen Tarifbindung ist die gerade gescheiterte Einführung einer branchenweiten Lohnuntergrenze im Einzelhandel. Dabei arbeiten gerade in dieser Branche Hunderttausende zu Löhnen zwischen fünf und sechs Euro die Stunde.

Aber die Geringverdiener im Einzelhandel müssen weiter auf bessere Bezahlung hoffen: ver.di und DGB fordern seit langem einen in seiner jetzigen Höhe viel zu niedrigen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro. Ein verbindlicher Mindestlohn für diese Branche lässt aber deshalb auf sich warten, weil die gesetzlichen Voraussetzungen offenbar nicht erfüllt sind. Denn nach Daten des Forschungsinstituts der Bundesagentur für Arbeit IAB arbeiten weniger als die erforderlichen 50 Prozent der knapp drei Millionen Beschäftigten im Einzelhandel derzeit tarifgebunden. Nach den vom IAB erhobenen Daten arbeiteten 2011 lediglich 44 Prozent der Einzelhandels-Beschäftigten im Westen dieser Republik in einem Betrieb, der an den Branchentarifvertrag gebunden ist. In Ostdeutschland arbeiteten sogar nur 27 Prozent der Beschäftigten tarifgebunden. Die Bundesregierung kann eine von den Tarifparteien ausgehandelte Lohnuntergrenze nur dann verpflichtend als allgemeinverbindlich auf die gesamte Branche übertragen, wenn Tarifverträge für mindestens 50 Prozent der Beschäftigten gelten.

Offensichtlich taugt also das bislang gültige Verfahren für branchenspezifische Mindestlöhne nichts. Die von der Regierung selbst geschaffenen, gesetzlichen Hürden sind bewusst zu hoch gelegt worden, wie einmal mehr das Scheitern im Einzelhandel beispielhaft zeigt. Nicht nur die Tarifbindung, nein auch die Zahl der Beschäftigten mit betrieblicher Interessenvertretung durch einen Betriebsrat geht kontinuierlich zurück.

Das deutsche Kapital ist besonders tarif- und betriebsratsfeindlich. Das belegt ausgerechnet eine Unternehmensumfrage, die die Europäische Zentralbank (EZB) 2011 veröffentlichte: Erstaunliche 88 Prozent der EU-europäischen Firmen wenden einen Tarifvertrag an. In Deutschland sind es nur noch schwache 52 Prozent. Dabei sind Firmen- und Haustarife nicht berücksichtigt. In Frankreich zum Beispiel gilt für rund 90 Prozent der Beschäftigten ein Tarifvertrag. Die Ursache ist: Die Pariser Regierung kann sehr einfach abgeschlossene Tarifverträge auf alle Unternehmen einer Branche ausweiten. Und auch das Arbeitsministerium der Niederlande erklärt viele Tarifverträge kurzerhand für allgemeinverbindlich. In Österreich sind die Unternehmen verpflichtet, den Wirtschaftskammern beizutreten, die dann mit den Gewerkschaften Löhne für sonst tariflose Bereiche aushandeln können. Viele EU-Staaten stützen das Tarifsystem stärker als Deutschland.


Weniger Betriebsräte

Für die Überwachung bestehender Tarifverträge und z. B. Arbeitsschutzgesetze sind in diesem unserem Lande die Betriebsräte zuständig. Dennoch gibt es immer weniger Unternehmen mit einem Betriebsrat. Derzeit arbeiten nur noch 45 Prozent der West-Beschäftigten in einem Unternehmen mit Betriebsrat, 1993 waren es noch 51 Prozent. In Ostdeutschland gerade noch 38 Prozent. Im Jahre 1996 waren es im Westen noch 51 und im Osten immerhin 43 Prozent die einen Betriebsrat zur Wahrung ihrer Interessen hatten. Die Zahl der Kleinbetriebe (bis 50 Beschäftigte) mit Betriebsrat stagniert trotz der "Reform" des Betriebsverfassungsgesetzes im Jahre 2001, die vorgeblich die Durchführung von Betriebsratswahlen durch ein einfacheres Verfahren erleichtern sollte. Dazu trugen die aggressiven Betriebsratsverhinderungsaktivitäten der Kapitalisten und auch all das, was unter dem Stichwort Betriebsrats-Mobbbing beschrieben werden kann, wesentlich bei. Die Zahl der Beschäftigten mit Interessenvertretung in Betrieben mittlerer Größe (51 bis 500 Mitarbeiter) ging deutlich zurück. In den Großbet rieben liegt die Verbreitung von Betriebsräten sowohl im Osten als auch im Westen hingegen weiterhin stabil bei über 90 Prozent.

Wir abhängig Beschäftigten brauchen aber klassenbewusste Betriebsräte dringender denn je, damit das Kapital nicht frohlockt und sagen kann: "Kein Betriebsrat quatsche uns mehr herein Wir wollen freie Wirtschaftler sein!"

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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 44. Jahrgang, Nr. 25 vom 22. Juni 2012, Seite ...
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juni 2012