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BERICHT/003: Papierlos heißt nicht rechtlos (Der Schlepper)


Der Schlepper Nr. 49 - Winter 2009
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in Schleswig-Holstein

Papierlos heißt nicht rechtlos

Das Diakonische Werk Hamburg präsentiert Studie zur Lebenssituation von Menschen ohne Papiere in der Hansestadt


Zwischen 6.000 und 22.000 Menschen leben ohne Papiere in Hamburg. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Studie die das Diakonische Werk Hamburg in Kooperation mit der Nordelbischen Kirche und der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di in Auftrag gegeben hatte.


Es sind oft junge Erwachsene, die in der Schattenwirtschaft arbeiten. Sie putzen und kochen in Geschäften und Privathaushalten, leisten Knochenarbeit auf Baustellen und in Betrieben, sie betreuen Kinder und alte Menschen. Wenn sie selbst Hilfe brauchen, fürchten sie, dass sie aufgedeckt, inhaftiert und abgeschoben werden. So wird ein Arbeitsunfall, eine Infektion oder eine Geburt schnell zum lebensbedrohlichen Risiko. Sie haben Angst, ihre Kinder in der Schule oder einer Kita anzumelden. Als Arbeitnehmer/-innen oder Mieter/-innen sind "Papierlose" erpressbar und häufig Opfer von Mietwucher oder ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen.


Hambuger Zahlen: Viele Jugendliche und Frauen

Mit der DW-Studie sind das erste Mal systematische und belastbare Schätzzahlen für eine bundesdeutsche Großstadt erhoben worden. In dieser Hinsicht handelt es sich also bei der Diakonie-Studie tatsächlich um eine "Pionierarbeit". Dabei wird der rückläufige Trend, der sich sowohl bundes- wie auch europaweit abzeichnet, bestätigt. Neben den rigideren Grenzkontrollen sind dafür vor allem die faktische Legalisierungen im Rahmen der EU-Erweiterung verantwortlich. Auch wenn das Gros der Menschen ohne Papiere im erwerbsfähigen Alter ist (60% zwischen 25 und 60 Jahren), so sind doch auch immerhin 30% Jugendliche zwischen 16 und 25 Jahren und 8% Kinder im schulpflichtigen Alter. Erstaunlich ist auch der hohe Anteil von Migrantinnen. Mindestens ein Drittel, wahrscheinlich eher 45% aller Menschen ohne Papiere in Hamburg sind Frauen. Das Bild von der irregulären Migration als männlich dominiert muss offenbar revidiert werden.

Die Hamburger Zahlen machen deutlich, dass sozialstaatliches Handeln auch auf lokaler Ebene nötig und zugleich auch möglich ist. Weder droht der Freien und Hansestadt eine unbewältigbare Kraftanstrengung, noch ist Hamburg mit Verweis auf Bundesgesetze o.ä. zur Untätigkeit verdammt.

Denn - und auch das ist ein wesentliches Resultat der Studie - keine Papiere zu haben, bedeutet keineswegs, rechtlos zu sein. Auch in ihrer Anonymität und Illegalität haben Migrant/-innen justiziable Rechte:

Mindestens die gesundheitliche Minimalversorgung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gilt auch für Papierlose.
Auch illegal Beschäftigte haben ein Recht auf Lohn, auf Mindesturlaub, auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und auf Versorgung bei einem Arbeitsunfall.
Kinder ohne Papiere haben ein Recht auf Bildung und ein Recht auf Schule.

Keine Meldeverpflichtung an die Ausländerbehörden

In vielen Fällen geht es daher schlicht darum, wie diese Rechte ohne eigene Gefährdung geltend gemacht werden können. In der Praxis erweist sich dabei immer wieder die tatsächliche oder aber vermeintliche Meldeverpflichtung als großes Problem. Deswegen ist auch diese Erkenntnis der Hamburger Studie von zentraler Bedeutung: In vielen Fällen besteht - auch für staatliche Stellen - keinerlei Meldeverpflichtung an die Ausländerbehörden. Diese ist daran gekoppelt, dass Kenntnisse über den Aufenthaltsstatus im Rahmen der dienstliches Aufgaben und Erfordernisse erlangt werden. Kenntnisse per Zufall, auf privatem Wege oder gar Vermutungen reichen nicht aus, um eine Meldeverpflichtung zu begründen. In der Konsequenz unterliegen Ärzt/-innen, Arbeitsgerichte, aber auch die Schulen in Hamburg alle nicht der Meldepflicht nach dem Aufenthaltsgesetz. Bei Ärzt/-innen dominiert immer die ärztliche Schweigepflicht, zur Durchführung eines Arbeitsgerichtsprozesses ist die Identität des Klägers selbst nicht zwingend erforderlich, und nach dem Hamburger Schulgesetz muss zwar der "Wohnort Hamburg" geprüft werden, nicht aber der Aufenthaltsstatus. In vielen Fällen würde somit eine systematische und gründliche Aufklärungs-, Informations- und Beratungsarbeit bei Betroffenen wie auch bei staatlichen wie nicht-staatlichen Stellen die Situation deutlich verbessern. So verzichten viele Migrant/-innen nur deshalb darauf, vorenthaltene Löhne einzuklagen, weil sie sich gar nicht vorstellen können, dass ihnen der Lohn tatsächlich zusteht. Andererseits gibt es viel zu wenige Beratungsstellen, wie etwa die ver.di-Beratungsstelle MigrAr, die kompetent Hilfestellung und Aufklärung bieten könnten.


Zugang zu Bildung und Gesundheitssystem als zentrale Aufgabe

Bezogen auf die Hamburger Situation kristallisiert sich vor allem der Zugang zu Bildung und zu den Institutionen des Gesundheitssystems als zentrale Aufgabe kommunaler Sozialstaatlichkeit heraus. Menschen ohne Papiere müssen als normale Patient/-innen in die Regelstrukturen der Gesundheitsversorgung integriert werden. Dabei darf der Preis für die Inanspruchnahme des Rechts auf Gesundheitsversorgung nicht die Gefährdung der eigenen Sicherheit sein. In allen Bereichen der Gesundheitsversorgung muss für Menschen ohne Papiere die Anonymität gewahrt bleiben. Die Diakonie setzt sich daher für die staatliche Absicherung niedrigschwelliger, kostenfreier und anonymer hausärztlicher Beratungs-, Diagnostik- und Therapieangebote ein und plädiert für die Erprobung eines anonymen Krankenscheins. Bei der Umsetzung des Rechts auf Bildung steht vor allem ein Zugang zur Kindertagesbetreuung auf der tagespolitischen Agenda. Hier müssen Wege entwickelt werden, damit die gegenwärtige Vergabepraxis des Kita-Gutschein-Systems nicht zu einem Ausschluss von papierlosen Kindern aus den Kitas führt.


Prozesscharakter

Die Diakonie-Studie ist von Anfang an als Prozess angelegt gewesen. D.h. es hat eine Reihe von Expert/-innenworkshops gegeben, bei denen Zwischenergebnisse auch mit Fachleuten aus Behörden, Schulen, Krankenhäusern, Polizei etc. diskutiert worden sind. Damit sind Strukturen entwickelt worden, in denen konkret und lösungsorientiert Handlungsoptionen erörtert werden können. So hat etwa die Hamburger Schulsenatorin in unmittelbarer Reaktion auf den Workshop zum Thema Schule einen Brief an alle Hamburger Schulleitungen geschrieben, in dem sie ausdrücklich auf das Recht auf Bildung für papierlose Kinder hinweist und bestehende Verfahrensunsicherheiten im Zusammenhang mit dem Zentralen Schülerregister beseitigt. Auch im Bereich der Gesundheitsversorgung scheint es auf Senatsseite Bewegung zu geben, auch wenn konkrete Pläne noch nicht vorliegen. Unterm Strich hat die Studie eines ihrer Ziele, nämlich die Entwicklung und Umsetzung ganz praktischer und pragmatischer Handlungsoptionen auf lokaler Ebene, bereits jetzt zu einem bedeutsamen Teil erreicht. Nichtsdestotrotz ist die Arbeit mit der Veröffentlichung nicht getan. Weitere Lobbyarbeit und konkrete Verhandlungen werden notwendig sein, um die notwendigen Schritte zur Sicherung der Grund- und Menschenrechte auch für Menschen ohne Papiere weiter zu gehen.


Dirk Hauer ist Fachbereichsleiter Migration und Existenzsicherung im Diakonischen Werk Hamburg.


Die Studie selbst sowie ein Zusammenfassung mit den
Schlussfolgerungen des Diakonischen Werks Hamburg kann unter

www.diakonie-hamburg.de
(Fachthemen/Migration/Menschen ohne Papiere)

heruntergeladen werden.
Die Printversionen werden gegen Porto und Rechnung (5 Euro) auch
postalisch verschickt.


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Quelle:
Der Schlepper Nr. 49 - Winter 2009, S. 17-18
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in
Schleswig-Holstein
Herausgeber: Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.
Oldenburger Str. 25, 24143 Kiel
Tel.: 0431/73 50 00, Fax: 0431/73 60 77
E-Mail: office@frsh.de
Internet: www.frsh.de
Der Schlepper online im Internet: www.frsh.de/schlepp.htm

Der Schlepper erscheint vierteljährlich als Rundbrief
des Flüchtlingsrates Schleswig-Holstein e.V.
Für Vereinsmitglieder ist Der Schlepper kostenlos.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Februar 2010