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EHRENAMT/034: Handeln für das Gemeinwohl (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 125/September 2009
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Handeln für das Gemeinwohl
Eine differenzierte Bilanz bürgerschaftlichen Engagements

Von Mareike Alscher, Dietmar Dathe, Eckhard Priller und Rudolf Speth


Rund ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland - zwischen 30 und 36 Prozent - engagiert sich freiwillig. Gleichzeitig klagen zivilgesellschaftliche Organisationen über einen Rückgang der Bereitschaft zum Engagement. Das sind Ergebnisse eines vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderten Berichts zur Lage des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland, der von der Projektgruppe Zivilengagement am WZB erarbeitet und kürzlich veröffentlicht wurde. Familien, Kinder und Senioren sind demnach wichtige Empfänger von Engagement, und zugleich engagieren sich Familien überdurchschnittlich häufig. Dabei wird das familienbezogene Engagement immer noch überwiegend von Frauen geleistet.

Das facettenreiche Konzept des bürgerschaftlichen Engagements hat die Politik, die Öffentlichkeit und die Wissenschaften in den letzten Jahren besonders bewegt. Viele Bürgerinnen und Bürger beteiligen sich an selbstorganisierten Aktivitäten und leisten einen Beitrag für gemeinschaftliche und gesellschaftliche Belange; sie geben Geld, aber auch Zeit, Energie und Ideen. Dieses Engagement wird als Ausdruck einer vitalen Zivilgesellschaft und als Grundlage für das Funktionieren einer modernen Gesellschaft angesehen. Das Potenzial freiwilligen Engagements für die Stärkung eines demokratischen Gemeinwesens und des gesellschaftlichen Zusammenhalts wird seit langem hervorgehoben. Die Beiträge zur Wohlfahrtsproduktion, zur Verbesserung der sozialen Infrastruktur und zur Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten bleiben dagegen meist unterbelichtet. Dabei trägt Engagement wesentlich zur Verbesserung der Lebensqualität in vielen Bereichen des gesellschaftlichen und privaten Lebens bei.

Das stark gewachsene Interesse am Zivilengagement, in Deutschland wie international, ist vor allem auf aktuelle Gesellschaftsentwicklungen zurückzuführen: zunehmende Individualisierung, soziale Desintegration, Verlust sozialer Bindungen, geringer werdendes Interesse an Politik und das Schwinden der Leistungsfähigkeit traditioneller Sozialsysteme. Selbst im Zusammenhang mit der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise wird über Engagement diskutiert. Noch ist unklar, ob die Menschen durch deren Auswirkungen mehr zusammenrücken oder sich verstärkt um die eigenen Dinge kümmern werden. Der "Bericht zur Lage und zu den Perspektiven des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland", der von der WZB-Projektgruppe Zivilengagement vorgelegt und vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert wurde, zieht Bilanz und bietet erstmals eine systematische Übersicht, die neben dem individuellen Engagement die Ebene der zivilgesellschaftlichen Organisationen mit berücksichtigt. Der Bericht spricht Empfehlungen für eine differenzierte Engagementpolitik aus und zeigt zugleich Felder der künftigen Forschung in diesem Bereich auf.

Nach Angaben aus unterschiedlichen Erhebungen engagieren sich in Deutschland derzeit zwischen 30 und 36 Prozent der Bürgerinnen und Bürger. Seit Mitte der 1980er Jahre lässt sich ein steigender Trend der Engagementbeteiligung in Deutschland beobachten (vgl. Abbildung 1).

Besonders das regelmäßige Engagement, das mindestens einmal im Monat ausgeübt wird, weist eine beachtliche Stabilität auf. Seit 1998 hat es ununterbrochen zugenommen, und die entsprechende Engagementquote erreichte 2007 den Wert von 17 Prozent. Zugleich ist der Anteil jener recht hoch, die nur selten aktiv sind. Gerade das Engagement dieser Gruppe schwankt im Zeitverlauf deutlich. Ob man dabei schon von Zyklen des Engagements sprechen kann, muss angesichts der bislang verfügbaren Daten offen bleiben.

Eine Längsschnittanalyse belegt, dass ein bedeutender Teil der Aktiven das Engagement nur für einen begrenzten Zeitraum ausübt. Das Engagement ist also durch relativ kurzfristige Ein- und Austritte gekennzeichnet. Dies mag einer der Gründe dafür sein, dass zivilgesellschaftliche Organisationen die Gewinnung und Bindung Engagierter als ein großes Problem charakterisieren, das beispielsweise im aktuellen Sportentwicklungsbericht 2007/2008 beschrieben wird.

Aus der Fachdiskussion bekannt ist die überproportional starke Beteiligung der Mittelschicht. Es sind allerdings nicht vordergründig Bildungsniveau und Einkommenshöhe, die ein Engagement begünstigen. Vielmehr bilden beide Faktoren die Voraussetzung für eine bessere soziale Einbindung und Vernetzung, die oft mit einem stärkeren bürgerschaftlichen Engagement einhergehen. Angesichts dieses Zusammenhangs dürfte der Rückgang der Erwerbstätigkeit durch die Finanz- und Wirtschaftskrise das Ausmaß des Engagements negativ beeinflussen.

Auch der demographische Wandel wird das Engagement verändern: An Bedeutung wird es in jenen Bereichen gewinnen, in denen es um die Belange der Älteren geht. Dagegen ist mit einem quantitativen Rückgang des freiwilligen Engagements für Kinder und Jugendliche zu rechnen.

Umso drängender wird die Vereinbarkeit verschiedener Lebensbereiche zu einer wichtigen gesellschaftspolitischen Herausforderung. Vereinbarkeit bezieht sich dabei vor allem darauf, die Bereiche Familie und Beruf miteinander in Einklang zu bringen. Angesichts eines wachsenden Stellenwerts des Engagements sollte dieser Bereich in der Diskussion um eine Work-Life-Balance berücksichtigt werden.

Bislang zeigt sich, dass Frauen durch das Zusammenspiel von Familie, Beruf und Engagement stärker belastet sind als Männer. Dies findet in den unterschiedlichen Engagementquoten seinen Ausdruck: Frauen sind in zivilgesellschaftlichen Organisationen in einem geringeren Umfang aktiv als Männer.

Das wird zum einen auf ihre Hauptverantwortung bei der Kinderbetreuung zurückgeführt. Zum anderen wirkt sich die Einbindung in das Erwerbsleben bei Frauen negativ auf ihr freiwilliges Engagement aus. Dies wird dadurch bestätigt, dass ihr Engagement bei steigender Arbeitszeit sinkt. Der Einfluss von Familie und Beruf auf das Engagement von Frauen zeigt sich besonders deutlich bei der Betrachtung von Frauen und Männern in Paarhaushalten mit Kindern: Je höher das wöchentliche Arbeitszeitvolumen bei Frauen, desto geringer ist ihr zeitlicher Einsatz für ehrenamtliche Aktivitäten. Bei Männern verhält es sich genau umgekehrt: Ihr Engagement nimmt bei steigender Arbeitszeit zu (vgl. Abbildung 2).

Von den Frauen in Paarhaushalten mit Kindern und einer wöchentlichen Arbeitszeit von 20 - 25 Stunden sind 87,5 Prozent engagiert, aber nur 28,4 Prozent der Frauen mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 - 45 Stunden.

Frauen sind mit Blick auf ihr Engagement Männern gegenüber benachteiligt, die zeitlichen und inhaltlichen Anforderungen aus den Bereichen Familie, Beruf und Engagement aufeinander abzustimmen.

Frauen sind überdurchschnittlich in jenen Feldern engagiert, die eine Nähe zur Familie aufweisen. Der Frauenanteil im Engagement für Kinder und Jugendliche liegt nach Angaben aus dem "Engagementatlas", einer Untersuchung aus dem Jahr 2008, bei 62 Prozent (Männer: 38 Prozent) und im Bereich Soziales, Gesundheit und Pflege bei 63 Prozent (Männer: 37 Prozent).

In Zeiten demographischen Wandels und sich verändernder Geschlechterverhältnisse erhalten jene freiwilligen Leistungen einen neuen Stellenwert, die auf die Familie gerichtet sind. Insgesamt 49 Prozent des Engagements kommen Familien, Kindern und Senioren zugute. Aber Familien empfangen nicht nur Unterstützung; sie zählen auch zu den Hauptakteuren des Engagements. Paare mit Kindern bis 14 Jahren sind mit 66 Prozent überdurchschnittlich häufig freiwillig aktiv. Die Analysen belegen des Weiteren, dass Engagement für Familien grundsätzlich - in Relation zu öffentlichen und privatwirtschaftlichen Leistungen - nur ergänzende Funktionen hat. So werden die familienbezogenen Aktivitäten in der Regel nur ein- bis zweimal wöchentlich ausgeübt. Durch ihren zusätzlichen Charakter erhalten die Angebote aber eine besondere Eigenschaft: den Gewinn an Lebensqualität.

Das familienbezogene Engagement findet in zahlreichen Verbänden, in Vereinen und Netzwerkstrukturen statt, aber auch in schwach oder gar nicht formalisierten Strukturen, zwischen Nachbarn, Freunden und Bekannten. Es umfasst eine breite Palette von Leistungen wie kurzfristige Betreuung, Besorgungen sowie Freizeit- und Bildungsangebote, etwa in Form von Vorleserunden oder Hausaufgabenbetreuung. Informelles Engagement gibt es in einem besonderen Maße im Pflegebereich. Heute beteiligen sich über 15 Prozent der Bevölkerung an Pflegeaktivitäten in Privathaushalten. Dabei handelt es sich vor allem um Freunde, Nachbarn und Bekannte.

Trotz der Bedeutung der informellen Hilfe wird freiwillige Unterstützung immer noch überwiegend von Mitgliedern zivilgesellschaftlicher Organisationen geleistet. Besonders die Anzahl der eingetragenen Vereine ist über einen längeren Zeitraum dynamisch gewachsen: Sie hat sich von rund 86.000 im Jahr 1960 mehr als versechsfacht: auf 554.000 im Jahr 2008. Damit waren 674 Vereine je 100.000 Einwohner in die Vereinsregister eingetragen.

Nach dem kontinuierlichen Anstieg gab es in den Jahren 2005 bis 2008 einen Rückgang der Vereinszahlen um 40.000 Vereine. Die Frage, ob der Rückgang bereits eine Trendwende anzeigt, kann noch nicht eindeutig beantwortet werden. Zumindest deuten sinkende Mitgliederzahlen auf zunehmende Probleme hin. Im Sport ist die Bindung und Gewinnung ehrenamtlicher Mitarbeiter auf der Vorstands- und Ausführungsebene (Trainer, Übungsleiter, Schieds- und Kampfrichter) bereits für eine Reihe von Vereinen zu einem existenziellen Problem geworden.

Neben den Vereinen haben Stiftungen als die ältesten zivilgesellschaftlichen Organisationsformen in den letzten Jahren in Deutschland eine Renaissance erlebt. Das Stiftungswesen hat sich besonders dynamisch entwickelt. Nach Angaben des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen gab es Anfang 2009 insgesamt 16.406 rechtsfähige Stiftungen bürgerlichen Rechts - rund 6 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Hälfte dieser Stiftungen wurde in den letzten zehn Jahren gegründet. Im Jahr 2008 wurden über 1.000 Stiftungen neu errichtet, 2007 über 1.100.

Dabei nahm das Stiftungsvermögen nicht in gleicher Weise wie die Zahl der Stiftungen zu. Die deutschen Stiftungen verfügen nach Schätzungen des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen über mehr als 100 Mrd. Euro an Stiftungskapital. Der überwiegende Teil der Stiftungen hat nur einen geringen Vermögensstock, der durch die Möglichkeit der Zustiftung allerdings wächst. Mehr als die Hälfte der Stiftungen (54 Prozent) können bis zu 50.000 Euro im Jahr ausgeben und nur 10 Prozent mehr als 2,5 Mio. Euro. Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat das Vermögen der Stiftungen allerdings geschmälert. Die Krise kann sich künftig auch negativ auf die Zahl der Stiftungsgründungen auswirken.

Stiftungen stehen als zivilgesellschaftliche Organisationen zugleich in der Kritik. Sie verfügen nicht über die demokratischen Organisationsformen wie Vereine. Darüber hinaus genießen Stiftungen und Stifter besondere steuerrechtliche Privilegien, die in den letzten Jahren erheblich ausgeweitet wurden. Die Kritik entzündet sich an der fehlenden Transparenz und Rechenschaftspflicht von Stiftungen. Die Jahresberichte und die Jahresabschlüsse liegen zwar bei den Behörden der Stiftungsaufsicht vor. Notwendig wäre aber, diese Berichte über das Internet zugänglich zu machen und ein bundeseinheitliches Stiftungsregister einzuführen.

Der vom WZB vorgelegte Bericht ist ein Vorläufer für die künftig einmal pro Legislaturperiode erfolgende Berichterstattung zum bürgerschaftlichen Engagement, mit deren Erstellung der Bundestag die Bundesregierung beauftragt hat. Der zukünftige Bericht enthält eine Stellungnahme der Bundesregierung und wird - auf thematische Schwerpunkte konzentriert - die Entwicklung des bürgerschaftlichen Engagements darstellen. Dabei soll der Stand der Engagementpolitik einschließlich der politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland berücksichtigt werden.

Wie der Bericht zeigt, handelt es sich beim bürgerschaftlichen Engagement um ein vitales Konzept, das sich durchaus wandelt und stetig Neues entstehen lässt. Die Forschung muss dies künftig stärker berücksichtigen.


Dietmar Dathe, Diplom-Ökonom, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt "Potenziale und Grenzen von Zivilgesellschaft und bürgerschaftlichem Engagement in Deutschland".
dathe@wzb.eu

Eckhard Priller forscht seit 1992 am WZB über den Dritten Sektor. Er leitet das Projekt "Potenziale und Grenzen von Zivilgesellschaft und bürgerschaftlichem Engagement in Deutschland".
priller@wzb.eu

Mareike Alscher, Dipl.-Soziologin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt "Potenziale und Grenzen von Zivilgesellschaft und bürgerschaftlichem Engagement in Deutschland".
alscher@wzb.eu

Rudolf Speth, Politikwissenschaftler und Privatdozent am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der FU Berlin, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt "Potenziale und Grenzen von Zivilgesellschaft und bürgerschaftlichem Engagement in Deutschland".
speth@wzb.eu


Literatur

Mareike Alscher, Dietmar Dathe, Eckhard Priller, Rudolf Speth, Bericht zur Lage und zu den Perspektiven des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland (herausgegeben vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend), Berlin: BMFSFJ 2009, 221 S.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abbildung 1: Entwicklung der Engagementquote in Deutschland, 1985-2007
Abbildung 2: Anteil des Engagements nach Arbeitszeit und Geschlecht in Paarhaushalten mit Kindern, 2007


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 125, September 2009, Seite 36-39
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wzb.eu

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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Oktober 2009