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ARBEIT/558: Brasilien - Sklaverei in neuem Gewand, Landflucht mündet für viele in einen Alptraum (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 30. April 2014

Brasilien: Sklaverei in neuem Gewand - Landflucht mündet für viele in einen Alptraum

von Fabíola Ortiz


Bild: © Alejandro Arigón/IPS

Ein Landarbeiter auf einer Maniokplantage in Pesqueira in Pernambuco im Nordosten Brasiliens zeigt seine geschundenen Hände
Bild: © Alejandro Arigón/IPS

Rio de Janeiro (IPS) - Der Traum, in den brasilianischen Städten im Vorfeld der sportlichen Großevents eine menschenwürdige Arbeit zu finden, hat sich für viele in einen Alptraum verwandelt. Angesichts der nahenden Fußball-WM wächst der Druck auf die Beschäftigen, bis zur Erschöpfung zu arbeiten und sich damit in das Heer derer einzureihen, die in sklavenähnlichen Verhältnissen beschäftigt sind.

Die Sklavenarbeit beschränkt sich vorwiegend auf die ländlichen Gebiete. Sie findet sich auf Vieh- und Zuckerrohrfarmen des südamerikanischen Landes, ist aber inzwischen auch in der Textil- und Konfektionsindustrie der Städte zu finden. Diese Veränderungen erschweren die Ahndung dieses Straftatbestands.

Cícero Guedes gehörte zu den vielen Tausenden Brasilianern, die auf der Suche nach einem Job das ganze Land durchkämmen und dann in der Zwangsarbeit landen. "Es kam häufig vor, dass ich hungern musste. Keiner kann arbeiten, wenn er nichts zu essen hat", meinte er am Rande eines Treffens der Landlosenbewegung MST gegenüber IPS. "Zum Frühstück hatte ich ein Stück Zuckerrohr. Ob ich nun auf Plantagen oder in den Fabriken arbeitete - verdient habe ich fast nichts."

Guedes stammte aus dem nordöstlichen Bundesstaat Alagoas, wo er bereits als Achtjähriger zu arbeiten begann. Später war er als Saisonarbeiter auf vielen Zuckerrohrplantagen des Landes beschäftigt. "Ich arbeitete und arbeitete, doch nie ging es mir besser", erläuterte er. "Sklaverei findet sich überall dort, wo die Würde des Menschen mit Füßen getreten wird."

2002 konnte er sich im Zuge der Landreform mit seiner Frau und seinen drei Kindern auf einem Stück Land im Norden des Bundesstaates Rio de Janeiro niederlassen. Doch am 25. Januar 2013 wurde der 58-Jährige in der Nähe der Zuckerfabrik Cambahyba im Bezirk Campos dos Goytacazes im Norden erschossen. Dort hatte er im Namen der MST die Besetzung eines 3.500 Hektar großen Gebietes mit sieben Zuckerrohrplantagen koordiniert.


Endlose Reform

Das brasilianische Parlament arbeitet seit 1995 an einer Verfassungsreform, die eine entschädigungslose Enteignung derjenigen möglich machen soll, die ihre Arbeitskräfte hemmungslos ausbeuten. In dem Entwurf heißt es, dass die enteigneten Grundstücke der Landreform und dem Bau von Sozialwohnungen zugutekommen sollen.

Doch aufgrund des massiven Widerstands der Ruralisten-Fraktion, die die Interessen der großen Viehzüchter und Grundbesitzer vertritt, passierte die Vorlage erst 2012 das Abgeordnetenhaus und dämmert nun im Senat vor sich hin.

Nach Ansicht der Vereinten Nationen profitiert die Zwangsarbeit davon, dass die Länder nicht entschieden genug dagegen vorgehen. Allgemein wird davon ausgegangen, dass weltweit 18 Millionen Menschen in sklavenähnlichen Verhältnissen leben, davon allein 25.000 bis 40.000 in Brasilien. Diese Menschen werden weltweit jährlich um insgesamt 21 Milliarden Dollar an Lohn geprellt und müssen unter prekären Voraussetzungen arbeiten. Parallel dazu werden die Staaten, in denen Sklavenarbeit praktiziert wird, um Steuereinnahmen und Beitragszahlungen im Wert von mehreren Milliarden Dollar gebracht.

Die brasilianische Strafrechtsreform von 2003 charakterisierte sklavenähnliche Verhältnisse als Arbeit, die sich durch degradierende Arbeitsbedingungen und exorbitant lange Arbeitszeiten auszeichnet. Weitere Merkmale sind Zwangsarbeit, die durch Korruption, geographische Abgeschiedenheit, Drohungen und seelische und körperliche Gewalt und Verschuldung zustande kommt. Auf dieses Delikt stehen Gefängnisstrafen von zwei bis acht Jahren.

Im gleichen Jahr wurde eine Nationale Kommission eingerichtet, die der Rechtsabteilung der Präsidentschaft untersteht und für die Koordinierung und die Umsetzung des Nationalplans zur Beseitigung der Sklavenarbeit zuständig ist.

Seit fast 20 Jahren räumt Brasilien die Existenz von Sklavenarbeit innerhalb der Landesgrenzen ein. Offiziell ist von "sklavenähnlicher Arbeit" die Rede, weil die Sklaverei in dem größten Land Südamerikas 1888 abgeschafft worden ist. Heute zeichnet sie sich dadurch aus, dass es bereits bei der Rekrutierung der Arbeitskräfte zu Übergriffen kommt und die Betroffenen durch Schulden und Freiheitsentzug in Knechtschaft gehalten werden.

"Wir sind noch weit davon entfernt, das Problem in den Griff zu bekommen", meint Luiz Machado, nationaler Berater des Sonderprogramms zur Bekämpfung der Zwangsarbeit der Internationalen Arbeitsorganisation (ILOL). "Doch anders als Brasilien, das schon allein damit, dass es die Existenz der Sklavenarbeit offiziell anerkannt hat, einen wichtigen Schritt nach vorn getan hat, gibt es viele Länder, die dies nicht tun und auch keine Maßnahmen ergreifen, um es zu bekämpfen."


Befreiungsaktionen

Brasilien hatte 1957 das ILO-Abkommen über Zwangsarbeit ratifiziert. Doch erst im Jahr 1995 schuf das Land ein öffentliches System zur Bekämpfung des Verbrechens. Nach Angaben des Arbeitsministeriums wurden seit diesem Jahr bis 2012 44.415 Menschen aus sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen befreit und die Opfer mit insgesamt 35 Millionen Dollar entschädigt. Seit 2010 werden nach Angaben des Arbeitsministeriums jährlich 2.600 Zwangsarbeiter befreit.

Nach Aussagen von Machado ist den Vereinten Nationen bewusst, dass die Zahl dieser Delikte im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft vom 12. Juni bis 13. Juli in Brasilien und den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro 2016 zugenommen hat.

"Diese Großveranstaltungen brauchen Arbeitskräfte für den Bau der Stadien und ziehen viele in- und ausländische Hilfsarbeiter an. Darüber haben diese Großprojekte soziale Auswirkungen: Sie begünstigen die sexuelle Ausbeutung und Kinderarbeit", erklärte er. "Wir haben Abkommen mit Regierung und Privatsektor in der Hoffnung abgeschlossen, auf diese Weise die Bereitstellung menschenwürdiger Arbeiten fördern und garantieren zu können."

In diesem Jahr hat die Mobile Sondereinheit des Arbeitsministeriums etliche Einsätze zur Befreiung von Zwangsarbeitern durchgeführt. Am 4. April entdeckte sie im Hafen der nordöstlichen Stadt Salvador de Bahía auf der 'MSC Magnifica' elf Menschen, die auf dem Luxusdampfer unter inakzeptablen Bedingungen arbeiten mussten.

Den Behörden zufolge wurden die Beschäftigten zu Elf-Stunden-Schichten gezwungen, moralisch unter Druck gesetzt, gedemütigt, misshandelt und sexuell belästigt. Der Luxusliner gehört dem italienischen Unternehmen 'MSC Crociere', einer der weltgrößten Firmen in diesem Bereich.

Am 20. April hat ein brasilianisches Gericht die Revisionsklage von 'Zara', einer Niederlassung der spanischen Konfektions- und Ladenkette 'Inditex' abgewiesen, die in erster Instanz verurteilt worden war, in ihren Fertigungsbetrieben 15 Mitarbeiter in sklavenähnlichen Verhältnissen gehalten zu haben.

Der transnationale Konzern beharrt bis heute darauf, von den Unregelmäßigkeiten in einer seiner brasilianischen Vertragsfirmen nichts gewusst zu haben. Doch da das Gericht eine 'indirekte Verantwortung' von 'Zara' an den Menschenrechtsverletzungen nicht ausschloss, forderte es die Aufnahme der Firma in eine Liste mit Unternehmen, die sich übergriffiger Praktiken verantwortlich gemacht haben. Dazu kam es jedoch nicht, weil das Unternehmen erneut Rechtsmittel einlegte.

Im März wurden 17 Peruaner in einer Textilfabrik in der südlichen Stadt São Paulo befreit, in der sie 14 Stunden täglich und an sieben Tagen die Woche arbeiten mussten. Von ihren Arbeitgebern, die ihnen ihre Pässe abgenommen hatten, wurden sie mit Kameras überwacht. An jedem fertiggestellten Kleidungsstück, das in Geschäften für 45 Dollar verkauft wird, verdienten sie umgerechnet 1,03 Dollar.

Nach Angaben des ILO-Vertreters werden in Brasilien immer häufiger Ausländer ausgenutzt. "Es gibt viele Bolivianer, Paraguayer, Peruaner und neuerdings auch Haitianer, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Brasilien kommen. Ein guter Teil von ihnen reist illegal ein und fürchtet sich vor der Abschiebung."


"Pakt des Schweigens"

Die Angst vor den Behörden sorgt für einen "Pakt des Schweigens" zwischen Arbeitsgebern und Arbeitnehmern. Würden die zumeist 18- bis 35-jährigen Mestizen ihre Peiniger anzeigen, würde die zuständige Behörde sofort aktiv.

Allen neuen Tendenzen zum Trotz ist die Neosklaverei vor allem in den ländlichen Regionen verbreitet. Die 463.000-Seelen-Gemeinde Campos dos Goytacazes wurde 2009 zur 'Landeshauptstadt der Sklavenarbeit' ernannt.

In diesem Jahr wurden zahlreiche Zuckerrohrschneider aus sklavenähnlichen Verhältnissen befreit. Während der Ernte beschäftigt ein Unternehmer bis zu 5.000 Arbeiter. "Diejenigen, die von außerhalb kommen, landen häufig in der Versklavung und müssen sich verschulden, um überleben zu können", berichtet Carolina Abreu von der Pastoralen Landkommission, die dem Volkskomitee zur Beseitigung der Sklavenarbeit im Norden von Rio de Janeiro angehört.

2009 hatte das Arbeitsministerium dort 4.535 Zwangsarbeiter befreit, allein in Campos de Goytacazes waren es 715 Fälle. Aufgrund der Angst vor einer Mechanisierung des Sektors sind die Arbeiter bereit, extrem lange Schichten zu arbeiten. Der Pastoralen Landkommission zufolge schneiden sie pro Tag sieben bis zehn Tonnen Zuckerrohr. (Ende/IPS/kb/2014)


Link:
http://www.ipsnoticias.net/2014/04/el-trabajo-esclavo-cambia-de-rostro-en-brasil/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Mai 2014