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FAMILIE/240: Die Arbeit in der Familie - Dokument des Unsichtbaren (DJI)


DJI Bulletin 1/2010, Heft 89
Deutsches Jugendinstitut e.V.

Dokument des Unsichtbaren

Von Lucia Schuhegger und Barbara Thiessen


Die meisten Frauen und Männer lernen bei der täglichen Arbeit in der Familie mehr, als sie glauben. Der »FamCompass« hilft bei der systematischen Erkundung dieser informellen Kompetenzen, die bei einem Neustart in der Berufswelt entscheidend sein können.


Mit dem Leitgedanken des lebenslangen Lernens setzte auch in Deutschland die Diskussion über die Möglichkeiten zur Anerkennung informeller Kompetenzen ein. Damit rückte die Familie als Lernort in den Blick. Wie Untersuchungen inzwischen belegen, erwerben Frauen und Männer im Familienalltag etliche Schlüsselqualifikationen und soziale Kompetenzen. Dazu gehören beispielsweise Einfühlungsvermögen, Organisationsfähigkeit, Flexibilität und Verantwortungsbewusstsein (Zierau 1991; Erler/Nußhart 2000; Erler 2007). Unbestreitbar sind diese Kompetenzen auch für die Erwerbsarbeit von Bedeutung. Wie aber lassen sie sich nachweisen? Und sind neben Sozialkompetenzen auch Fach- und Methodenkompetenzen festzustellen? Im Projekt »Family Competencies Portfolio« (FamCompass) hat das Deutsche Jugendinstitut (DJI) gemeinsam mit Kooperationspartnern aus anderen europäischen Ländern ein Portfolio-Verfahren entwickelt, mit dessen Hilfe im Familienalltag erworbene Kompetenzen dokumentiert und bewertet werden können. Dadurch können zum Beispiel Mütter ohne Berufsausbildung oder Migrantinnen und Migranten, deren Abschlüsse nicht anerkannt sind, eine Perspektive für einen (Wieder-)Einstieg in den Beruf oder in eine Ausbildung erhalten.


96 Milliarden Stunden unbezahlte Arbeit

In den privaten Haushalten in Deutschland werden jährlich 96 Milliarden Stunden unbezahlter Arbeit geleistet, das 1,7-fache im Vergleich zur Erwerbsarbeit (BMFSFJ 2006). Diese Relation zeigt, dass im Familienalltag insbesondere von Frauen ein wesentlicher Bestandteil gesellschaftlich notwendiger Arbeit erledigt wird: Neben der täglich anfallenden Hausarbeit werden Kinder erzogen, alte Menschen versorgt und Kranke gepflegt. Die Arbeit in Familien verknüpft damit instrumentell-technische Tätigkeiten mit Erziehungs- und Pflegeleistungen, die emotionale Zuwendung erfordern. Dies macht sie gleichermaßen anspruchsvoll wie unterbewertet.

Der sogenannte FamCompass knüpft an bestehenden Verfahren im Bereich des informellen Lernens an. Grundlagen sind die vom DJI mitentwickelte »Kompetenzbilanz« (Erler 2007) sowie Portfolio-Verfahren, die europaweit zur Bewertung und Anerkennung von Kompetenzen entwickelt wurden (Reaction 2007). Der FamCompass verfolgt das Ziel, bereits erworbene Familienkompetenzen bei der Ausbildung und Erwerbstätigkeit in sozialen, pflegerischen und pädagogischen Berufen stärker anzuerkennen. Im Portfolio-Verfahren schätzen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer anhand einer Kompetenzliste ihre Fähigkeiten selbst ein und dokumentieren sie in verschiedenen Schritten. Dieses Portfolio wird durch unabhängige Gutachterinnen und Gutachter bewertet.


Wie sich Familienkompetenzen messen lassen

Ausgangspunkt für die Kompetenzliste sind Berufsprofile aus den Bereichen Pflege, Pädagogik und Sozialarbeit der sieben beteiligten Partnerländer Deutschland, Finnland, Polen, Belgien, Rumänien, Litauen und der Slowakei. Aus den ermittelten beruflichen Handlungskompetenzen wurden jeweils diejenigen personalen Sozial-, Fach- und Methoden-Kompetenzen herausgefiltert, die im familialen Kontext erworben werden können. Insgesamt definiert der FamCompass 175 verschiedene Subkompetenzen wie beispielsweise die Förderung der Sprachentwicklung eines Kleinkindes, die Unterstützung eines Kindes mit Lernschwächen oder die Pflege einer Seniorin mit einer Demenzerkrankung. Die Aufgabe für die Teilnehmenden besteht darin, ihre Kompetenzen auf einer Skala von fünf Levels selbst einzuschätzen. In einem Reflexionsteil sind die Frauen und Männer aufgefordert, eine Stärken-Schwächen-Analyse auszuführen. Außerdem sollen sie ihre Kompetenzen anhand konkreter Alltagsbeispiele aufzeigen. Ziel dieser Aufgabe ist es, das eigene Handeln und dessen Resultat zu bewerten und über eigene Entwicklungsbedürfnisse zu reflektieren. Zuletzt werden die Teilnehmenden aufgefordert, Problemlösungen für zwei Fallstudien zu erarbeiten: eine aus dem Familienkontext und eine aus einem beruflichen Zusammenhang.

Da Familienarbeit oft ein vielfältiges Engagement, Fortbildungen und Kooperationen mit unterschiedlichen Professionen beinhaltet, bezieht der FamCompass auch Nachweise Dritter ein. Bestätigungen von Fortbildungen zum Beispiel zur häuslichen Pflege können hier ebenso eine Rolle spielen wie der Nachweis über die engagierte Elternarbeit in der Schule oder ein Empfehlungsschreiben eines Adoptionszentrums oder einer logopädischen Praxis.

Aufgabe der Gutachterinnen und Gutachter ist es, die einzelnen Teile des Portfolios nach eindeutig definierten Kriterien zu bewerten. Hierfür wurde eine ausführliche und differenzierte Handreichung erarbeitet. Je Portfolio ist die Begutachtung durch mindestens zwei unabhängige Gutachterinnen und Gutachter vorgeschrieben, um die Reliabilität der Bewertungen sicherzustellen.


Fähigkeiten entdecken und offensiv vertreten

Der FamCompass wurde bereits in zwei Testphasen in den Partnerländern erprobt. Dabei zeigte sich, dass Gutachterinnen und Gutachter deutlich übereinstimmend bewerteten. Als problematisch erwies sich allerdings, dass das Portfolio bei den Testpersonen selbst eine relativ hohe Reflexions- und Artikulationsfähigkeit voraussetzt. Insbesondere weniger gebildete Berufsrückkehrerinnen und -rückkehrer sowie Migrantinnen und Migranten konnten diese Anforderungen des Öfteren alleine nicht erfüllen. Sie benötigten deshalb eine intensive Begleitung.

Für viele der 173 Testpersonen hat sich die Mühe allerdings gelohnt: Nicht selten reagierten sie überrascht über ihre vielfältigen Kompetenzen und deren Bedeutung in der Arbeitswelt. Der FamCompass führte bereits in den Erprobungsphasen zur Rekrutierung von Tagesmüttern, zum Erlass von Ausbildungsmodulen und zu manch erfolgreichem Berufseinstieg.


Das Projekt »Family Competencies Portfolio« (FamCompass), das Ende des Jahres 2009 abgeschlossen wurde, ist ein multilaterales Kooperationsprojekt im Programm für Lebenslanges Lernen der Europäischen Kommission. Als Projektpartner wirkten neben dem Deutschen Jugendinstitut (DJI) Universitäten, Forschungsinstitute und Bildungsinstitutionen in sieben europäischen Staaten mit. Weitere Informationen sind im Internet erhältlich unter www.famcompass.eu oder www.dji.de/famcompass. Die Autorinnen Lucia Schuhegger und Dr. Barbara Thiessen sind Wissenschaftlerinnen in der Familienabteilung des DJI.



Literatur

Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend (BMFSFJ) (2006): Siebter Familienbericht. Berlin

Erler, Wolfgang / Gerzer-Sass, Annemarie / Nußhart, Christine / Sass, Jürgen (2007): Die Kompetenzbilanz. Ein Instrument zur Selbsteinschätzung und beruflichen Entwicklung. In: Erpenbeck, John / Rosenstiel, Lutz von (Hrsg.): Handbuch Kompetenzmessung. Stuttgart, S. 373-387

Erler, Wolfgang / Nußhart, Christine (2000): Familienkompetenzen als Potenzial einer innovativen Personalentwicklung.Trends in Deutschland und Europa. Bonn

Resch, Marianne (1998): Arbeitsanalyse im Haushalt. Erhebung und Bewertung von Tätigkeiten außerhalb der Erwerbsarbeit mit dem AVAH-Verfahren. Zürich

Reaction (2007): Validation and Recognition of Experiental Learning. Kaunas

Thiele-Wittig, Maria (1987): ... der Haushalt ist fast immer betroffen - »Neue Hausarbeit« als Folge des Wandels der Lebensbedingungen. In: Hauswirtschaft und Wissenschaft, Heft 3, S. 119-127

Zierau, Johanna / Völkening, Gertrud / Glade, Anne (1991): Möglichkeiten zur aus- und fortbildungsverkürzenden Anerkennung von Familientätigkeit. Hannover


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Quelle:
DJI-Bulletin Heft 1/2010, Heft 89, S.27-28
Herausgeber:
Deutsches Jugendinstitut e.V. (DJI)
Nockherstraße 2, 81541 München
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Mai 2010