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FAMILIE/299: Geld, Zeit und Liebe sind in der Ökonomie des 21. Jahrhunderts ungleich verteilt (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 153/September 2016
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Die unsichtbare Familie

Geld, Zeit und Liebe sind in der Ökonomie des 21. Jahrhunderts ungleich verteilt

von Lyndall Strazdins, Anne Song und Jianghong Li


Kurz gefasst: Erwerbstätigkeit und Familienleben sind zunehmend aufeinander bezogen: Familien hängen immer stärker von beruflicher Arbeit ab, um die immer längere Altersphase finanziell abzusichern und Leistungen bezahlen zu können, die früher vom Staat gewährt wurden. Auch Staaten hängen von Familien ab, nur ist diese Wechselbeziehung weniger sichtbar. Das ist einer der Gründe, warum die Ungleichheit zunimmt. Familien stellen einen wachsenden Druck auf ihr wichtigsten Ressourcen fest: Geld, Zeit und Liebe.


Die New Economy ist geprägt durch verstärkte Globalisierung, mehr Wettbewerb und mehr Ungleichheit. Diese Ungleichheit betrifft Länder, Generationen und Geschlechter. Die heutige Wirtschaft ist schneller und folgt einem zunehmend uneinheitlichen und fragmentierten Rhythmus. Zumindest in den reichen Ländern ist die neue Ökonomie eine ältere Ökonomie: Die Menschen leben länger als vor einem Jahrhundert. Dadurch erhöht sich der Druck auf die Familien, länger zu arbeiten und Angehörige länger zu pflegen. Die Familien benötigen mehr Geld als je zuvor angesichts einer dramatisch gestiegenen Lebenserwartung, die dazu führt, dass die Politik Lebensarbeitszeit und Renteneintrittsalter erhöht. Die längere Lebensdauer muss schließlich über Arbeit finanziert werden. Die Familie ist zwar eine zentrale gesellschaftliche Einheit, auf die alle Wirtschaftssysteme angewiesen sind, bleibt aber in ökonomischen Berechnungen, in der politischen Repräsentation und in der Arbeitswelt weitgehend unsichtbar. Wir sind der Ansicht, dass Familien in einem neuen gesellschaftlichen Projekt, das eine Antwort auf die New Economy geben will, viel stärker sichtbar werden müssen.

Die Sichtbarkeit wird entscheidend darüber bestimmen, wie es Familien in der New Economy ergeht und ob sie von ihr profitieren können. Wie die Wirtschaft das Familienleben prägt, zeigt eine genauere Analyse der Familiensituation. Geld, Zeit und Liebe sind drei zentrale Ressourcen, die die Grundlage für das Wohlergehen der Familie, von Eltern und Kindern, bilden. Kindern in einkommensschwachen Familien geht es im Hinblick auf Gesundheit und Bildung schlechter - ein Nachteil, der im Laufe ihres Lebens sogar verstärkt wird. Kinder entwickeln sich positiv, wenn ihre Eltern sich engagieren und präsent sind, wenn Familien miteinander im Gespräch sind und Zeit miteinander verbringen. Dabei ist die Qualität der gemeinsam verbrachten Zeit genauso wichtig wie die Quantität. Kindern geht es gut, wenn sie warme und stetige Zuwendung erfahren, wenn auf ihre Bedürfnisse eingegangen wird. Der Zusammenhang zwischen Arbeit und Familie ist alles andere als einfach; daher kann eine Politik, die sich auf eine einzige Dimension konzentriert, Auswirkungen auf andere Aspekte haben, selbst wenn diese nicht in einem direkten Zusammenhang damit zu stehen scheinen. Wenn Arbeit Geld bringt, aber Zeit braucht - wie wirkt sich das auf die Liebe aus?

Die Abhängigkeit der Familien von der Berufstätigkeit als Mittel zum Gelderwerb hat sich verstärkt. Dies gilt insbesondere für benachteiligte Familien, die sich ausschließlich durch Erwerbstätigkeit absichern können. In der Mehrzahl der Fälle sind wohlfahrtsstaatliche Leistungen mit der Verpflichtung zur Arbeit verbunden. Die meisten Industrieländer sind heute geprägt von einem umfassenden Vertrauen in den Markt. Eine Stärkung des Markts und eine Entlastung der Arbeitgeber wird auch den Familien zugutekommen, lautet die Hoffnung. So kommt es zum ständigen Ruf nach Reformen und Deregulierung, um den Markt noch flexibler und wettbewerbsfähiger zu machen.

Die Verlagerung der Produktion in Entwicklungsländer verbessert zwar die Einkommen und Zukunftschancen der Familien in diesen Ländern, hat aber auch negative Konsequenzen für die Beschäftigungssituation in Industrieländern. Das zeigt sich zum Beispiel in Australien, das sich in unmittelbarer Nähe zu einigen der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften befindet. Die heutige Wirtschaft ist ein Zwei-Klassen-Markt mit Gewinnern und Verlierern und einer schrumpfenden Mittelklasse. Der australische Arbeitsmarkt etwa ist zweigeteilt: gut bezahlten, hoch qualifizierten Stellen mit guten Konditionen, aber langen Arbeitszeiten steht einem Pool aus schlecht bezahlten, unsicheren und niedrig qualifizierten Stellen gegenüber, häufig mit einer geringen Stundenzahl und Arbeitszeiten rund um die Uhr.

Durch die Aushöhlung des Arbeitsmarkts schwinden die Arbeitsplätze in der Mitte. Viele Eltern nehmen eine Erwerbstätigkeit auf, um ihre Kinder und ihr eigenes längeres Leben zu finanzieren, aber einer großen Zahl von ihnen gelingt es nicht, eine hochwertige Arbeit zu finden. Der Arbeitsökonom Guy Standing vertritt die Auffassung, dass durch die New Economy eine neue Klasse von Erwerbstätigen mit unvorhersehbarem Einkommen und Arbeitszeiten entsteht: das Prekariat. Mehrheitlich handelt es sich dabei um jüngere Menschen (aber auch Ältere und Frauen mit Fürsorgeaufgaben sind gefährdet), von denen viele sich auf ein Leben voller unsicherer, prekärer und unbefriedigender Jobs einstellen müssen. In der EU zum Beispiel arbeitet bereits jeder sechste Erwerbstätige im Niedriglohnsektor; jede zweite von ihnen ist unter 30 Jahre.

Ungleichheit auf dem Arbeitsmarkt erzeugt Ungleichheit im Einkommen. In Australien hat sich die Einkommenslücke zwischen den 10 Prozent der am höchsten und am niedrigsten bezahlten Vollzeitbeschäftigten seit dem Jahr 2000 um ein Fünftel vergrößert, und diese Ungleichheit entsteht zwischen den Generationen. In den meisten OECD-Ländern ist die Armutsquote von Kindern höher als die von Erwachsenen. Obwohl die Menschheit in ihrer Geschichte noch nie so viel Wohlstand erlebt hat wie heute, ist selbst in den reichsten Ländern jedes siebte Kind von Armut betroffen. Und die Armut wächst weiter: Seit der Wirtschaftskrise hat sich die Kinderarmut in zwei Dritteln der OECD-Länder erhöht. In manchen Ländern lebt so gut wie jede Familie, in der ein Elternteil ohne Arbeit ist, in Armut. Selbst mit Arbeit kommen im OECD-Durchschnitt 20 Prozent der Familien mit einem alleinerziehenden Elternteil nicht aus der Armut heraus. In manchen Ländern sind 30 Prozent der Familien arm, selbst wenn ein Elternteil arbeitet, und Armut kann nur verhindert werden, wenn beide Elternteile Arbeit haben. (*)

Nach Marx ist Zeit die Kehrseite des Einkommens: Familien tauschen Zeit gegen Geld ein. Wie lange sie arbeiten, wann und wie schwer, und für welchen Lohn, ist Ausdruck der bestehenden Machtverhältnisse. Mit der Globalisierung der Arbeit wächst auch die Konkurrenz. Wird der Arbeitnehmerschutz eingeschränkt, ändert sich die Geschäftsgrundlage des Geld-Zeit-Austauschs.

Die gesamte Wirtschaft ist heute schneller: Mithilfe der Technologie können wir schneller als je zuvor produzieren, konsumieren und reisen. Dies führt zu einem rasanten gesellschaftlichen Wandel. Es wird immer schwerer vorherzusehen, wie sich Zeiterleben intensiviert und Zeit fragmentiert wird. So entsteht eine neue Tugend für die Wirtschaft des 21. Jahrhunderts: Effizienz. Nicht nur die langen Arbeitszeiten sind ein Problem für die Familienzeit, sondern auch die Möglichkeit und die Erwartung erhöhter Verfügbarkeit. Angesichts wachsender Konkurrenz kommt es darauf an, sich anzustrengen, und Anstrengung ist oft gleichbedeutend mit mehr Zeit: länger arbeiten, schneller arbeiten und rund um die Uhr verfügbar sein. Die Löhne und Gehälter stagnieren, aber die Menschen müssen immer mehr Kraft und Zeit investieren, um sie zu verdienen.

Doch es geht nicht nur darum, wie lange die Menschen arbeiten müssen, sondern auch, wann sie arbeiten. In Australien arbeiten fast zwei Drittel der Beschäftigten zumindest teilweise am Wochenende, abends oder nachts. Mehr als ein Drittel aller australischen Beschäftigten arbeitet teilweise oder vollständig nachts. In manchen Branchen oder Berufen ist es üblich, an unterschiedlichen Wochentagen zu arbeiten oder wöchentlich wechselnde Arbeitszeiten zu haben. Obwohl das Ganze als "flexible Arbeitszeit" verkauft wird, gibt die Hälfte aller australischen Beschäftigten an, dass sie auf Beginn und Ende ihrer Arbeitszeit gar keinen Einfluss hat.

Dieser Zusammenhang zwischen Geld und Zeit verdoppelt sich in Familien, in denen auch die Mütter in den Arbeitsmarkt eintreten. 1970 waren in den USA die meisten Familien Alleinverdienerhaushalte mit 45 bezahlten Arbeitsstunden. Im Jahr 2000 hatten nach Analysen von Jerry Jacobs und Kathleen Green die meisten amerikanischen Familien ein Doppelverdienereinkommen mit 82 bezahlten Arbeitsstunden. Die Zeit auf dem Arbeitsmarkt wird einfach zur Fürsorge- und Hausarbeit addiert. In der New Economy versuchen Eltern und Kinder, Zeit zu sparen, indem sie sich beeilen, mehrere Dinge gleichzeitig erledigen, schneller essen und überhaupt alles schneller machen. Die Frage ist: Wie verändert sich dadurch das Familienleben? Stößt dieses "immer schneller, immer mehr" in den Familien irgendwann an eine Grenze? Und gibt es Ungleichheiten im Hinblick auf Zeit und Geld?

Die wachsende Einkommensungleichheit hat eine Kehrseite: Zeit. Und diese Kehrseite der Einkommensungleichheit ist geschlechterspezifisch. Eine Forschergruppe um Lyndall Strazdins hat den Punkt geschätzt, von dem an sich eine höhere Arbeitszeit negativ auf die psychische Gesundheit auszuwirken beginnt. Im Durchschnitt scheinen 40 Stunden die optimale Arbeitszeit zu sein, wenn alle anderen Kovariablen gleich bleiben. Berücksichtigt man jedoch den zeitlichen Anteil der Fürsorge- und Hausarbeit und schichtet die Stichprobe nach Geschlecht, so sinkt der Schwellenwert auf 34 Stunden für Frauen, während er für Männer auf 47 Stunden ansteigt. Wenn Menschen mit Pflege- und Betreuungsaufgaben erfolgreich sein wollen oder auch nur in Vollzeit arbeiten möchten, müssen sie folglich Abstriche bei ihrer Gesundheit machen. Die meisten von ihnen sind Frauen, und sie konkurrieren auf dem Arbeitsmarkt mit völlig unterschiedlichen zeitlichen Ressourcen. Dies führt zu Benachteiligung im Hinblick auf Arbeit, Einkommen, Zukunftsperspektiven und Gesundheit. Wenn Ungleichheit vermieden werden soll, sei es zwischen Familien, Geschlechtern oder Generationen, kommt es darauf an, wie Gesellschaften und somit Volkswirtschaften Geld, Zeit und Liebe berechnen, verteilen und wertschätzen. Sobald eine dieser drei Ressourcen ignoriert wird oder unsichtbar bleibt, entsteht eine nicht bezifferte und unerklärliche Barriere.

In ihrem 2002 erschienenen Buch argumentiert Nancy Folbre, dass es neben Ökonomien des Handels, der Güter und Dienstleistungen auch Ökonomien der Liebe und Fürsorge gibt. Sie sind wechselseitig voneinander abhängig, und sie benötigen Zeit. Doch die Fürsorge-Ökonomie zählt nicht. Familien sind zwar nicht die einzige Quelle dieser emotionalen Ökonomie, aber sie sind von zentraler Bedeutung, und Liebe benötigt Zeit und Anstrengung. Wenn der Arbeitsmarkt zur einzigen Einkommensquelle wird, aber die Bedingungen dieses Einkommens zunehmend die Familienzeit begrenzen - wie wirkt er sich dann auf die Liebe aus? Bisher ist die entstehende New Economy - zumindest in den reichen Ländern - vor allem durch mehr Wettbewerb geprägt. Dieser Wettbewerb ist global und wirkt zunehmend ungleich, und er verkörpert einen bisher nicht gekannten Bedarf an zeitlichen Ressourcen und Geschwindigkeiten. Was wäre, wenn Familien und ihre Interessen sichtbarer gemacht würden? Könnte dies dazu beitragen, die Wirtschaft des 21. Jahrhunderts familienfreundlich zu machen?


Jianghong Li ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Projektgruppe der Präsidentin. Sie erforscht soziale, wirtschaftliche und kulturelle Determinanten der Gesundheit und Entwicklung von Kindern.
jianghong.li@wzb.eu

Anne Song ist studentische Hilfskraft in der Projektgruppe der Präsidentin und arbeitet hier im Projekt "The 24/7 economy and the health and wellbeing of family and children in Germany".
anne.song@wzb.eu

Lyndall Strazdins ist Associate Professor am Australian National University College of Medicine, Biology and Environment. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich vor allem mit dem Gesundheitswesen und mit Zeit als sozialer Determinante für Gesundheit.
Lyndall.Strazdins@anu.edu.au


Literatur

Australian Bureau of Statistics (ABS): Australian Social Trends, 4102.0. (2009). Online: www.abs.gov.au (Stand 10.08.2016).

Dinh, H., Strazdins, Lyndall and Welsh, J. "Hour-glass Ceilings: Work-hour Thresholds, Gender and Health Inequalities" (forthcoming).

Folbre, Nancy: The Invisible Heart: Economics and Family Values. New York: New Press 2001.

Jacobs, Jerry A./Gerson, Kathleen: "Overworked Individuals or Overworked Families? Explaining Trends in Work, Leisure, and Family Time". In: Work and Occupations, 2001, Vol. 28, No. 1, pp. 40-63.

Standing, Guy: The Precariat: The New Dangerous Class. London and New York: Bloomsbury Academic 2011.

(*) Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Die Grafik "Armutsquote von Eltern nach Erwerbssituation" wurde nicht in den Schattenblick übernommen. Sie ist zu finden im Originalartikel im PDF-Format unter:
https://www.wzb.eu/sites/default/files/publikationen/wzb_mitteilungen/wzb-mitteilungen-153-2016lietal.pdf

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 153, September 2016, Seite 6-9
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 491-0, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wzb.eu
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. September 2016

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