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DISKURS/008: Beziehungs- oder Sorgearbeit? Versuch einer Orientierung (Olympe)


Olympe Heft 30 - Dezember 2009
Feministische Arbeitshefte zur Politik

Beziehungs- oder Sorgearbeit? Versuch einer Orientierung

Von Mascha Madörin


Es ist nicht klar, was genau zur Care-Arbeit gezählt wird und wann Arbeit Care ist. Einige AutorInnen sehen "Abhängigkeit" von der Sorge anderer, wie sie für Kinder, Kranke und Gebrechliche besteht, als Hauptkriterium für Care. Zentral für diese Sicht sind Begriffe wie "altruistische Motivation" und "Verantwortung" für andere, die dem Konzept des Eigeninteresses widersprechen, das den neoklassischen Markttheorien zugrunde liegt. Maren A. Jochimsen (siehe Buchbesprechung von Anni Lanz am Schluss dieses Kapitels) geht vom Begriff Care als generellem Konzept eines sorgenden respektive vorsorgenden Verhältnisses zur Welt aus und untersucht am Beispiel der Pflege die Besonderheiten des Arbeitsprozesses der "Caring-Arbeit". Das ist ein möglicher Ansatz und, wie die Buchbesprechung zeigt, ein ausgesprochen produktiver, der zu sehr vielen neuen Überlegungen anregt.

Ich selbst habe bei meinen bisherigen Analysen(1) nicht ein sorgendes Verhältnis zur Welt als Ausgangspunkt für meine eigenen Analysen gewählt, sondern ziehe den Begriff der "personenbezogenen Dienstleistung" als übergeordneten Begriff vor, nicht zuletzt, weil mich die Übergänge zwischen unbezahlter Care-Arbeit und bezahlter Dienstleistung - und umgekehrt - interessieren. Aber es ergibt Sinn, die Care-Arbeit als Unterkategorie von personenbezogenen Dienstleistungen, als bezahlte oder unbezahlte Sorge- und Versorgungsarbeit für Kinder, Kranke, Gebrechliche und generell unterstützungsbedürftige Personen zu betrachten, wie dies in allen drei Artikeln dieses Kapitels der Fall ist. "Personenbezogene Dienstleistung" überzeugt mich als übergeordneter Begriff aus folgendem Grund: Vielleicht ändern sich Gefühle, Motivationen und ethische Vorstellungen, und trotzdem ist die Personenbezogenheit sowohl der bezahlten als auch der unbezahlten Care-Arbeit eine unausweichliche Eigenheit mit einer eigenen ökonomischen Logik. Im deutschsprachigen Raum ist von der neuen Frauenbewegung der Begriff "Beziehungsarbeit" geprägt worden. Wie er damals gebraucht wurde, hatte dieser Begriff eine andere Konnotation als Care heute, und er ist dem Begriff "personenbezogene Dienstleistung" näher als Care- oder Sorgearbeit. Hier ist festzuhalten, dass, wie bei der Debatte zur Care-Ökonomie, kein Konsens darüber besteht, welche personenbezogenen Dienstleistungen zur "Care-Arbeit" gezählt werden sollen.


Eine grosse Herausforderung für das ökonomische und politische Denken

Eine der schwierigen, dem bisherigen ökonomischen Denken ziemlich fremden Fragen besteht darin, was eine personenbezogene Dienstleistung oder "Caring-Arbeit" von anderen Dienstleistungen und der Güterproduktion unterscheidet und wie das aus ökonomischer Sicht auf einen Nenner gebracht werden kann. Antwort: Bei der Debatte über Care-Arbeit oder personenbezogene Dienstleistungen geht es um eine Dienstleistung, die ohne Gegenwart der Empfängerin, des Empfängers der Dienstleistung nicht möglich ist. Die Beziehung zwischen Arbeitenden und Empfänger/innen ist immer gegeben, egal welche Qualität sie hat. Die Frage stellt sich dann, was die ökonomischen Voraussetzungen dafür sind, dass beispielsweise eine gute Pflege überhaupt möglich ist (Zeit, Arbeitsteilung und -organisation etc.).

Es gibt unterschiedlich stark personenbezogene Dienstleistungen sowie solche, bei denen besondere Abhängigkeitsverhältnisse und/oder existenzielle Bedürfnisse bestehen. Personenbezogene Dienstleistungen können nicht nur mehr oder weniger lebensnotwendig sein, sie können auch in unterschiedlichem Grad intim sein, einem unterschiedlich "nahe" gehen.

Wichtiges Merkmal aller personenbezogenen Dienstleistungen ist erstens, dass - im Unterschied zur Güterproduktion und zu nichtpersonenbezogenen Dienstleistungen - Produktions- und Konsumtionsprozesse nicht getrennt sind und nicht getrennt werden können. Der Austausch findet direkt zwischen Menschen statt - den DienstleisterInnen und Empfänger/innen - und nicht über den anonymen Markt. Zwischenmenschliche Beziehungen sind Teil des Arbeitsprozesses und des Austauschs. Die Arbeitszeit, die aufgewendet wird, ist Teil der Leistung. Zweitens sind Care-Tätigkeiten wie die Pflege von Kranken oder die Betreuung von Kindern durch ein Machtgefälle zwischen Dienstleistenden und KlientInnen charakterisiert, durch ein Verantwortlichkeits- und Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Betreuer/innen und den Betreuten. Drittens sind Care-Arbeiten meistens prozesshafter Natur, sowohl die Leistungen als auch ihre Wirkungen meistens zu komplex, um quantifiziert werden zu können. Die drei Merkmale widersprechen den Annahmen, die in den gängigen Effizienz-, Anreiz-, Rationalitäts- und Marktvorstellungen als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Nichtsdestotrotz wird gegenwärtig beispielsweise in der Gesundheitspolitik unerbittlich auf ebendiese Modelle zurückgegriffen.

Es wird, wie in der Einleitung zu Kapitel 1 grafisch dargestellt, in allen Gesellschaften sehr viel Sorge- und Versorgungsarbeit geleistet, aber es handelt sich um viele verschiedene Varianten. Die Bereiche der personenbezogenen Dienstleistungen sind riesig, wenn wir die unbezahlte Arbeit dazuzählen. Es fehlt weitgehend eine Wirtschaftsgeschichte der gesellschaftlichen Organisation der "anderen Ökonomie" oder der Care-Ökonomie, der darin herrschenden Arbeits-, Austausch-, Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse. Und es fehlen differenzierte ökonomische Begriffe für die Beschreibung dieser unterschiedlichen Care-Verhältnisse und Care-Arbeiten.

Lange Zeit wurde der Begriff "Care-Arbeit" für die unbezahlte Arbeit im Rahmen der Familie gebraucht. Es schien wie klar, worum es sich dabei handelte, im Unterschied beispielsweise zur Arbeit für den Markt. Die beiden Artikel der Lausanner SozialwissenschafterInnen Marianne Modak, Françoise Messant und Jean-Michel Bonvin zeigen am Beispiel der Sozialarbeit auf eindrückliche Weise die Zwickmühle, in der heute Berufstätige stecken, welche Care-Arbeit leisten: Einerseits passen die in der Familie gelernten Formen des Umsorgens und Betreuens nicht zu den Erfordernissen ihrer Berufsarbeit, andererseits ist in ihrer Berufsarbeit Leistung so definiert, dass die Erfordernisse von Care, die ihrer Berufstätigkeit eigen sind, ignoriert werden. Beide Artikel zeigen in ihren "langsamen" und genauen Argumentationen, wie schwierig es ist, Care-Arbeit als berufliche Herausforderung ernst zu nehmen, sowohl was die Ausbildung für diese Berufe, die Leistungsprofile als auch was die Erfassung und Beurteilung der Leistungen anbelangt. Die Buchbesprechung von Anni Lanz beschreibt, mit welchen Stolpersteinen des Denkens die Ökonomin Maren Jochimsen sich konfrontiert sah, als sie sich auf den Weg machte, "Caring-Arbeit" in ökonomische Kategorien zu fassen.

Care, die Sorge um andere, kann in sehr repressiven, paternalistischen Verhältnissen organisiert sein - oder auch in anderen, demokratischeren. Die Debatte darüber, was denn Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit in dieser "anderen Wirtschaft" der personenbezogenen Dienstleistungen, der Intersubjektivität, heissen könnte, ist bis jetzt kaum geführt worden. Ebenso wenig die Diskussion über die Frage, welche wirtschaftlichen Strukturen Voraussetzung für eine Demokratisierung dieser "anderen Ökonomie" wären.


Anmerkungen:

(1) Beispielsweise im Artikel "Neoliberalismus und die Reorganisation der Care-Ökonomie. Eine Forschungsskizze". In: Jahrbuch 2007 des Denknetz. Zürich, S. 141-162. Etliche meiner Überlegungen haben den Ausgangspunkt in einem erhellenden Artikel der australischen Ökonomin Susan Donath 2000: The Other Economy. A suggestion for a Distinctively Feminist Economics. In: Feminist Economics, vol. 6, (1), S. 115-125.


Autorin:

Mascha Madörin, Ökonomin, lic. rer. pol., forscht gegenwärtig zu feministischer Ökonomie, insbesondere zu Makro- und Mesoökonomie von Care, zur Finanz- und Wirtschaftskrise und zu Gender-Budgets. Sie war an der Erarbeitung der Forschungsberichte zur Schweiz im Rahmen der Unrisd-Studie zu "Political and social economy of care" beteiligt.


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Quelle:
Olympe Heft 30 - Dezember 2009, Seite 66-69
Feministische Arbeitshefte zur Politik
Herausgeberinnen: Redaktion "Olympe"
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Juli 2010