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BUCHTIP/134: Ruhr-Universität Bochum - Studie zu Ghettorenten-Verfahren (idw)


Ruhr-Universität Bochum - 01.03.2012

Bezweifelte Erinnerung, verweigerte Glaubhaftigkeit:
RUB-Studie zu Ghettorenten-Verfahren


2002 verabschiedet der Deutsche Bundestag das so genannte "Ghettorentengesetz". RUB-Forscherin Dr. Kristin Platt zeichnet in ihrem neuen Buch "Bezweifelte Erinnerung, verweigerte Glaubhaftigkeit" die Verwaltungs- und Gerichtsverfahren nach und analysiert sie. Dabei kommt sie zu dem Schluss, dass viele Ablehnungen ungerechtfertigt und die angewendeten Verwaltungsverfahren ungeeignet sind. Auch zeigt die Autorin, welche besonderen Merkmale "Erinnerung" in der Aussage traumatisierter Personen hat.


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Holocaust-Überlebende: Deutsche Gerichte in der Kritik

RUB-Forscherin untersucht Ghettorenten-Verfahren
Glaubhaftigkeit der Betroffenen in Frage gestellt

Überlebende des Holocaust erzählen von ihren Erlebnissen und ein deutsches Gericht glaubt ihnen nicht. Das für viele Undenkbare war bis vor einiger Zeit am Landessozialgericht NRW Realität. 2002 verabschiedet der Deutsche Bundestag das so genannte "Ghettorentengesetz". RUB-Forscherin Dr. Kristin Platt zeichnet in ihrem neuen Buch "Bezweifelte Erinnerung, verweigerte Glaubhaftigkeit" die Verwaltungs- und Gerichtsverfahren nach und analysiert sie. Dabei kommt sie zu dem Schluss, dass viele Ablehnungen ungerechtfertigt und die angewendeten Verwaltungsverfahren ungeeignet sind. Auch zeigt die Autorin, welche besonderen Merkmale "Erinnerung" in der Aussage traumatisierter Personen hat. Derzeit befinden sich viele der Anträge in der erneuten Überprüfung bei den Rentenversicherungen und vor den Sozialgerichten.


Schilderung der zeitlichen Abläufe

Die Autorin (Institut für Diaspora- und Genozidforschung der RUB) konzentriert sich auf die Ursachen und die Interpretation von Ungereimtheiten bei der Schilderung von zeitlichen Abläufen. "Man muss berücksichtigen, dass die Menschen in der damaligen Situation keine Fixpunkte hatten. Es gab weder Zeitungen noch öffentliche Uhren. Und auch die ökonomische Rolle der Ghettos ist außen vor geblieben", erklärt Platt. Ziel des Gesetzes ist es, den Rentenanspruch von Personen, die während des Nationalsozialismus in deutschen Ghettos gearbeitet haben, zu gewährleisten. Von den damals 70.000 eingegangenen Anträgen wurden jedoch 80 bis 95 Prozent abgelehnt. Dass ein Überlebender keine monatlichen Lohnabrechnungen aus dem Regal ziehen kann, in denen er "mal eben" nachsieht, hat man ignoriert, denn von den Betroffenen wurde etwas Unmögliches erwartet: nach all den Jahren ohne entsprechende Unterlagen genaue Lohn- und Zeitangaben zu machen.


Ein Fragebogen und seine Auswirkungen

Damit die Antragssteller Ansprüche geltend machen können, ist es wichtig, dass die angegebene Tätigkeit freiwillig und bezahlt ist. Bis das Bundessozialgericht das Gesetz 2009 neu ausgelegt hat, war das schwieriger als gedacht. In wie weit wird die freiwillige Arbeit in einem Ghetto, in dem man sich zwangsweise aufgehalten hat, als solche eingestuft? Und wie macht man dem Richter klar, dass zusätzliche Lebensmittel als Lohn wertvoller waren als Geld? Platt sieht das Problem in der Art der Befragung: "Als Grundlage für die Entscheidungen haben die Rentenversicherungsträger einen Fragebogen im typischen Amtsdeutsch kreiert". NRW ist für die Anträge der Senioren zuständig, die heute in Israel leben. "Diese bekamen das Schriftstück nur in deutscher Sprache und ohne Erklärungen oder Anmerkungen. Mit den Menschen gesprochen hat zunächst niemand", so Platt.


Wikipedia als Quelle

Was die Sozialpsychologin interessiert, ist der Hintergrund für die Haltung der Gerichte. War es Überforderung, da niemand mit der hohen Zahl der Anträge gerechnet hat und eine Experten-Kommission fehlte? Sind die Verantwortlichen bereits mit einer festgelegten Grundeinstellung an die Angelegenheit herangegangen? Oder war es einfach nur fehlende bürokratische Flexibilität? Die Beurteilung der gemachten Aussagen fand fernab der historischen Realität statt. Ein Ghetto, das nicht bei Wikipedia steht, gibt es auch nicht. Historiker wurden erst spät gefragt. Zur Wende kam es erst 2009, als der Senat des Landessozialgerichts die Betroffenen in Israel erstmals persönlich anhörte.


Erinnerung und Traumata

Ausgehend von einer Analyse der Berichte der Überlebenden über ihre Arbeit im Ghetto, erörtert Platt die typischen Aussagecharakteristika von Erinnerungen an traumatische Erfahrungen. Sie zeigt, dass "Erinnerungslücken" und nicht zusammenhängende Darstellungen nicht automatisch auf Widersprüche und fehlende Glaubhaftigkeit hindeuten. Damit leistet sie nicht nur einen Beitrag zur Aufarbeitung eines aktuellen Kapitels der "Wiedergutmachung", sondern darüber hinaus auch zur Einschätzung von Aussagen von Zeugen mit starken psychischen Erschütterungen und seelischen Verletzungen vor Gericht.


Titelaufnahme

Platt, Kristin: Bezweifelte Erinnerung, verweigerte Glaubhaftigkeit - Überlebende des Holocaust in den Ghettorenten-Verfahren, 2012, VII + 518 Seiten, Wilhelm Fink Verlag, 69,00 Euro, ISBN 978-3-7705-5373-0

Angeklickt

Bezweifelte Erinnerung, verweigerte Glaubhaftigkeit - Überlebende des Holocaust in den Ghettorenten-Verfahren
http://www.fink.de/katalog/titel/978-3-7705-5373-0.html

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution2


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Ruhr-Universität Bochum, Dr. Josef König, 01.03.2012
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. März 2012