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ARMUT/164: Energiewende - hart aber fair? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2011

Energiewende - hart aber fair?

Von Michael Kopatz


Die Bedeutung der erneuerbaren Energien im deutschen Strommix hat auch schon vor Fukushima rasant zugenommen. Das ist insbesondere dem Stromeinspeisungsgesetz zu verdanken. Doch gleichzeitig erhöhten sich die Stromrechnungen der Endverbraucher und die Heizkosten wurden für Millionen Haushalte zu einer ernsthaften Belastung. Hunderttausende Strom- und Gassperren sind Zeugnis einer prekären Armutssituation im wohlhabenden Deutschland. Die entscheidende Frage ist also, wie die Energiewende sozialverträglich gestaltet werden kann.


Der Begriff "Energiearmut" führt immer noch zu Erstaunen. Armut gibt es bekanntermaßen zwar auch im wohlhabenden Deutschland, es muss aber doch im Sozialstaat niemand hungern oder frieren. Ein "Existenzminimum" - in Form von Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe - wird jedem Bürger garantiert. Soweit die Theorie. Denn in der Praxis sind es nicht nur Menschen ohne Obdach, die winters frieren. Heizkosten werden für Empfänger von Transferleistungen nur erstattet, wenn sie angemessen sind. Die tatsächlichen Kosten können aber weit darüber liegen. Von Energiearmut betroffen sind auch Menschen mit Einkommensverhältnissen knapp über der Armutsgrenze. Letztere sind von hohen Energiepreisen ggf. stärker berührt, denn sie erhalten keine Sozialleistungen beispielsweise für Klassenfahrten der Kinder, Schulbücher oder Darlehen für die Ausstattung der Wohnung. Ein Indikator für die Entwicklung von Energiearmut ist die Zahl der Strom- und Gassperren. Das geschieht jährlich in rund zwei Millionen Fällen - ca. 840.000 Haushalte sind betroffen. Besonders gefährdet sind die überschuldeten Haushalte; derzeit sind es laut Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2008 1,6 Millionen.

Insofern verwundert es nicht, dass um die 40% aller Deutschen laut einer emnid-Befragung vom März 2011 zu drastischen Maßnahmen greifen, um ihre Energiekosten zu senken. Hochgerechnet zogen z.B. über sechs Millionen Deutsche an kalten Tagen zuhause Stiefel oder Moonboots an, um sich warm und die Heizkosten gering zu halten. Ca. 16 Millionen Bürgerinnen und Bürger tragen dicke Strickjacken und lange Unterhosen auch zu Hause.

Ungefähr 20% der Bevölkerung sind nach exemplarischen Berechnungen der Verbraucherzentrale NRW gezwungen, mehr als 13% ihres verfügbaren Einkommens für Energiekosten aufzuwenden. Der ALG II-Regelsatz beträgt monatlich 364 Euro. Davon sind gut 30 Euro für Strom, Kochgas und Wohnungsinstandhaltung vorgesehen. Die tatsächlichen Kosten nur für Strom liegen laut Verivox-Verbraucherpreisindex für einen Single-Haushalt mit einem jährlichen Stromverbrauch von 2.000 kWh bei 44 Euro. Allein die Stromkosten übersteigen damit den Regelsatz um 45%.

Einer Studie der Gemeinnützigen Gesellschaft für Verbraucher- und Sozialberatung von 2011 zufolge sind im aktuellen Hartz TV-Satz für einen Single-Haushalt jährlich 321,80 Euro für Strom vorgesehen. Der Strom des günstigsten Anbieters für einen Ein-Personen-Haushalt in Sachsen kostet aber jährlich 435,50 Euro, dem Haushalt fehlen also jährlich 113 Euro, in Thüringen liegt der Fehlbetrag sogar bei 147 Euro. Für eine vierköpfige Familie in Sachsen bedeutet dies, dass jedes Jahr theoretisch Stromschulden von bis zu 524 Euro angehäuft werden.

Wie viele Menschen in Deutschland unter Energiearmut leiden wird in keiner amtlichen Statistik erfasst. Eine solche Erhebung wäre sehr sinnvoll, aber ohnehin erst möglich, wenn sich die relevanten Akteure auf eine Definition des Phänomens einigten oder die Bundesregierung eine solche vorgäbe. Demgegenüber hat Großbritannien sich bereits vor vielen Jahren zu einer Definition von "Energiearmut" durchgerungen. Dort gilt ein Haushalt als "energiearm", wenn er mehr als 10% seines Einkommens für den Kauf von Energie aufwenden muss, um im Hauptwohnraum 21 Grad Celsius und in den übrigen Räumen 18 Grad Celsius zu gewährleisten.


Welche Lösungsansätze gibt es?

Wohlfahrtsorganisationen, Sozialbehörden und Energieversorger sind schon vor einigen Jahren auf die zunehmenden Zahlungsschwierigkeiten von Menschen mit geringem oder ohne eigenes Einkommen aufmerksam geworden. Seither haben viele Städte und Gemeinden reagiert und für die betroffenen Haushalte Energiesparberatungen auf den Weg gebracht.

Exemplarisch sei ein besonders ambitioniertes Projekt aus Nürnberg erwähnt. Es firmiert unter dem treffenden Namen "Energieschuldenprävention" und richtet sich an Menschen in prekären Lebenslagen (esp-nuernberg.de). Im Zuge der Beratungen werden die Steuerung der Heizung erläutert, Fenster und Wohnungstüren abgedichtet, Gasthermenwartungen veranlasst, Heizkörper freigeräumt und entlüftet sowie Tipps zum richtigen Heizen und Lüften vermittelt. Um die Stromkosten zu senken werden Kühlschränke enteist und kostengünstiger eingestellt, Sparlampen montiert, Tipps für die effizientere Nutzung von Herd und Waschmaschine vermittelt, Steckdosenleisten gegen Standby-Verluste angebracht und vieles mehr. Inzwischen wurden über 2.000 Beratungen durchgeführt. Die beratenen Haushalte sparen jedes Jahr im Schnitt 123 Euro Strom- und 130 Euro Heizkosten. Ähnlich gelagert und vorzeigbar ist der "Clevere Kiez" aus Berlin (clevererkiez.de). Hier werden ebenfalls Tipps zum richtigen Lüften und Heizen vermittelt. Die Berater installieren Energiesparhilfen im Wert von bis zu 70 Euro.

Gerade bei den Heizkosten liegt häufig das größte Problem. Durch die Angemessenheitsklausel im SGB werden vielen Haushalten eben nicht - wie in der Öffentlichkeit vermutet wird - ihre kompletten Heizkosten erstattet. Meist gibt es einen Pauschalbetrag je Quadratmeter. Je nach Wohnungssituation, etwa hinsichtlich Dämmung und Zahl der Außenwände, müssen mehrere Hundert Euro selbst aufgebracht werden. Daher ist zu empfehlen, die Heizkosten in die Beratung einzubeziehen, wie es in Nürnberg der Fall ist.

Darüber hinaus erscheint es zudem ratsam, bei Zahlungsschwierigkeiten sogenannte Prepaidzähler mit Münzeinwurf bzw. Chipkarte zu installieren, um wachsende Schuldenberge zu vermeiden. Sie sind in bedürftigen Haushalten allerdings kostenneutral bereit zu stellen. Das gilt auch für die mögliche Installation von digitalen Stromzählern. Verbunden mit monatlichen und quartalsweisen Stromrechnungen sowie speziellen Visualisierungskonzepten können arme und verschuldete Haushalte mit der neuen Technik ihre Stromkosten wesentlich besser kontrollieren. Notwendig ist dafür das Entgegenkommen insbesondere der kommunalen Energieversorger. Sie haben auch die Möglichkeit, ihren Kunden Energiesparberatungen anzubieten und hier besonders auf Haushalte in finanziell schwierigen Lebenslagen zu achten. Diese zu ermitteln dürfte nicht schwer fallen. Schließlich wird über Zahlungsrückstände genau Buch geführt und es gibt Register für "Schlechtzahler".

Es sind wiederum verantwortungsbewusste Energieversorger, die ihren Kunden die Finanzierung von effizienteren Kühl- oder Gefrierschränken ermöglichen könnten. Ist die erwartete Stromeinsparung größer als 200 kWh/Jahr, könnte die Anschaffung eines Neugerätes zumindest teilweise mit einem Kleinkredit finanziert werden, dessen Tilgung über die eingesparten Stromkosten gewährleistet wird. Diese Rückzahlung könnte über mehrere Jahre in Verbindung mit der Verbrauchsabrechnung erfolgen. Erwogen werden sollte zugleich die Einführung eines spezifischen Tarifs für bedürftige Haushalte. Durch die Grundgebühr zahlen Single-Haushalte deutlich mehr für die Kilowattstunde als Paare oder Familien. Sinnvoll könnte es fallweise sein, Grundgebühr abzuschaffen und dafür die die Preise je kWh moderat zu erhöhen.


Bekämpfung von Energiearmut - Gewinn für Alle

Hilfreich für alle Akteure vor Ort wäre eine nationale Strategie zur Bekämpfung von Energiearmut. Die vorliegenden Erfahrungen und Handlungsansätze sollten ggf. durch eine eigene oder angegliederte Agentur zusammengetragen werden. So können kommunale Akteure einen schnellen Zugriff auf mögliche Strategien und Handlungskonzepte erhalten.

Grundlage wäre eine Definition von Energiearmut und entsprechende Entwicklungsberichte. Die Britische Regierung geht mit gutem Beispiel voran und dokumentiert seit 2003 jährlich die Entwicklung der Energiearmut und die Umsetzung von Lösungskonzepten im "Fuel-Poverty"-Jahresbericht (defra/BERR). Die Regierung hat sich das Ziel gesetzt, bis 2018 die Energiearmut in den Haushalten auf 0% zu senken.

Im Einklang stünde die nationale Strategie zur Bekämpfung von Energiearmut mit einer Initiative der Europäischen Kommission zur Stärkung der Rechte der Energieverbraucher. Die Charta sieht u.a. vor, dass Energie zu tragbaren und leicht vergleichbaren, transparenten Preisen zur Verfügung gestellt wird.

Deutschland kann nur zukunftsfähig werden, wenn der gesamte Energiebedarf um mindestens 40% reduziert wird und ein weiterhin massiver Zubau erneuerbarer Versorgungskapazitäten gelingt. Doch zugleich lässt sich der soziale Zusammenhalt der Gesellschaft nur gewährleisten, wenn der technisch-kulturelle Transformationsprozess auch von armen Menschen mitgetragen wird. Dieser Tatsache wurde bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, wie zunehmende Energieschulden, Strom- und Gassperren bezeugen.

Am einfachsten ließe sich das Problem "Energiearmut" lindern, würde den betroffenen Haushalten mehr Geld zur Verfügung gestellt. Doch sowohl der Klimaschutz als auch die schlechte Lage der Finanzhaushalte gebieten die Realisierung eines nachhaltigen Konzeptes. Durch effizientere Technologien und angepasstes Verhalten können der Kostenanstieg kompensiert und die CO2-Emissionen verringert werden. Davon profitieren alle Akteure. Die Heizenergieausgaben der Kommunen und des Bundes verringern sich oder werden je nach Preisentwicklung stabilisiert. Die Energieversorger können ihr Ansehen verbessern, haben weniger Stromsperren und zufriedenere Kunden. Die betroffenen Haushalte selbst lernen mit Energie effizient umzugehen und können Energieschulden eher vermeiden. Für die Sozialbehörden verringert sich der Betreuungsaufwand und die Kunden sind tendenziell zufriedener mit der Betreuung. Und schließlich ist die Linderung von Energiearmut durch Effizienzmaßnahmen ein Beitrag zum Klimaschutz und damit im Interesse der nächsten Generationen.


Michael Kopatz (1971) ist wissenschaftlicher Projektleiter im Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie, Arbeitsfelder: Nachhaltiger Wohlstand, Arbeit fair teilen, Glückspolitik, Maßnahmen zur Vermeidung von Energiearmut.
michael.kopatz@wupperinst.org


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2011, S. 34-36
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer und Peter Struck
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Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Dezember 2011