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BERICHT/008: Einkaufen mit (S)Pass (planet)


planet - ZEITUNG DER GRÜNEN BILDUNGSWERKSTATT # 63
Oktober 2010

Einkaufen mit (S)Pass

Von Paul Kuserutzky


Wer über weniger als 900 Euro im Monat verfügt, kann einen Einkaufspass lösen. Dieser berechtigt zum Einkauf in einem der Sozialmärkte. Angeboten werden dort Reste von Caterings oder abgelaufene Markenware, die ansonsten weggeworfen würden.


Ist es ein sozialer Aufstieg, wenn ich kaum noch dumpstern gehe und meine Lebensmittel nun aus dem Sozialmarkt hole? Eher Bequemlichkeit. Am späten Abend bin ich einfach schon zu müde, um noch einmal raus zu gehen. Ja, ein gewisses Unbehagen könnte auch verantwortlich sein. Das Alter, genau. Der Versuch, den Verfall mit Würde zu kompensieren. Klartext: Ich mag es nicht, von einem aus irgendeinem Inventur-Grund noch bis Mitternacht im Geschäft gebliebenen Hofer-Angestellten, der halb so alt ist wie ich, aus dem Müllraum vertrieben zu werden wie eine Ratte.

Ratte? Ich habe nie Löcher in die Müllsäcke gerissen. Ich war ein begnadeter Müllsackdiagnostiker: Ich konnte schon von außen feststellen, ob etwas Brauchbares drinnen ist, allein durch einfühlsames Abtasten.

Wenn ich an jenem Hofer-Abend wenigstens gleich gegangen wäre, wortlos. Aber nein, erst Informationen unter die Leute bringen: "Der Müll gehört gar nicht dem Hofer. Sobald er in der Tonne ist, gehört er der MA 48. Aber die MA 48 zeigt niemanden an, Sie können sich ruhig etwas mitnehmen", und dann noch Furchtlosigkeit demonstrieren: "Ja, bitte, holen Sie die Polizei!", und plötzlich endet die Vorstellung ganz primitiv damit, dass dieser körpergebildete Mann den Beweis antritt, dass er stärker ist als ich. Dieses Erlebnis sitzt mir noch immer in den Knochen.


Exklusives Publikum

Also Sozialmarkt. Ein offiziell anerkannter Kaufkraftloser. Mit Einkaufspass. Und wer es anders lesen will: mit Einkauf-Spass. Ich begegne hier jedenfalls wesentlich mehr Menschen als beim Dumpstern, die meisten sind freundlich, geschlagen hat mich noch keiner. Da der Markt nur vier Stunden am Tag offen hat und das Publikum ein exklusives ist (Sozialhilfeempfänger, Migrantinnen, Pensionistinnen und Kulturarbeiter), kenne ich die meisten Mitkundinnen bereits.

Ich komme gegen Mittag, wenn sich die Warteschlange vor dem Eingang bereits aufgelöst hat, aber doch zeitig genug, um noch etwas von den Resten der Vormittags-Caterings und der Schulmenüs zu ergattern. Ich liebe das Kartoffelpüree von Catering Max! Cremig, aber nicht so schmierig wie all die Pulverpürees. Und die Topfen-Vanille-Creme mit den auf der Zunge explodierenden Topfenkörnchen erinnert mich an die Küche meiner Großmutter, als man derartige Speisen noch händisch mixte. Auch der Zucchini-Auflauf ist in Ordnung, keine Frage. Die wenigen Fleischportionen sind meist schon weg.

Ansonsten stoße ich im Sozialmarkt auf ähnliche Waren wie beim Dumpstern. Weiche Tomaten, angeschlagene Salatgurken, fleckige Orangen, steinharte Mangos, abgelaufene Fertiggerichte, unknuspriges Brot, unbekannte Energydrinks, übrig gebliebene Bio-Aufstriche und aus den Regalen gedrängter Urkornreis. Paradoxer Armutsgewinn: Umso größer die Krise, desto mehr teure Bio-Produkte landen auf meinem Tisch. Es lässt sich manchmal richtig gut leben im Falschen.


Warten wie die Geier

Überschrittene Ablaufdaten machen mir keine Sorgen, weil ich weiß, dass die diesbezüglichen Regeln streng sind und vom wahren Warenende weit entfernt. Skeptisch werde ich, wenn bei bestimmten Produkten "Unbedenklichkeitszertifikate" dabei hängen. Ich weiß nicht, woher dieses Misstrauen kommt. Hing beim Listerien-Quargel, den sie hier in großen Mengen verkauften, auch so ein Zettel dabei? Oder habe ich generell schlechte Erfahrungen mit dem Wort "unbedenklich"? Ich werde darüber nachdenken.

Ich bin zu früh. Rund acht Leute stehen um die Tiefkühltruhe, in der neuerdings die Catering-Tassen landen. Die Truhe ist noch leer. Der Motorradfahrer führt das große Wort: "Jetzt wart ma wieder wie die Geier. Wahrscheinlich ham die Kopftuchgeier in der Früh wieder alles mitgenommen." Dann kommt das Gespräch auf die Wahlen: "Wozu Wahlen bitte sehr?! Wir werden eh von Brüssel aus regiert." Und in meine Richtung: "Ich bin kein Nazi, geht ja schon vom Alter her nicht. Aber da könnt man einer werden..." Ich verdrehe die Augen. "Siehst, das mag ich an dir!" sagt der Motorradfahrer. "Ich dich auch", sage ich.

Der pensionierte Kellner mit dem Bleistiftbärtchen lässt sich wieder einmal darüber aus, dass es im Sozialmarkt zu wenig Fleisch gebe. Unvermittelt zieht er über die Salatgurken her, als seien die Schuld: "Reines Wasser! Wenn sie dich in einen Keller voller Gurken stecken, verhungerst du! Nach sieben, acht Tagen verhungerst du mit vollem Bauch."


Hundewurst und Zürcher Geschnetzeltes

Sein Blick fällt auf das Regal mit dem Hundefutter: "Das kriegen's auch nicht los." - "Naja, die Tschuschen haben ja keine Viecher. Kaufen ja fast nur Ausländer hier ein", sagt die Rotwangige. - "Wieso haben die keine Viecher?" - "Naja, vielleicht fressen sie's, wer weiß..." - "Ach geh!" - "Oder sie fressen das Hundefutter selber" - "Nein, ist zu viel Schweinefleisch dabei", mischt sich der Motorradfahrer wieder ein. Er schaut mich erwartungsvoll an, aber ich beschränke mich darauf, von meiner Zeit als Heizungsableser zu erzählen, von den stinkenden Haustier-Wohnungen und den angenehm sauberen Wohnungen der Muslime. Dann schildert die Rotwangige, wie sich ihr Mann einmal aus Versehen eine Hundewurst zubereitet habe, "sieht ja aus wie a Blutwurst". - "Und gegessen hat er's auch?" - "Ja, sicher. Ich hab nix g'sagt. Sonst...!"

Die Entscheidung für vegetarischen Konsum trifft sich beim Dumpstern von selbst, das grau und schmierig gewordene Fleisch aus dem Müll zu fischen, verbietet allein schon die Nase. Doch nun kommen die Sozialmarkt-MitarbeiterInnen mit den Catering-Tassen und ich stehe vor der ethischen und ökologischen Frage: Darf ich das Zürcher Geschnetzelte nehmen oder nicht? Ich studiere die Inhaltsangabe: Keine Züricher und Züricherinnen kamen zu Schaden. Gekauft! lautet die Antwort der Zunge, noch bevor das Gehirn die Begründung parat hat: Wenn ich es nehme, wird deswegen das nächste Mal nicht mehr oder weniger Fleisch beim Empfang im Ministerium angeboten, sagt es. Es ist Lebensmittel-Recycling. Es ist, ethisch gesehen, als ob ich das Fleisch von Zeichentrickfilm-Tieren verzehren würde. Es ist... weg! Eine Armutskollegin ist mir zuvor gekommen.

"Das macht 3 Euro 70. Hier Ihr Beleg", sagt die Kassiererin und reicht mir den Zettel, auf dem all die 20-, 30- oder 80-Cent-Beträge aufgelistet sind, und ich denke plötzlich, wir spielen das Einkaufen nur. "Danke", sage ich höflich und stecke den Kassenbon in meine Hosentasche.


Paul Kuserutzky ist Autor und Künstler, Mitbegründer des Kuserutzky-Klans und lebt in Wien.


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Quelle:
planet - Zeitung der Grünen Bildungswerkstatt # 63,
Oktober 2010, S. 4
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. November 2010