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ARMUT/200: Dramatische Zunahme der sozialen Zerrissenheit (Hans Fricke)


Dramatische Zunahme der sozialen Zerrissenheit

von Hans Fricke, 20. Dezember 2013



Das die Bundesregierung die deutsche Bevölkerung mit Hilfe von Lügen, Halbwahrheiten und üblen Tricks über die tatsächliche Lage, ihre Absichten, Ziele und den Inhalt ihrer Politik täuscht, ist nicht neu.
Davon zeugen Beispiele en masse, so auch ihre Einschätzungen über die Schere zwischen Arm und Reich im Land und den dieser Schere zugrunde liegenden Ursachen. Offensichtlichen Ursachen, vor denen die bisherigen zwei Merkel-Regierungen die Augen bewusst verschlossen haben und, wie der Vertrag von Union und SPD zeigt, auch die große Koalition verschlossen hält.

Noch im März verkündete die Bundesregierung wider besseres Wissens, diese Schere schließe sich, obwohl für jeden, der sehen will, kein Zweifel besteht, dass die Armut ein neues Rekordhoch erreicht.
"Sämtliche positiven Trends aus den letzten Jahren sind zum Stillstand gekommen oder haben sich gedreht", sagte Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, anlässlich der Vorstellung des Armutsberichtes 2013 am 19. Dezember in Berlin.

Jeder siebente Mensch lebt an oder unter der Armutsgrenze. Seit 2006 der erste Bericht dieser Art vorgelegt wurde, hat die Not kontinuierlich zugenommen. Die Quote liegt nun bei 15,2 Prozent. Und die Kluft zwischen Wohlstand und Elend wächst stetig. Während im Bayrischen Oberland nur 8,1 Prozent der Menschen als arm gelten, sind es in Vorpommern ganze 25.5. Prozent. Der Abstand zwischen dem Bundesland mit der geringsten Armutsquote, Baden-Württemberg (11,1 Prozent), und dem mit der höchsten, Bremen (23,1 Prozent), hat sich weiter vergrößert. "Deutschland war noch nie so gespalten wie heute, ganze Regionen befinden sich in einer Armutsspirale", so Schneider.

Das Ruhrgebiet mit fünf Millionen Einwohnern ist dabei Deutschlands Armutsregion Nummer eins mit einer überproportionalen Zunahme. Wie rasant sich das Elend Bahn bricht, wird am Beispiel Dortmunds deutlich. Lag die Armutsquote der Stadt im Jahr 2005 noch bei 17,4 Prozent, ist sie 2012 auf 22,8 Prozent gestiegen. Es sei ein Teufelskreis, gerade Regionen mit einem Schuldenberg seien betroffen, so Schneider.

Hauptursache für die wachsende Armut sei die Amerikanisierung des Arbeitsmarktes - geringe Hartz-IV-Sätze, fehlende Mindestlöhne, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Teilzeitarbeit. Was die zunehmende Ausbeutung auf dem Arbeitsmarkt offensichtlich macht: Die ständig steigende Armutsquote geht einher mit sinkenden Erwerbslosenzahlen.

Das fünftreichste Land der Welt mit einem Privatvermögen von fünf Billionen Euro müsse es schaffen, solidarisch zu sein. "Um Steuererhöhungen für sehr hohe Einkommen und sehr hohe Vermögen kommen wir nicht herum", so Schneider. Diese zum Tabu zu erklären, sei ein Geburtsfehler der neuen Regierungskoalition.

Eine Studie mit neueren Daten, die die Bundesbank am 20.Dezember 2013 vorgelegt hat, zeigt eine noch stärkere Spreizung bei den Vermögen als bisher von der Bundesregierung eingeschätzt: Demnach besitzen die reichsten zehn Prozent der Haushalte 58 Prozent des gesamten deutschen Privatvermögens. Berücksichtigt wird dabei praktisch alles, was als Anlageform dient: Immobilien, Fonds, Lebensversicherungen, Schmuck und vieles mehr.

Der private Reichtum in Deutschland wird immer größer, das Vermögen des Staates hingegen kleiner. Gleichzeitig werden die Reichsten trotz Finanzkrise immer reicher. Das geht aus dem Entwurf für den vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hervor, der der "Süddeutschen Zeitung" vom 17. Dezember 2013 vorliegt und sich zur Abstimmung in anderen Ressorts der Bundesregierung befindet.

Danach hat sich allein zwischen 2007 und 2012 das private Nettovermögen um 1,4, Billionen Euro erhöht. Hinter diesen Zahlen stecke jedoch eine sehr ungleiche Verteilung der Privatvermögen. So vereinten die vermögensstärksten zehn Prozent der Haushalte über die Hälfte des gesamten Nettovermögens auf sich. Der Anteil dieses obersten Zehntels sei immer weiter gestiegen. 1998 belief er sich laut den amtlichen Zahlen auf 45 Prozent, 2008 war in den Händen dieser Gruppe bereits mehr als 53 Prozent des Nettovermögens. Die untere Hälfte der Haushalte verfüge über nur gut ein Prozent des gesamten Nettovermögens, heißt es in dem Bericht weiter.

Die vorliegenden Ergebnisse beruhen auf den Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes, der auf eine Befragung von 800.000 Menschen basiert. Eine Trendumkehr gibt es den Angaben zufolge nicht, obwohl die Arbeitslosigkeit deutlich gesunken ist und weiter abnimmt.

Als arm gilt, wer als Single weniger als 869 Euro im Monat zur Verfügung hat. Für ein Paar mit zwei Kindern liegt die Grenze bei 1826 Euro. Das entspricht 60 Prozent des mittleren Einkommens.

Der Armutsbericht 2013 des Paritätischen Wohlfahrtverbandes dokumentiert in gefährlicher Weise, dass die deutsche Gesellschaft wirtschaftlich und sozial weiter auseinandertreibt. Deutschland steht im Ergebnis der Politik der Bundesregierung vor eine sozialen Zerreißprobe mit allen sich daraus ergebenden Folgen.

Vom Wohlstand werden dem Bericht zufolge ganze Regionen abgehängt und veröden. Die Armenspeisungen für Obdachlose und Hartz-IV-Empfänger sind bereits in vielen Städten Deutschlands ebenso traurige wie beschämende Realität.

"Hartz IV ist gescheitert", zog auch die Vorsitzende der Linkspartei, Katja Kipping, Bilanz. Über 83.000 Menschen hätten bereits gegen Hartz-IV-Schikanen protestiert, mit denen Betroffene unter das physische und soiokulturelle Existenzminimum gedrückt werden.
Jobcenter vermittelten meist in prekäre Jobs; 60 Prozent der Leistungsbezieher hingen länger als vier Jahre im System fest. Hinzu komme, dass 38 Prozent aller Widersprüche und 44 Prozent der Klagen zugunsten der Leistungsbezieher entschieden werden.

Ferner gab sie zu bedenken, dass sich das Bundesverfassungsgericht derzeit erneut mit der Berechnung der Hartz-IV-Regelsätze befasse. Doch offiziell würden alle Bedenken totgeschwiegen. "Im Koalitionsvertrag findet man so gut wie nichts zu Hartz-IV; sowohl die CDU als auch die SPD verweisen auf eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe", so Kipping am 18. Dezember in Berlin. Anstatt ins Grundgesetz zu schauen, plane diese ein noch härteres Strafsystem.

"Wenn man bedenkt, dass sehr viele der über sechs Millionen Betroffenen so massiv eingeschüchtert sind, dass sie allein aus Angst vor Strafen die Bundestagspetition gegen die Sanktionsparagraphen in den Sozialgesetzbüchern nicht unterzeichnen wollten, sind die vielen Stimmen in der kurzen Zeit ein Riesenerfolg", betonte die Initiatorin Inge Hannemann dennoch. Betroffene und Nichtbetroffene hätten vor Jobcentern Unterschriften gesammelt, mit Menschen gesprochen, die Petition im Internet verbreitet. "Ich habe die Aktion nur initiiert, gelungen ist sie - auch ohne Unterstützung der großen Medien - nur durch große Solidarität untereinander."

Ein Ex-Hallenser schrieb am 19.12.2013 dazu:

"Solange die Betroffenen keinen 'Stunk' machen oder wenigstens zur Wahl gehen und vor der Stimmabgabe mal ein wenig Hirnschmalz investieren, wird sich diese Lage weiter verschlimmern. Dass - um nur ein Beispiel zu nennen - Sachsen-Anhaltiner vor ein paar Jahren die FDP ins Landesparlament gewählt haben, im Glauben, dies 'diene' der Wirtschaft und damit den Arbeitnehmern, ist ein Zeichen politischer Unterbelichtung im Letztstadium.
Wer glaubt, das derzeitige politische Establishment vertrete gesamtgesellschaftliche Interessen, hat wirklich nichts verstanden. Das allerdings schon seit 3 Bundestagswahlen - es gibt also Grund zu wenig Hoffnung. Also zurück vor die Glotze, Lindenstraße gucken..."
(http://www.mdr.de/nachrichten/armutsbericht-paritaet100.html)

Am 19. Dezember 2013 wurden Teile der Innenstadt von Brüssel von Demonstranten lahmgelegt. Sie protestierten gegen das von den Regierungschefs beschlossene und von den EU-Institutionen durchgesetzte Diktat der Lohn-, Renten- und Ausgabenkürzungen. Dieser Politik fallen in den Krisenländern immer mehr Menschen zum Opfer. Von den verantwortlichen Entscheidungsträgern wird sie aufgrund der stark gestiegenen Staatsverschuldung als alternativlos dargestellt. Verschwiegen wird aber, dass die Staatsschulden nur aufgrund der extrem teuren Bankenrettung seit der Finanzkrise so stark zugenommen haben.

Die Erste stellvertretende Vorsitzende der Fraktion Die Linke im Bundestag, Sahra Wagenknecht, erklärte dazu:

"Verständlich, dass die Wut steigt. Drinnen im Brüsseler Ratsgebäude trafen sich die Regierungschefs, um den Raubzug der Mächtigen gegen die Bevölkerung weiter zu verschärfen. Zuvor war erwartet worden, dass die Beratungen zum sogenannten Abwicklungsmechanismus von maroden Banken nur noch eine Formsache sei. Denn Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hatte sich mit seinen europäischen Kollegen in der Nacht zuvor verständigt, dass die Rettung maroder Banken mit Steuermitteln weitergehen könne ...
Die Bankenrettungspolitik wird von der großen Koalition gestützt. Vor der Wahl hat die SPD in ihrem Regierungsprogramm 'Das Wir entscheidet' versprochen, dass die Steuerzahler nie wieder für Banken und Spekulanten haften müssen. Das gleiche gilt für die Union. Wolfgang Schäuble hat noch Anfang November ausgeschlossen, dass aus dem Rettungsfonds ESM Steuergeld zur Rettung maroder Banken fließt. Nach der Wahl gilt für beide: Das Wir bezahlt und die Deutsche Bank entscheidet.
Viele gute Gründe also dafür, dass auch auf Deutschlands Straßen die Wut steigen müsste!"
("Kapitalrettungsunion" junge welt vom 20. Dezember 2013)


Hans Fricke ist Autor des 2010 im GNN-Verlag erschienenen Buches "Eine feine Gesellschaft; Jubiläumsjahre und ihre Tücken - 1949 bis 2010", 250 Seiten, Preis 15.00 Euro, ISBN 978-3-89819-341-2

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Quelle:
© 2013 Hans Fricke
mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Dezember 2013