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FAMILIE/252: Familie - macht arm, macht reich (welt der frau)


welt der frau 12/2010 - Die österreichische Frauenzeitschrift

Familie: macht arm, macht reich

Von Heike Hausensteiner


Kinder brauchen Reichtum an Zuwendung und bereichern ihrerseits die Gesellschaft in vielerlei Hinsicht. Doch sie kosten auch Geld und machen viele Eltern arm. Das reiche Österreich tut dagegen alarmierend wenig, finden ExpertInnen.


Selina gibt schon wieder eine pampige Antwort. Eva, ihre Mutter, muss sich beherrschen. Sie atmet tief durch, tritt einen Schritt zurück und denkt sich: "Okay, wachsen tut weh, manchmal auch mir." Selina ist 13 und mitten in der Pubertät. Schwierige Tage sind das manchmal für die Familie. Und trotzdem stehen Papi Herbert und Mami Eva zu ihrer Tochter und sind stolz auf sie. Damals, als Selina ihre ersten Schrittchen machte, ging Eva das Herz auf. Die Freude, die einem ein Kind bereitet, ist auch mit Mühsal verbunden: Nase putzen, das kranke Kind pflegen, den gebrochenen Arm röntgen lassen. Und dennoch gibt es wohl kaum Eltern, die tauschen und lieber alleine leben möchten. Denn Familie macht reich.


Familie bietet Schutz

Das Konzept hat sich bewährt. Zwar ist die Familie im 21. Jahrhundert angekommen, aber es gibt sie immer noch. Sei es als Patchwork-Familie, als Regenbogen-Familie zweier gleichgeschlechtlicher Elternteile, sei es die alleinerziehende Mutter oder in der klassischen Form als Vater-Mutter-Kinder-Familie. Familie bietet Schutz und ist ein Raum, wo man sich geborgen fühlt. "Familie ist der Ort, wo sich das erste Selbstwertgefühl entwickelt. Das ist die Basis, dass wir Urvertrauen haben, dass wir in schwierigen Situationen ans Weitermachen glauben", sagt Martina Leibovici-Mühlberger. Und dennoch sind in den vergangenen hundert Jahren deutlich weniger Kinder zur Welt gekommen: Die Geburtenrate ist von rund vier an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auf durchschnittlich ein Kind pro Frau in Österreich zurückgegangen. Die Gesellschaft sei "hyperindividualistisch" geworden, erklärt die Erziehungsberaterin, Ärztin und Psychotherapeutin. Nach dem Motto: "Wenn's mir passt, fliege ich morgen nach Bali oder Singapur, ich möchte tun, was ich will." In dieses Konzept des Hyperindividualismus passen Kinder nur sehr beschränkt.

Zudem sind laut Umfragen in erster Linie Männer nicht dazu bereit, für ein Kind auf etwas zu verzichten. Der unterentwickelte Wunsch nach einem eigenen Kind geht zumindest aus Untersuchungen von BevölkerungswissenschaftlerInnen hervor. Eigentlich müsste man daher eher von einem "Zeugungsstreik" bei Männern als von einem "Gebärstreik" bei Frauen sprechen.

"Unser Leben ist nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten organisiert", gibt Martina Leibovici-Mühlberger zu bedenken, "daraus resultiert ein unwahrscheinliches gesellschaftliches Lebenstempo." Ob sich das mit dem Grundbedürfnis nach Geborgenheit verträgt? "Wir sägen an dem Ast, auf dem wir sitzen", sind sich FamilienexpertInnen einig. Die Politik habe die Bedürfnisse des Einzelnen und des Marktes im Blickpunkt - und nicht die Familien. "Das ist unintelligent und ein Skandal", so Leibovici-Mühlberger. "Wir brauchen eine Kultur der Werte. Die Familie ist der Werk- und Trainingsraum dafür." Geld sei nicht alles im Leben.


Kostenloses Management

Dieses Argument möchte Helmuth Schattovits am liebsten nicht zu laut ausgesprochen haben. "Wenn man sagt, Geld ist nicht alles, dann kriegt man es auch nicht für Familien." Denn Familien-, Kinder- und Haushaltsarbeit sind unterbezahlt oder, besser gesagt, gar nicht bezahlt - außer man hat Personal und bezahlt andere dafür. Und die - zumeist - Frauen, die das Haushalts- und Familienmanagement selbst übernehmen, fühlen sich unterbewertet ("Ich bin nur Hausfrau"). Schattovits gilt als "Vater des Kinderbetreuungsgeldes". Er hat Österreichs Geldleistungen für Familien unter die Lupe genommen und kommt zu dem Schluss: "Der gesellschaftliche Wandel, der viel Positives gebracht hat, stößt an Grenzen." Schattovits stellt eine "Defamiliarisierung" durch die Politik fest, die Familien werden außer Acht gelassen - Wertschätzung bekommen sie nur in Sonntagsreden. In Wirklichkeit werde der Mensch über die Erwerbsarbeit definiert. Die Wirtschaftsleistung des Staates, also das Bruttoinlandsprodukt (BIP), sei "eine heilige Kuh", kritisiert Schattovits (siehe unten 1). Dabei werde ein Staat doch reicher in sozioökonomischer Hinsicht "durch Frauen, die Mütter, und Männer, die Väter werden".


"Man muss auf zwei Beinen gut stehen können."

Neben den immateriellen Leistungen, die Familien erbringen, sei trotzdem das Pekuniäre, nämlich Geld, wichtig, betont Caritas-Präsident Franz Küberl. Wer wenig Geld hat, hat auch weniger Entwicklungschancen. Bereits arme Kinder reagieren mit Scham, Hilflosigkeit, ziehen sich zurück (siehe unten 2). "Materielle Armut wirkt sich auf immaterielle Armut aus", präzisiert Küberl. Er vergleicht die negative Kettenreaktion mit Dominosteinen, die umfallen: "Armut ist der erste Dominostein. Wenn der umfällt, fällt auch der nächste Dominostein: Gesundheitliche Probleme kommen hinzu. Der dritte Dominostein ist dann die soziale Kontaktarmut." Wer krank oder arbeitslos ist, trifft auch weniger Menschen. Daraus folge als "vierter Dominostein die kulturelle Armut" und schließlich als letzter Dominostein häufig mangelnder Sinn am Leben. Die Caritas versuche, den einen oder anderen Dominostein wieder aufzurichten. Indem sie sich zum Beispiel in ihren Mutter-Kind-Häusern um minderjährige Frauen kümmert, die ein Baby erwarten. "Ich hab niemanden, der sich mit mir aufs Kind freut", sagen diese Frauen oft. "Die Zukunftsaussichten werden per se nicht rosiger", so Küberl. "Ich war auch arm, aber uns sind Tür und Tor offen gestanden. Als ich 1970 in der letzten Klasse der Handelsschule war, haben alle Schüler meiner Klasse im Februar gewusst, wo sie nach Schulschluss im Sommer arbeiten werden."


Bildung an erster Stelle

Damit die Armut an Kindern nicht auch eine zunehmende Armut der Kinder und Familien wird, gibt es eine Reihe von Forderungen. Bei den finanziellen Leistungen, die vom Staat kommen, herrschen für die 1,8 Millionen in Familien mit Kindern Lebenden unfaire Verhältnisse im Vergleich zu den rund zwei Millionen Pensionistinnen. Während die Renten jährlich steigen, gibt es diesen Automatismus bei der Familienbeihilfe nicht. Das österreichische Steuersystem differenziert auch nicht, ob jemand Kinder hat oder nicht. Die Steuern werden nach der wirtschaftlichen Leistung bemessen. Pro Kind eine Teilsteuer frei zu lassen, wäre ein familienfreundliches Steuersystem, wie der Steuerberater Alfred Trendl ausführt. Neben den monetären Leistungen sollte Bildung an erster Stelle stehen. Familien- und ErziehungsexpertInnen werden nicht müde, eine bundesländerübergreifende ganztägige Schulform zu urgieren, ebenso mehr und bessere Kinderbetreuungseinrichtungen. Helmuth Schattovits plädiert für die Einführung eines Gutscheinsystems, damit sich Eltern einen geeigneten Platz für ihre Kinder aussuchen können. Wichtig wäre ein Auffangnetz für scheidungswillige Paare, damit sie besser informiert sind, wieder miteinander reden und ihre Entscheidung zum Wohle der Kinder vielleicht überdenken, meint Leibovici-Mühlberger. Das alles kostet freilich Geld. Doch: "Wir müssen bewusst machen, dass man nicht alleine leben kann", appelliert Küberl. Denn es gibt niemanden, der sich selbst auf die Welt gebracht hat. Und niemand kann sich selbst begraben.


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1 FAMILIENARBEIT ZÄHLT NICHT
Die Tücken der Berechnung wirtschaftlichen Reichtums

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist eine wirtschaftliche Größe, die Aufschluss darüber gibt, wie reich ein Staat ist. In die Berechnung fließen die Dienstleistungen und Waren, die eine Gesellschaft erbringt bzw. erzeugt, ein, also nur das, was auf dem Markt an Leistung erbracht wird. Die nicht bezahlte Familienarbeit etwa, wenn ein Kind zu Hause durch Verwandte betreut wird, fehlt dabei. Würde diese ebenfalls berücksichtigt, wäre das BIP in Österreich um 50 Prozent höher, schätzt Helmuth Schattovits. "Fast so heilig wie das BIP sind die Arbeitsplätze", ätzt er. Bloß: Würde man die Dienstleistungen, die informell für Kinder erbracht werden, hochrechnen, ergäbe das 650.000 neue Jobs. Würde die Geburtenrate auf zwei Kinder pro Frau steigen, kämen weitere 250.000 Jobs hinzu. Im umgekehrten Sinn ist das BIP als Maßzahl für Reichtum ebenfalls mit Vorsicht zu genießen. Verunfallen Kinder zum Beispiel, weil sie nicht ausreichend betreut werden, erhöht das auch das BIP, weil Spital, ÄrztInnen usw. dann Leistungen erbringen.


2 REICHES LAND - ARME FAMILIEN
Österreich hat zu viele Kinder in Not

"Eine Gesellschaft, in der die Familien mit Kindern Gefahr laufen, unter die Armutsgrenze zu rutschen, stellt sich selbst ein Armutszeugnis aus." Das sagte vor 57 Jahren der spätere Kardinal Franz König bei der Gründung des Familienverbandes. Das reiche Land Österreich hat sich mittlerweile ein derartiges Armutszeugnis ausgestellt. Zwar veranlasst das offizielle Österreich naturgemäß wenige Studien über arme Kinder hierzulande. Aber die Schätzungen liegen bei zwölf Prozent der Kinder aus österreichischen Familien. 38 Prozent sind es bei Kindern aus legal zugewanderten Familien, so Caritas-Präsident Küberl. Am größten sei die Gefahr von Kinderarmut in der Gruppe der Alleinerzieherinnen (28 Prozent), danach folgen Familien mit drei oder mehr Kindern. Ohne Transferleistungen des Staates wären 49 Prozent der Familien armutsgefährdet. Alarmierend ist auch, dass seit Jahren unverändert zehn Prozent der Jugendlichen die Pflichtschule (Hauptschule, Poly und dergleichen) abbrechen. Das sei "Ausbildung zur Armut", so Küberl. Hinzu kommt: 20 Prozent der Jugendlichen leiden an Essstörungen, ebenfalls 20 Prozent nehmen regelmäßig Psychopharmaka.


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Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
Dezember 2010, Seite 16-18
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
Herausgeberin: Katholische Frauenbewegung Österreichs
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Februar 2011