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ARMUT/131: Kampagne gegen Mangelernährung durch Hartz IV - Interview mit Martin Behrsing (jW)


junge Welt - Die Tageszeitung - Ausgabe vom 6. August 2009

»Unterstützung gibt es nur aus der Linksfraktion«
Kampagne gegen Mangelernährung durch Hartz IV.
SPD, CDU/CSU und FDP gehen auf Tauchstation.

Gespräch mit Martin Behrsing von Ralf Wurzbacher
(Martin Behrsing ist Sprecher des Erwerbslosen-Forums Deutschland (Elo-Forum)


Frage: Das Erwerbslosen Forum Deutschland hat im Bündnis mit einer Reihe anderer Sozial- und Arbeitsloseninitiativen eine Kampagne gegen die Mangelernährung bei Hartz-IV-Beziehern gestartet. Worum geht es dabei?

Martin Behrsing: Wir wollen uns damit gezielt in den Bundestagswahlkampf einschalten und die Damen und Herren Politiker ganz direkt auffordern, Stellung zu beziehen. Alle Bundestagsabgeordneten erreichte Anfang dieser Woche ein Schreiben zu Hintergründen unseres Anliegens und mit unseren Forderungen. Die Adressaten werden gebeten, uns zu unterstützen oder darzulegen, warum sie das nicht tun. Über ihre Reaktionen werden wir natürlich die Öffentlichkeit unterrichten.

Frage: Wie lauten Ihre Forderungen?

Martin Behrsing: Wir verlangen die sofortige Aufstockung des Hartz-IV-Regelsatzes auf 500 Euro. Die derzeit bewilligten 359 Euro reichen einfach nicht aus, um sich auskömmlich und gesund zu ernähren. Ein erwachsener Mensch hat bei ausreichender Bewegung einen Tagesbedarf von 2550 Kilokalorien. Nach wissenschaftlichen Befunden muß man für 1000 Kilokalorien im Falle einer gesunden Ernährung 2,50 Euro aufwenden. Hartz-IV-Empfängern gesteht man pro Tag aber nur 3,94 Euro für Nahrungsmittel und nichtalkoholische Getränke zu, was knapp 1600 Kilokalorien entspricht. Ihr Energiebedarf wird damit für lediglich 20 Tage gedeckt. Die Betroffenen essen entweder zu wenig, extrem ungesund oder müssen bei anderen Dingen des täglichen Bedarfs Abstriche machen.

Frage: Daneben setzt sich das Aktionsbündnis für einen Mindestlohn von zehn Euro ein. Wie begründen Sie das?

Martin Behrsing: Wir halten die von den Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden geforderten 7,50 Euro brutto Mindestlohn für völlig unzureichend. Nach den fälligen Abzügen landen Alleinstehende damit bei Einkünften, die ergänzende Hartz-IV-Leistungen erforderlich machen. Es kann nicht Sinn der Sache sein, daß Hartz IV auch noch zur Lohnsubvention für die Menschen wird, die zum Mindestlohn arbeiten. Bei zehn Euro - und zwar lohnsteuerfrei - kämen die Menschen wenigstens einigermaßen und ohne staatliche Hilfe über die Runden.

Frage: Ist es Zufall, daß Ihre Forderungen genau diejenigen sind, mit denen die Linkspartei in den Wahlkampf zieht?

Martin Behrsing: Erst auf Druck des Erwerbslosen-Forums und anderer Sozialinitiativen hat im vergangenen Jahr Die Linke in Nordrhein-Westfalen diese Forderungen zu den ihren gemacht. Daß diese ins Wahlprogramm der Bundespartei aufgenommen wurden, freut uns natürlich, wenn auch mit ein paar Abstrichen: Der 500-Euro-Regelsatz ist für die Linkspartei keine Sofortforderung, sondern nur ein Fernziel. Außerdem halten wir es für verfehlt, zehn Euro Mindestlohn und 500 Euro Regelsatz »sozial gerecht« zu nennen.

Frage: Wie würden Sie es nennen?

Martin Behrsing: Damit wird dem Kapital bestenfalls ein Krümelchen vom großen Kuchen abgetrotzt, mehr nicht. Sozial gerecht wäre es, wenn die Beschäftigten Anteil am Kapital erhielten. Davon sind wir aber noch weit entfernt.

Frage: Gab es aus dem Bundestag schon Reaktionen auf Ihren Brief?

Martin Behrsing: Ja. Etliche Vertreter der Linksfraktion haben uns ihre Unterstützung bereits zugesichert. Dazu haben sich einige Abgeordnete der Grünen gemeldet, jedoch nur in der Form, daß sie uns ihr Wahlprogramm zuschickten, ohne jede Stellungnahme zu unserem Schreiben. Das nenne ich eine echte Alibireaktion.

Frage: Was ist mit dem Rest der Parteien?

Martin Behrsing: Von der Union und der FDP und selbst von der SPD kam bisher noch gar nichts. Wir wollen den Parteien aber noch ein paar Tage Zeit lassen und gegebenenfalls noch einmal nachhaken. Ich bin mir sicher, daß es die Öffentlichkeit interessiert, wer sich wie in der Frage verhält. Und keine Reaktion ist schließlich auch ein Statement.

Frage: Demnächst wird im Sozialbereich wohl erst mal kräftig gekürzt. Sind die Zeiten für Ihre Forderungen nicht gerade ziemlich schlechte?

Martin Behrsing: Genau deshalb verschaffen wir uns noch vor der Wahl Gehör. Wenn man für die Rettung der Banken Hunderte Milliarden verschleudert, dann müßten sich zwei oder drei Milliarden Euro, die unser Anliegen kostet, doch ziemlich einfach lockermachen lassen. Außerdem wäre dies ein wichtiger Impuls zur Stabilisierung der Sozialversicherungskassen.

Kampagne im Internet: www.500-euro-eckregelsatz.de


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Quelle:
junge Welt vom 06.08.2009
mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. August 2009