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FRAUEN/539: Indien - Die "Halbwitwen" von Kaschmir dürfen wieder heiraten (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 9. Mai 2014

Indien: Die 'Halbwitwen' von Kaschmir dürfen wieder heiraten - Doch Fatwa kommt für viele zu spät

von Athar Parvaiz


Bild: © Athar Parvaiz/IPS

Eine Frau in Kaschmir mit dem Bild ihres vor 17 Jahren verschwundenen Sohnes
Bild: © Athar Parvaiz/IPS

Srinagar, Indien, 9. Mai (IPS) - Shahmala hat ihren Mann zuletzt 1993 lebend gesehen. Seither gilt er als vermisst und sie selbst als 'Halbwitwe'. Im indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir ist sie eine von hunderten Frauen, denen der Verlust ihrer Männer vor dem Hintergrund des Kaschmirkonflikts den sozialen und wirtschaftlichen Abstieg brachte.

Seit Dezember letzten Jahres dürfen die Halbwitwen auf Geheiß einer Gruppe von Klerikern wieder heiraten. Die Fatwa stößt zwar weitgehend auf Zustimmung, kommt aber für Frauen wie Shahmala zu spät. Sie ist inzwischen 47 Jahre alt, die Kinder sind erwachsen. Hinter ihr liegen 21 lange Jahre der Entbehrung, Einsamkeit und Existenzangst. Sie sei zu alt, um sich der Illusion eines Neuanfangs hinzugeben, meint sie.

"Die Fatwa hätte viel früher kommen müssen, um den Hunderten von Halbwitwen in Kaschmir zu helfen", meint auch der Rechtsprofessor Showkat Sheikh, der an der Zentralen Universität von Kaschmir lehrt. "Die Jungen von ihnen dürften eine Wiederheirat in Erwägung ziehen. Doch für diejenigen im vorgerückten Alter kommt diese Option wohl kaum noch in Frage."

Nach Angaben der Koalition der Zivilgesellschaft von Jammu und Kaschmir (CCS) gibt es in dem Bundesstaat um die 1.500 Halbwitwen. Die meisten ihrer vermissten Männer waren nach der Festnahme durch die Sicherheitskräfte während des Kaschmirkonflikts in den 1990er Jahren und Anfang des neuen Jahrtausends verschwunden.

Für ihre zurückgelassenen Frauen folgten Jahre der Stigmatisierung und extremen Armut. Viele von ihnen haben die Suche nach ihren Männern nicht aufgegeben und finden sich Monat für Monat in Srinagar, der Hauptstadt von Jammu und Kaschmir ein, um Auskunft über den Verbleib ihrer Männer zu verlangen. Nach Angaben der Vereinigung der Eltern verschwundener Personen in Kaschmir werden mindestens 8.000 Menschen vermisst.

In all den vielen Jahren sahen sich die Halbwitwen in dem mehrheitlich muslimischen Bundesstaat gezwungen, sich an die Auflage der Hannafi-Schule des Islams zu halten, 90 Jahre lang nach dem Verschwinden ihrer Männer auf eine Wiederheirat zu verzichten.

Doch dann setzten sich zivilgesellschaftliche Gruppen mit ihrer Forderung an die Gelehrten durch, eine Lösung für dieses humanitäre Problem in Kaschmir zu finden. Ergebnis ist die neue Fatwa, die erste seit Ausbruch des Aufstands gegen die indische Regierung vor 25 Jahren.


Geringe Bildungschancen für vaterlose Kinder

Shahmala hat all die Jahre hart gekämpft, um sich und ihre Kinder durchzubringen. Zunächst hätten ihr ihre beiden Schwager geholfen. "Doch fünf Jahre später wollten ihre Frauen nicht länger mit uns zusammenleben", berichtet Shahmala, die in der Region Lolab lebt, rund 110 Kilometer nördlich von Srinagar. "Unsere Familie zerfiel. Zum Glück haben meine Schwager meinen Kindern eine Grundschulausbildung ermöglicht."

Ihr Sohn ist inzwischen 21 Jahre alt und verdient als Taxifahrer den Lebensunterhalt für sich und seine Familie. "Wäre sein Vater da gewesen, hätte er ihn auf die weiterführende Schule und auf die Universität geschickt. Doch das Schicksal hat es anders mit uns gemeint."

Menschenrechtsaktivisten zufolge haben die Halbwitwen kein Anrecht auf Entschädigungszahlungen. Lediglich diejenigen Frauen, deren Männer nachweislich in bewaffneten Auseinandersetzungen getötet worden waren, erhielten umgerechnet 3.300 US-Dollar.

Peerzada Mohammad Amin lehrt Soziologie an der Kaschmir-Universität. "Islamische Gelehrte in Südasien und insbesondere in unserem Teil der Welt konzentrieren sich mehr auf die Rituale des Islams und weniger auf die sozialen Probleme, obwohl in der einschlägigen islamischen Basisliteratur immer wieder davon die Rede ist, dass Religion nicht von Politik, Soziologie und Wirtschaft getrennt werden sollte", meint er.

"In all den Jahren haben es Gesellschaft, Behörden und Religion versäumt, auf dieses humanitäre Problem in Kaschmir einzugehen. Wenn sie es wirklich ernst meinen, könnte noch einiges für die Frauen getan werden", ist er überzeugt.

Viele der Halbwitwen, vor allem die jüngeren, würden gern einen Neuanfang wagen. Mehmooda, die eigentlich anders heißt, ist 29 Jahre alt. Als ihr Mann verschwand, war das Paar eineinhalb Jahre verheiratet. Sie selbst war schwanger. Sie würde jetzt gern wieder heiraten. Doch ihre Schwiegereltern, unter deren Dach sie lebt, sind dagegen. "Sie waren sehr gut zu mir", sagt sie. "Dafür bin ich ihnen wirklich sehr dankbar. Aber ich habe mein ganzes Leben noch vor mir. Die Dinge verändern sich." (Ende/IPS/kb/2014)


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http://www.ipsnews.net/2014/05/fatwa-comes-late-kashmirs-half-widows/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Mai 2014