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FRAUEN/345: Tunesien - Frauen gehen auf die Straße, Misstrauen in islamistische Regierungspartei (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 15. November 2011

Tunesien: Frauen gehen auf die Straße - Misstrauen in islamistische Regierungspartei

von Guiliana Sgrena


Tunis, 15. November (IPS) - Die Sorge, Tunesiens gemäßigt-islamistische Regierungspartei 'Ennahda' werde ihnen schon bald ihre hart erkämpften Rechte streitig machen, treibt in Tunis immer mehr säkular orientierte Frauen auf die Straße. Denn nicht nur die radikal-islamistischen Salafisten, die die demokratischen Wahlen boykottiert hatten, sondern auch konservative Ennahda-Anhänger fordern von ihrer Partei eine weit strengere religiöse Linie.

Souad Aldelrahim, die für Ennahda in der am 23. Oktober gewählten verfassungsgebenden Versammlung sitzt, versicherte gegenüber IPS: "Wir werden den Lebensstil des tunesischen Volkes respektieren und Frauen beschützen." Als einzige der 42 Ennahda-Frauen des frei gewählten Gremiums trägt sie kein Kopftuch und gilt als Aushängeschild für den moderaten Kurs ihrer Partei. Sie soll bei Tunesiens Frauen, gleichgültig ob religiös, säkular oder westlich orientiert, um Vertrauen werben.

Obwohl Ennahda-Vertreter nicht müde werden, in der Öffentlichkeit ihren moderaten Kurs zu betonen, haben sie die frauenfeindlichen Übergriffe von Salafisten auf Kinos und Fernsehstationen nicht verurteilt, die Filme von Regisseurinnen ins Programm nehmen. Auch andere Parteien und Organisationen hielten sich mit Kritik an den radikalen Islamisten zurück.

Der allgemeinen Tatenlosigkeit begegnen engagierte Frauen wieder mit Straßenprotesten und mobilisieren Gleichgesinnte in sozialen Netzen wie Facebook. So versammelten sich kürzlich in Tunis vor der 'Cité des Sciences' der Universität im Stadtteil Ariana zahlreiche Universitätsdozentinnen, Lehrerinnen, Studentinnen und Frauenrechtlerinnen, um gegen die verbalen und physischen Attacken religiöser Radikaler zu protestieren.

Eine Gruppe von Salafisten, die sich in der Nähe postiert hatte, begleitete die Kundgebung mit lautstarken 'Haut-ab'-Rufen, mit denen die Tunesier ihrer Wut auf das verhasste Regime Ben Alis Luft gemacht hatten.

Inzwischen unterstützen viele Tunesierinnen mit und ohne parteipolitische Bindung den Kampf der Aktivistinnen um die Verankerung der Frauenrechte in der neuen Verfassung ihres Landes.

"Ich lehre an der Universität Islamische Geschichte und weiß, dass es für mich gefährlich wird, wenn meine Vorlesung nicht ganz mit dem konservativen Islamismus übereinstimmt", sagte Latifa Bekky. Die Wissenschaftlerin ist Mitglied der militanten Tunesischen Vereinigung demokratischer Frauen (ATFD). Die Gruppe engagiert sich für die Absicherung der Frauenrechte in Tunesien. Andere Frauenorganisationen unterstellen ihr, Beziehungen zu Ben Alis damaliger Partei 'Rassemblement Constitutionel' zu unterhalten.


"Ennahdas Versprechen an ihren Taten messen"

Die frühere ATFD-Vorsitzende Sana Ben Achour betonte gegenüber IPS: "Für mich als weltliche progressive Feministin ist Ennahda automatisch mein politischer Gegner. Deren Mitglieder behaupten zwar, die Rechte der tunesischen Frauen zu respektieren, doch man muss ihre Versprechen an ihren Taten messen."

"Im Internet werden viele politisch engagierte Frauen bedroht", berichtete die Psychologien Souad Rejeb. "In Facebook kursierte ein inzwischen gelöschtes, mit einem Kreuz gekennzeichnetes Foto von Ben Achour. Das war eine unverkennbare Todesdrohung", stellte die ATDF-Aktivistin fest.

Viele couragierte Tunesierinnen wie die angesehene Filmemacherin Salma Beccar, Mitglied der westlich orientierten MDP ('Modernist Democratic Pole'), sind auf einen langen und schweren Kampf für ihre Rechte vorbereitet.

"Ich fürchte mich nicht vor Ennahda. Sie verdankt ihren Erdrutschsieg ihrer Wahlpropaganda, die nicht zuletzt von TV-Sendern wie 'Al Jazeera' unterstützt wurde. Sie hat zwar die Beibehaltung des geltenden tunesischen Familiengesetzes versprochen, doch schon jetzt spricht man von einer Übernahme von Gesetzen der islamischen Scharia", sagte Beccar.

Auch Chakras Balhaj Yahya vom tunesischen Gewerkschaftsverband UGTT misstraut Ennahda. "Anfangs zeigten sie ein moderates Gesicht, doch ich bezweifle, dass Islamisten diesen Kurs langfristig durchhalten können", meinte sie. (Ende/IPS/mp/2011)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. November 2011