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FRAUEN/387: Tunesien - Die Menschenrechtsanwältin Radhia Nasraoui im Interview (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 118, 4/11

Eine wichtige Stimme aus Tunesien
Die Menschenrechtsanwältin Radhia Nasraoui im Interview

Interview von Sabine Vogler



Die Rolle der Frauen beim "Arabischen Frühling" ist gemeinhin anerkannt. Wie ist nun die Situation der Frauen in den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens? Wie geht es weiter? Radhia Nasraoui(1), renommierte und doch immer wieder bedrohte Anwältin aus Tunis, sprach mit Sabine Vogler, Aktivistin der Arbeitsgruppe für verfolgte Gewerkschafterinnen von Amnesty International, über die aktuelle Lage in Tunesien und ihre Einschätzungen.


SABINE VOGLER: Wie ist die rechtliche und praktische Situation von Frauen in Tunesien?

RADHIA NASRAOUI: Das tunesische Familiengesetz wurde von vielen lange Zeit als fortschrittlich erachtet, weil es den Frauen das Recht auf Scheidung und auf freie Partnerwahl zugesteht. In der Praxis ist allerdings die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau nicht gewährleistet: Der Mann bestimmt, er ist das Familienoberhaupt. Für die Kinder einer Familie ist prinzipiell immer der Mann ihr Vormund. Erben darf eine Frau nur die Hälfte von dem, was ein Mann bekäme.

Was die Arbeitswelt betrifft, so ist die Gesetzgebung zwar nicht diskriminierend, aber in der Realität haben die Frauen immer noch die unbedeutendsten Posten inne. Wenngleich es immer mehr Richterinnen, Anwältinnen, Unternehmerinnen etc. gibt, bleiben die höheren Posten Männern vorbehalten. In der Verfassung heißt es, dass alle Bürgerinnen gleich sind. Aber hinsichtlich der Präsidentschaft besteht ein Graubereich, da kein Artikel explizit sagt, dass sich Frauen für dieses Amt bewerben dürfen. Die Frauen drängen auf Klarstellung.

SABINE VOGLER: Was sind die dringendsten Anliegen der Frauen?

RADHIA NASRAOUI: Seitens der Frauenbewegung werden Fragen wie die Vorbehalte gegen die Internationale Frauenrechtskonvention (CEDAW)(2) und eine Verbesserung der Erbschaftsregelungen als prioritär gesehen. Zweifelsohne wichtige Fragen, doch die Ungerechtigkeiten des Erbrechts sind im Alltag der meisten Menschen, die in Armut leben und ohnehin nichts zu vererben haben, müßig. In der Praxis stehen andere Anliegen an erster Stelle, etwa das Problem der Arbeitslosigkeit, die fehlende Gleichberechtigung innerhalb der Familie und mangelnde Kinderbetreuung - Kinderkrippen sind teuer. Frauen leiden massiv: Sie werden ausgebeutet, erhalten die niedrigsten Löhne, und sie sind mit der Doppelbelastung konfrontiert, weil sie nach der Arbeit auch noch den Haushalt erledigen müssen.

SABINE VOGLER: Welche Rolle spielt die Frauenbewegung in Tunesien?

RADHIA NASRAOUI: Die Frauenbewegung ist nicht sehr stark und auch nicht im ganzen Land vertreten. Die wichtigste Organisation in diesem Zusammenhang ist die Vereinigung der demokratischen Frauen (Association Tunisienne des Femmes Démocratiques), die schon seit langem besteht und derzeit über ihren weiteren Kurs diskutiert: Soll sie ihren eigenen Weg weiter verfolgen oder sich der Frauenorganisation der einstigen Regierungspartei von Ben Ali, die sich offiziell als unabhängig deklariert, anschließen und versuchen, diese von innen heraus zu verändern? Für die Arbeiterinnen ist die Frauenkommission innerhalb der Gewerkschaft von Relevanz.

SABINE VOGLER: Welche Rolle spielten die Frauen bei der Revolution?

RADHIA NASRAOUI: Die Frauen spielten bei der Revolution eine wichtige Rolle, aber sie begannen schon viel früher gegen die Diktatur zu kämpfen. Menschenrechtsverteidigerinnen blieben trotz anhaltender Schikanen unerschütterlich und führten ihren Kampf entschlossen fort. Bekannt wurden die Gewerkschafterinnen, da sie an zahlreichen Protestbewegungen teilnahmen. Bei den Unruhen im Bergbaurevier von Gafsa(3) von 2008 gingen monatelang Abertausende Menschen auf die Straße, darunter zahllose Frauen. Als die Behörden diese Bewegung niederschlugen, wurden viele Menschen verhaftet. Die Frauen haben sich energisch für die Befreiung ihrer Kinder und Männer eingesetzt. Man kann durchaus sagen, dass der Kampf der Frauen niemals aufgehört hat, sie waren zu jeder Zeit präsent.

SABINE VOGLER: Wie ist die Rolle der Frauen nach der Revolution?

RADHIA NASRAOUI: Positiv ist, dass nun eine Quotenregelung zur Anwendung kommt. Das heißt, wenn Frauen die Liste anführen und an zweiter Stelle ein Mann kandidiert, muss den dritten Listenplatz eine Frau einnehmen, dann wieder ein Mann, eine Frau und so weiter. In der Praxis, vor allem in ländlichen Strukturen, werden Frauen, falls sie sich politisch engagieren wollen, behindert. Ich kenne die Geschichte einer sehr begabten jungen Frau in einem kleinen Ort, gar nicht so weit von Tunis entfernt, die für die PCOT (kommunistische ArbeiterInnenpartei, Anm.) kandidieren wollte. Letztlich musste sie auf Druck ihrer Eltern, die sie verprügelten, aufhören.

Die fortschrittsfeindlichen Kräfte haben seit der Revolution Aufwind erhalten. Es besteht ein ernst zu nehmendes Risiko, dass die islamistische Partei Ennahda bei den nächsten Wahlen(4) gewinnt. Im Falle ihres Wahlsiegs könnten die Frauen ihre erworbenen Rechte einbüßen; es wird sogar davon gesprochen, dass die Scharia eingeführt werden könnte. Wir müssen aufpassen, dass die Frauen ihre Rechte nicht verlieren. Manchmal beruhigt zwar Ennahda, dass sie die Rechte der Frauen nicht angreifen würde, aber wir fürchten hier Doppelzüngigkeit.

SABINE VOGLER: Welche Rolle spielt die internationale Solidarität für die Frauen in Tunesien?

RADHIA NASRAOUI: Wir sind glücklich darüber, dass die fortschrittlich Gesinnten weltweit, insbesondere in Europa, mit den Frauen in Tunesien solidarisch sind. Für den Kampf sind wir selbst verantwortlich: Die Verbesserung der Menschenrechtslage und die Einrichtung eines demokratischen Regimes sind Aufgabe der Menschen in Tunesien. Worum wir aber euch EuropäerInnen ersuchen: Übt Druck auf eure Regierungen aus, damit diese niemals ein Fortschritts-, Demokratie-, Menschen- und frauenfeindliches Regime unterstützen.

SABINE VOGLER: Danke für das Gespräch



Anmerkungen:

(1) Seit Jahrzehnten verteidigt die Rechtsanwältin Radhia Nasraoui Menschen, die wegen ihrer Überzeugungen verhaftet wurden, und prangert die Menschenrechtsverletzungen in ihrem Land an. Wegen ihres Engagements für die Menschenrechte wurden Radhia Nasraoui und ihre Angehörigen von den Behörden belästigt, und die Anwältin wurde in ihrer Arbeit behindert. Auch nach der Revolution geht das Engagement von Radhia Nasraoui ungebrochen weiter. Das Gespräch wurde als Telefoninterview im Rahmen von " Klappe auf", einem Kurzfilmprojekt von acht Organisationen in Kooperation mit der Online-Zeitung dieStandard.at im Rahmen der "16 Tage gegen Gewalt an Frauen" geführt.

(2) Tunesien hob im August 2011 - als erstes Land der Region - alle Vorbehalte, mit denen es die CEDAW unterzeichnet hatte, auf.

(3) Gafsa, eine Bergbauregion im Süden des Landes, ist eine der ärmsten Gegenden Tunesiens. Nach einer unfairen Stellenvergabe durch die Bergbaugesellschaft Anfang 2008 gab es Massendemonstrationen in der gesamten Gegend; die Menschen protestierten Großteils friedlich gegen Arbeitslosigkeit und steigende Lebenshaltungskosten. Der Staat schickte das Militär zur Niederschlagung; zwei Demonstrierende wurden getötet, 38 Gewerkschafterinnen, Journalistinnen und Aktivistinnen verhaftet.

(4) Das Interview fand Anfang September 2011, also mehr als einen Monat vor den Wahlen in Tunesien, statt.


Übersetzung aus dem Französischen: Sabine Vogler (Amnesty International Österreich, Arbeitsgruppe für verfolgte Gewerkschafterinnen) und Astrid de Montis-Randacher (Amnesty International Österreich, Netzwerk Frauenrechte)  

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 118, 4/2011, S. 28-29
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. März 2012