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FRAUEN/578: Indien - Dalit-Frauen gelingt Ausstieg aus Unterdrückungssystemen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 22. April 2015

Indien: Aus Sklaverei und Knechtschaft in die Selbständigkeit - Dalit-Frauen gelingt Ausstieg aus Unterdrückungssystemen

von Stella Paul


Bild: © Stella Paul/IPS

Dalit-Frauen und ihre Kinder - Töchter wie Söhne - ziehen im Kampf gegen die Tempelsklaverei im südwestlichen Bundesstaat Karnataka an einem Strang
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Bellary, Indien, 22. April (IPS) - HuligeAmma, eine Frau in den 40ern, sitzt an ihrer Nähmaschine und steppt die Teile eines Männerhemdes zusammen. In nächster Nähe liest die 22-jährige Tochter eine SMS und lacht. Obwohl beide Inderinnen nur 50 US-Cent pro Tag zum Leben haben, sind sie mit sich und der Welt zufrieden.

Das war nicht immer so, wie sie sagen. Denn beide Frauen sind Dalits. So werden auf dem Subkontinent Angehörige einer gemischten Gruppe von Menschen genannt, die im bröckelnden indischen Kastensystem als Unberührbare verachtet werden.

Bevor Mutter und Tochter an den Ausbildungsprogrammen in ihrem Dorf im Bezirk Bellary im südwestlichen Bundesstaat Karnataka teilnahmen, hatten sie in sklavenähnlichen Verhältnissen gelebt. HuligeAmma war eine Tempelsklavin, bevor sie mit ihrem Kind Roopa in einer illegalen Mine in Bellary Arbeit fand. In dem Bezirk konzentriert sich ein Viertel der nationalen Eisenerzvorkommen.

Vom Joch der Sklaverei befreit, haben sie nur noch einen Wunsch. Sie wollen die hart erkämpfte Freiheit behalten, die ihnen so lange verwehrt war. "Ich war zwölf Jahre alt, als mich meine Eltern der Göttin Yellamma anboten. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete. Ich wusste nur, dass ich ab da eine Devadasi sein und keinen Mann heiraten würde, weil ich der Göttin gehörte", erzählt HuligeAmma. Yellamma wird in der hinduistischen Götterwelt als die Schutzpatronin der 'Gefallenen' verehrt.

Einst waren Devadasis angesehene Tempeltänzerinnen, die zu Ehren der Gottheiten bei religiösen aber auch weltlichen Festlichkeiten auftraten. Doch als die indischen Königreiche an die britischen Herrscher fielen, versiegten die Gelder für den Unterhalt der Tempel. Daraufhin rutschten die Devadasis in die Armut und Prostitution ab.

Seit 1988 ist das System der Tempelsklaverei in Indien verboten, doch HuligeAmma ist ein lebendes Beispiel für den Fortbestand einer ebenso entwürdigenden wie brutalen Praxis. Wie sie gegenüber IPS berichtet, wurde sie als Tempelsklavin ab einem bestimmten Alter von Scharen älterer Männer besucht, die sie zum Sex mit ihnen zwangen. In den langen Jahren als Prostituierte hat sie fünf Kinder geboren, für die deren Väter nie die Verantwortung übernommen haben.


Vom Regen in die Traufe

Nach der Geburt ihres letzten Kindes floh HuligeAmma, von Hunger und Verzweiflung getrieben, nach Hospet, einer Stadt in der Nähe der Welterbestätte Hampi im nördlichen Karnataka. Dort fand sie relativ schnell Arbeit in einer von Dutzenden illegalen Minen. Bis 2011, sechs Jahre lang, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, hämmerte sie Löcher ins Gestein, aus denen das Eisen herausgesprengt wurde. Sie und ihre damals noch minderjährige Tochter Roopa, die Seite an Seite mit ihr in der Mine arbeitete, verdienten damals zusammen 100 Rupien (1,5 Dollar) pro Tag.


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Eine von hunderten illegalen Übertage-Eisenerzminen im indischen Bezirk Bellary
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In dem Bemühen, die illegalen Bergbauaktivitäten zu unterbinden, verhaftete die Polizei in jener Zeit viele der illegal tätigen Bergleute, die dann Bestechungsgelder in Höhe von etwa vier bis sechs Dollar zahlen mussten, um wieder frei zu kommen. Dieser Kreislauf sorgte dafür, dass die Arbeiter noch stärker an ihre Arbeitgeber gebunden waren, weil sie die von ihnen 'vorgestreckten' Gelder zurückzahlen mussten.

2009, als HuligeAmma die Knochenarbeit und sexuellen Avancen der Bergarbeiter satt war, legte sie ihr Schicksal und das ihrer Familie in die Hände der lokalen Nichtregierungsorganisation 'Sakhi Trust'. Das war das Ende der Knechtschaft. Inzwischen besuchen alle ihre Kinder die Schule. Roopa ist Jugendkoordinatorin bei Sakhi Trust. Die Familie lebt in Nagenhalli, einem Dalit-Dorf, wo HuligeAmma als Schneiderin und Ausbilderin junger lokaler Mädchen ihr Brot verdient.

Für HuligeAmma und ihre Kinder hat sich somit alles zum Guten gewendet. Das lässt sich für viele der 200 Millionen indischen Dalits nicht sagen, zu denen Menschen aus den so genannten 'kastenlosen' Gemeinschaften bis hin zu den marginalisierten Völkern gezählt werden.

Selbst innerhalb dieser Gruppe gibt es eine Rangordnung. So werden die Madiga-Dalits, oft auch als Straßenkehrer bezeichnet, von anderen Dalits diskriminiert. Historisch hatten die Madigas Schuhe hergestellt, Latrinen gereinigt und Tiere gehäutet - Aufgaben, die Angehörige anderer Gruppen der hinduistischen Gesellschaft als unter ihrer Würde betrachteten.

Die meisten Devadasis in Südindien entstammen dieser Gemeinschaft, wie Bhagya Lakshmi, Sozialaktivistin und Leiterin von Sakhi Trust berichtet. Allein in Karnataka leben etwa 23.000 Tempelsklavinnen. Mehr als 90 Prozent von ihnen sind Dalits.


Zementierte Ausbeutung

Wie Lakshmi, die seit zwei fast zwei Jahrzehnten mit den Madigas zusammenarbeitet, erläutert, haben die Madiga-Frauen im Verlauf ihres Lebens nur Unterdrückung und Diskriminierung kennengelernt. Das Devadasi-System sei nichts weiter als eine institutionalisierte, kastenbasierte Form der Gewalt, die Dalit-Frauen eine Rolle in der Gesellschaft zuweise, die ihre fortgesetzte Ausbeutung zementiere.

Auch in den illegalen Minen werden Dalit-Arbeiter schlechter bezahlt als Nicht-Dalits. Wie MinjAmma, eine Madiga-Frau, die sieben Jahre lang in einer offenen Mine gearbeitet hatte, verdienten Dalits allerhöchstens 100 Rupien am Tag, während es Nicht-Dalits bis auf 400 Rupien (sechs Dollar) brachten.

"Wenn Sie von Dalit-Haus zu Dalit-Haus gehen, werden sie dort keine einzige Frau und kein Kind antreffen, das nicht schon mal in einer Mine als Kuli gearbeitet hat", meint Manjula, eine ehemalige Minenarbeiterin aus dem Bellary-Dorf Mariyammanahalli, die sich als Menschenrechtsaktivistin engagiert.

Manjula, Tochter und Enkelin von Devadasis, hatte als Kind in einer Mine gearbeitet. Für sie sind Zwangsarbeit und Tempelsklaverei zwei Seiten ein und derselben Medaille. Was beide verbinde, sei eine gnadenlose Ausbeutung, die durch das Kastensystem verschärft worden sei.

Indien beliefert mit einer Jahresproduktion von 281 Millionen Tonnen sieben Prozent des globalen Eisenerzmarktes und belegt, was die Fördermenge angeht, den vierten Platz nach Brasilien, China und Australien. In Karnataka lagern mehr als neun Milliarden der auf 25,2 Milliarden geschätzten indischen Eisenerzreserven. Allein im Bezirk Bellary werden eine Milliarde Tonnen vermutet. Von April 2006 bis Juli 2010 haben 228 Industrielle illegal 29,2 Millionen Tonnen Eisenerz exportiert und damit den indischen Staat um 16 Millionen Dollar geprellt.

In Bellary leben 2,5 Millionen Menschen in erster Linie von der Landwirtschaft, der Fischerei und der Viehzucht. Die illegalen Minenoperationen haben in dem Bezirk schwere ökologische Schäden angerichtet. Die Grundwasserreserven wurden vergiftet. Die Eisen- und Manganwerte in Böden und Gewässern sind viel zu hoch, ebenso die Konzentrationen an Fluoriden. Das alles ist für die kleinbäuerliche Landwirtschaft Gift.

Untersuchungen haben gezeigt, dass der Bergbauboom 9,93 Prozent der 68.234 Hektar großen Walddecke vernichtet und in der näheren Umgebung einen dicken Staubfilm über die Pflanzen gelegt hat, der die Photosynthese behindert.

Obwohl der Oberste Gerichtshof im Jahr 2001 nach einem umfassenden Bericht über die ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen nicht registrierte Minenaktivitäten untersagte, gibt es eine Reihe von Industriellen, die sich nicht daran halten. Inzwischen erleichtert ein offizielles Verbot die Arbeit der Polizei, gegen die illegalen Aktivitäten vorzugehen.


Kämpferinnen für die Nachhaltigkeit

Heute weisen einige der ärmsten Frauen Indiens, die den illegalem Bergbauaktivitäten und der religiös sanktionierten sexuellen Ausbeutung entkommen konnten, den Weg in Richtung Nachhaltigkeit. Die ersten Schritte in die wirtschaftliche Unabhängigkeit zielen auf Bildung, alternative Verdienstmöglichkeiten und Fortschritte bei der sanitären Grundversorgung. Derzeit kommt in Bellary auf jeweils 90 Menschen eine Toilette.

Die Alphabetisierungsrate in den Dalit-Dörfern liegt in einigen Gebieten bei zehn Prozent. Doch die Madiga-Frauen geben sich große Mühe, dies zu ändern. Mit Hilfe von Sakhi Trust konnten seit 2011 600 Dalit-Mädchen eingeschult werden. Lakshmi Devi Harijana aus dem Weiler Danapura ist die erste Madiga-Frau in der Region, die an einem College unterrichtet. 25 Frauen aus ihrem Dorf haben einen Universitätsabschluss.

Damit ist diesen Inderinnen tatsächlich so etwas wie eine Revolution gelungen. Während die einen sich intellektuell weiter entwickeln wollen, sind die anderen entschlossen, sich als Näherinnen oder Tierzüchterinnen eine Zukunft zu sichern. Die ehemalige Tempelsklavin und Minenarbeiterin BhagyaAmma züchtet heute Ziegen, die sie für 100 Dollar gekauft hat.


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BhagyaAmma, eine Madiga-Dalit und ehemalige Tempelsklavin
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Wie sie berichtet, wird sie an 'Eid al-Adha', einem Feiertag, an dem Familien ein Lamm schlachten und es gemeinsam mit ihren Angehörigen, Nachbarn und Armen verzehren, ihre Ziegen für 190 Dollar verkaufen.

Obwohl die Regierung den Frauen in Bellary rund 475 Millionen Dollar für ein Programm zur Sanierung der durch die illegalen Bergbauaktivitäten entstandenen Schäden versprochen hat, sind die Kassen der Lokalbehörden leer geblieben. "Uns liegen nur die Anträge der Frauen vor, die sich den Wunsch nach einer eigenen Toilette erfüllen wollen. Mittel für den Bergbau-Rehabilitationsfonds wurden nicht überwiesen", so Mohammed Muneer, Beamter von Hospet.


Mobilisierung eigener Kräfte

Inzwischen haben die Frauen ihre eigenen Lokalbehörden mobilisiert, die jetzt fortlaufend 15.000 Rupien - rund 230 Dollar - zahlen, damit sich die Familien eigene Toiletten bauen können und damit die Gefahr der sexuellen Belästigung von Frauen und Kindern verringern.

Ebenso sind Biogasanlagen und Regenwasserreservoire geplant. Dazu meint Manjula, "Wir wollen kleine Modelle wirtschaftlicher Nachhaltigkeit schaffen. Und wir wollen von niemandem abhängig sein - weder von Einzelpersonen noch von der Regierung." (Ende/IPS/kb/2015)


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/04/from-slavery-to-self-reliance-a-story-of-dalit-women-in-south-india/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 22. April 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. April 2015

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