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DISKURS/024: Mensch oder Flasche? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2016

Mensch oder Flasche?
Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Utopie der PfIege-Robotik

Von Gregor Fitzi


Den einzigen Bereich des modernen Lebens, in dem der Fortschrittsglaube noch ungestört vorzuherrschen scheint, bildet die Technologie. Sie verspricht uns eine leuchtende Zukunft, die der Sozialismus uns versagt hat. Dies gilt auch für den Bereich der Pflege.

Durch die öffentliche Debatte geistert ein Krisenszenario: Die Gesellschaften altern, insbesondere in Europa und in Japan. Gleichzeitig mangelt es an Pflegekräften. Das europäische Wohlfahrtssystem lässt sich aus demografischen Gründen nicht mehr finanzieren. Es gibt zu wenig junge Beitragszahlende und zu viele alte Leistungsempfangende.

Systematische Migration könnte das Problem abmildern Aber kaum ein politischer Entscheidungsträger kann sich vorstellen, das Problem in der Pflege durch geregelte Einwanderung und Ausbildungsprogramme zu lösen, denn bereits die aktuelle Situation zeigt, dass Zuwanderung zu kulturellen und religiösen Konflikten sowie zum Erstarken ausländerfeindlicher und populistischer Parteien führt.

In diesem Zusammenhang tauchen die Propheten der Vollautomation mit ihren Zukunftsvisionen auf. Der Ausweg aus der Notlage trägt bei ihnen den Namen Pflege-Robotik, im besten Fall humanoide Robotik. Ein netter, treuer, folgsamer und kluger Diener, womöglich mit großen runden Augen, wird uns zur Seite stehen, der robot companion. Sind wir alt und schwach, wird er für uns einkaufen, kochen und putzen. Sind wir krank, wird er uns pflegen, waschen und Medikamente verabreichen. Leiden wir an Alzheimer, wird er uns betreuen und überwachen. Unsere Kinder und Enkel können beruhigt in Urlaub fahren, der robot companion kümmert sich um uns, selbstverständlich rund um die Uhr, sieben Tage die Woche, ohne Feiertage. Kein Gehalt wird fällig, nur die Stromrechnung. Ähnliches gilt für Pflegeheime. Statt eine Schar von Pflegerinnen und Pflegern zu beschäftigen, wird es ausreichen eine begrenzte Anzahl von supervisors einzustellen. Mittels Kameras überwachen sie in einem Kontrollraum den geordneten Ablauf des Betriebs. Ein Roboter verteilt die Medikamente, ein zweiter das Essen, ein dritter wäscht die Patienten. Ein Konversationsroboter sorgt für Zuwendung, Gespräch und Unterhaltung. Er ist so programmiert, dass er 27 Sprachen beherrscht. Das biologische Personal muss nur bei Betriebsstörungen eingreifen. Die Kostenersparnisse für die Sozialsysteme sind beträchtlich, zwischen 20 und 35 % der Stellen könnten bereits in den ersten fünf Jahren abgebaut werden.

Wer Visionen hat, wird Gegenstand der Ideologiekritik. Soziologisch betrachtet, heißt das im Sinne von Karl Marx und Karl Mannheim zu klären, woher die Visionen kommen; nach Max Weber setzt dies die Auswertung ihrer Umsetzbarkeit voraus. Geht man diesen Fragen beim Thema der Pflege-Robotik nach, begibt man sich auf eine faszinierende Reise durch Japans Gesellschaft und Kultur sowie durch seine anhaltende Wirtschaftskrise.

Anfang der 90er Jahre stand fest, dass Japans rasante Wirtschaftsentwicklung zum Stillstand gekommen war. Die Deflation drückte die Binnennachfrage. Die aggressive Konkurrenz aus China und Süd-Korea verursachte einen Einbruch bei den Exporten. Die Automatisierungsrevolution in der Fabrikproduktion war in den 70er und 80er Jahren vollzogen worden. Japan war dabei zum Weltmarktführer aufgestiegen, allerdings war irgendwann die Nachfrage gesättigt. Neue Märkte für Fabrik-Robotik waren nicht in Sicht. Die japanische Gesellschaft veraltete rapide. Der nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs erlangte Reichtum sowie das internationale Prestige des Landes standen zur Disposition.

Zum Kulturerbe Japans gehört die Einstellung, dass Krisensituationen durch kollektive Mobilmachung zu bewältigen seien. Seit den 90er Jahren verabschiedeten die amtierenden Regierungen umfangreiche staatliche Investitionsprogramme, um die technologische Forschung anzukurbeln und Produkte für zukunftsträchtige Märkte zu entwickeln. Es war die Inkubationsphase der Idee, dass eine Konsum-Robotik, die den Schritt aus der Fabrik schafft und zum Massenprodukt wird, einen neuen wirtschaftlichen Aufschwung ermöglichen kann. Jedoch erst die neoliberale Regierung Jun'ichiro Koizumis wusste zwischen 2001 und 2006, wie man aus der robotischen Utopie ein politisches Zukunftsprogramm macht, nämlich indem man sie zur Lösung für die Notlage der Wohlfahrtssysteme in alternden Gesellschaften hochstilisiert. Auf die großzügigen Ausschreibungen für die Entwicklung von Pflege-Robotern reagierten sowohl öffentliche als auch private Forschungsträger, die sich bemühten, dezidiert benutzerfreundliche Geräte zu entwickeln.

Es schlug die große Stunde der humanoiden Robotik. Roboter sollten möglichst menschenähnlich aussehen, Züge der menschlichen Mimik und Gestik aufweisen, auf zwei Beinen laufen und Treppen hinaufsteigen können, menschliche Sprache erkennen und darauf antworten können. Die Designrichtlinien entsprachen dem traditionellen Verständnis der in Japan stark ritualisierten Interaktionsmodalitäten. Der robot companion sollte sich wie ein treuer Diener stillschweigend und geschmeidig an den ungeschriebenen Regeln einzelner gesellschaftlicher Situationen anpassen. Viele Millionen an Forschungsgeldern wurden investiert, um reale Interaktionsszenarien in Familien, Shoppingmalls, an Ticketschaltern in Bahnhöfen, an Arbeitsplätzen usw. zu beobachten, zu berechnen und zu digitalisieren, damit sie in die Software der robot companions implementiert werden. Im Zuge des damit ausgelösten technologischen Hypes floss allerdings auch viel Geld, um technologische Esoterik zu fördern. So wurden Kinder-Roboter entwickelt, die menschliche Lern- und Wachstumsprozesse nachahmen sollten. Repliken lebender Personen in Naturgröße wurden bereitgestellt, um Täuschungsexperimente mit Laiennutzern durchzuführen. Des Weiteren wurde mit der Übertragung menschlicher Präsenz durch multisensorielle Seh-, Hör- und Tast-Roboter experimentiert und dergleichen mehr. Den symbolischen Höhepunkt der Entwicklung erreichte 2005 die Kommerzialisierung eines humanoiden Roboters, Hondas Asimo.

Die Bereitstellung einer Schar neuer robotischer Produkte führte jedoch nicht zum erwünschten wirtschaftlichen Durchbruch. Und zum finalen Glaubwürdigkeitsverlust der robotischen Utopie kam es 2011, als nach dem Erdbeben und dem Super-GAU im Atomkraftwerk von Fukushima nicht japanische, sondern US-amerikanische Rescue-Roboter eingesetzt wurden. Der Grund lag zwar darin, dass in Japan laut der Verfassung von 1947 keine Militärtechnologie entwickelt werden darf, somit auch keine strahlungsabweisenden Roboter. Die Kritik, wofür denn eigentlich über ein paar Jahrzehnte so viele öffentliche Mittel investiert worden waren, ließ sich jedoch nicht unterdrücken. Seither ist die japanische Robotik auf einen weit bescheideneren Kurs eingeschwenkt.

Nachahmungsversuche der japanischen Robotik gab es vor allem in Europa. Hier wurde ab 2009 der Versuch unternommen, einen europäischen robot companion zu entwickeln. Die Europäische Kommission stieg jedoch Ende 2012 aus dem Finanzierungsplan aus. In den USA gibt es gewöhnlich weniger Interesse für die Digitalisierung des Pflege-Bereichs, da der Schwerpunkt der dortigen Unternehmen in der kommerziellen Ausbeutung der Big Data sowie in der Militärrobotik liegt.

Die Utopie der Pflege-Robotik hat sich trotz aller Rückschläge jedoch von ihrer japanischen Herkunftsgeschichte gelöst und taucht in den Medien regelmäßig wieder auf. Was ihre technische Umsetzbarkeit betrifft, so muss man allerdings eine sehr breite Kluft zwischen dem aktuellen Stand der Forschung und den Versprechen der Vollautomation-Propheten konstatieren. Die Medien tragen hierbei eine bedeutende Mitschuld an der verzerrten Wahrnehmung, wenn sie jeden noch so kleinen Fortschritt in eine knallige Schlagzeile gießen.

Über den aktuellen Stand der Robotik-Forschung kann vielleicht am besten die lakonische Aussage eines japanischen Forschers Aufschluss geben. Auf die Frage, wie ein Roboter die Gegenwart eines Menschen erkennt, lautete die Antwort: "Dies ist noch problematisch. Der Roboter hat große Schwierigkeiten, einen Menschen von einer Flasche zu unterscheiden. Denn in ihrer Gestalt sehen sich beide Silhouetten doch sehr ähnlich aus". Die Videoausschnitte, die auf Robotik-Tagungen oder im Internet zu sehen sind, stellen das dar, was japanische Robotik-Ingenieure als die Champions-League-Experimente bezeichnen. Das sind dann jeweils die 20 Sekunden, in deren ein Roboter alles richtig macht ohne umzufallen. Dem stehen Zehntausende Experimentsequenzen gegenüber, in denen er es nicht schafft.

Das sozialpolitische Paradigma, wonach sich zukünftige Engpässe der Wohlfahrtssysteme durch Digitalisierung, u.a. mittels Pflege-Robotik, überwinden lassen, feiert trotzdem weitere Erfolge. Es wird als Argument eingesetzt, um Forschungsgelder zu akquirieren, sowie um Einschnitte in der Sozialpolitik zu rechtfertigen. Dies gilt für Japan wie für Europa. Daraus resultiert auf der anderen Seite, dass die Finanzierung der Forschung auf dem Gebiet anderer sozialpolitischer Fragestellungen zurückgefahren wird. Zum einen die Frage nach einer nachhaltigen Umschichtung sozialstaatlicher Ressourcen, die es angesichts der Gesellschaftsalterung ermöglicht, die Systeme des europäischen Wohlfahrtssystems zu sichern. Zum zweiten die Frage nach einer modernen Familienpolitik, die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessert, sodass evtl. auch die Geburtenraten in Europa wieder steigen können. Und drittens die Frage, wie sich eine vorausschauende Migrations- und Ausbildungspolitik aufbauen lässt, damit die fehlenden jungen Arbeitskräfte nach Europa gebracht werden können, ohne dass dies wie aktuell zu lebensgefährlichem und konfliktträchtigem Chaos führt.

Die letzte Frage wird für Japan erst dann beantwortet werden können, wenn Nordkorea zusammenbricht und Millionen junge, ausgehungerte aber arbeitstüchtige Flüchtlinge nach Japan kommen werden. In Europa ist dieses Szenario bereits Realität. Demgegenüber stellen die Digitalisierungsutopien ein gutes Mittel dar, um die soziale Entwicklung unserer Gesellschaften kollektiv zu verdrängen.


Gregor Fitzi ist Vertretungsprofessor für Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie an der Uni Bielefeld. Er leitete das DFG-Projekt "Robotik im interkulturellen Vergleich: Europa und Japan". 2015 erschien bei Velbrück: Grenzen des Konsenses. Rekonstruktion einer Theorie transnormativer Vergesellschaftung.
gregor.fitzi@uni-bielefeld.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2016, S. 47 - 50
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von
Kurt Beck, Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka,
Thomas Meyer und Bascha Mika
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Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Februar 2016

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