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FRAUEN/682: Chancen emanzipatorischer feministischer Perspektiven (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 140, 2/17

Chancen emanzipatorischer feministischer Perspektiven

Frauenspezifische Fluchtursachen in Ostafrika

von Rita Schäfer


Fotos von ausgemergelten und abgemagerten Frauen und Kindern, in endlos erscheinenden langen Warteschlangen geduldig ausharrend, um internationale Nahrungsmittelhilfe bettelnd: So präsentieren uns die Medien seit Wochen ostafrikanische Frauen als passive Opfer erbarmungsloser Kräfte in der Natur. Sie werden als stumme Klimaflüchtlinge gezeigt, um an unser Mitleid und unsere Spendenbereitschaft zu appellieren. Wo kann postkoloniale und selbstkritische humanitäre Praxis und Forschung ansetzen, um diese Bilder zu verändern?


Wieder einmal hören wir von Reporter_innen oft Tausende von Kilometern vom eigentlichen Geschehen entfernt: Die Dürre treibt die Menschen zu den Verteil(er)zentren und Lagern der humanitären Hilfsorganisationen. Ob vom Roten Kreuz, vom Roten Halbmond, von christlichen oder nichtreligiösen Organisationen - mit ihnen rollt eine Hilfswelle an, technisch gut ausgestattet und medial erfahren. Die Hilfsorganisationen positionieren ihre Zelte, ihre Embleme auf Allradautos, ihre Markenzeichen auf T-Shirts. Der homogenisierten und anonymisierten Opfergruppe wird eine ebenso einheitlich wirkende Helfer_innengemeinschaft gegenübergestellt.


Expert_innen?

Dennoch sind oft weiße ausländische ältere Männer die Experten, die Macher - seit Jahrzehnten im humanitären "Business" tätig und dementsprechend in der Hierarchie aufgestiegen. Häufig werden sie begleitet von jungen Ärztinnen oder Krankenschwestern, die aus Idealismus helfen wollen. Viele hatten nur wenig Zeit und kaum Möglichkeiten, sich auf ihre Einsätze vorzubereiten. Oft kennen sie die Länder nur flüchtig, in die sie geschickt werden. Und von den mancherorts seit Jahrzehnten schwelenden Konflikten, die bleischwer über den kargen Feldern und ausgetrockneten Flussbetten hängen, erhalten sie im Vorfeld nur ein schemenhaftes Bild.

Für viele Helferinnen, die Kurzzeiteinsätze leisten, bleiben Regionen austauschbar. Auch um das endlos wirkende Leid insbesondere der zahlreichen Frauen und die Not der todkranken Kinder emotional bewältigen zu können.


Offene Fragen

Wo kann und soll postkolonial und selbstkritisch reflektierende humanitäre Praxis und Forschung ansetzen, um sich diesen Irritationen, Erschöpfungen und Forderungen fachlich differenziert zu nähern? Wie können festgefügte und permanent reproduzierte Stereotypen revidiert, wie kann Eurozentrismus vermieden oder latentem Rassismus gegengesteuert werden? Welche Chancen haben emanzipatorische, feministische Perspektiven? Was bedeuten interkulturelle Interaktionen in den Camps für die Frauen, die sich dort begegnen? Denn nicht selten gehören sie ganz gegensätzlichen Bildungs- oder Einkommensgruppen an und sind mit unterschiedlichen Religionen in ganz verschiedenartig strukturierten Familienformen aufgewachsen.

Wie gehen ausländische Ärztinnen und humanitäre Helferinnen mit ihren multiplen Grenzerfahrungen, mit Sexismus durch männliche Vorgesetzte und Kollegen um? Verbindet sie die kollektive Bedrohung durch sexualisierte Übergriffe mit den Frauen und Mädchen in den Lagern? Gibt es eine Form der universellen "Sisterhood" im genderspezifischen Leid, die möglicherweise auch noch nach den besonderen Diskriminierungen von LGBTI-Menschen fragt?

Diese und viele weitere Fragen sollten humanitäre Organisationen stellen, die in Krisengebieten tätig sind. Denn organisatorische Strukturen und offene oder verdeckte Hierarchien wirken sich auch auf die eigentliche Arbeit aus. Das betrifft nicht nur Hilfswerke, die sich für frauenspezifische Fluchtursachen interessieren. Dazu zählt oft ein kompliziertes Ineinandergreifen politischer Machtansprüche auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene mit Konflikten über Mineralien, Land, Weiden oder Wasser.

Es sind Ressourcen, die in Zeiten des Klimawandels und saisonaler Klimaanomalien schwinden und um die sich lokale, nationale und internationale Eliten in unterschiedlichen Konstellationen streiten. Etliche sind bereit, Milizen oder Soldaten zu bewaffnen, um ihre Interessen durchzusetzen und lokale - oftmals als störend wahrgenommene - Bewohner_innengruppen zu vertreiben.

Diese multiplen Konflikte sind mit Gender-Ungleichheiten verwoben und verstärken sie wechselseitig. Genderspezifische Gewalt ist häufig ein Machtmittel, Angst vor Übergriffen treibt Frauen und ihre Familien in die Flucht. Beschränkter Zugang zu Ressourcen und Schutz vor Gewalt als Fluchtgründe sind also im Kontext politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Machtstrukturen und Herrschaftsverhältnisse zu sehen. Sie sind mit multiplen Ungleichheiten und gravierenden ökologischen sowie klimatischen Veränderungen verbunden.


Gender in Projektanträgen

Selbst wenn die jeweiligen kontextspezifischen Fluchtgründe bekannt sind, bleibt für etliche Mitarbeiter_innen in humanitären Organisationen die Auseinandersetzung mit Gender-Aspekten lästig, die von der "eigentlichen Arbeit" abhält - ein Kriterium, mit dem sie sich beschäftigen müssen, wenn sie Fördergelder von der Europäischen Union oder internationalen Gebern einwerben wollen.

Zahlreiche Geberorganisationen haben inzwischen Gender-Trainingsmaterial erstellt, das auf die geschlechtsspezifischen Unterschiede in den Gesellschaften hinweist, aus denen Flüchtlinge kommen und für gendergerechte Camp-Planungen sensibilisieren will. Getrennte Toiletten gelten hierfür als Paradebeispiel.

Ein Prinzip, das vielen Materialien zugrunde liegt, ist die Betrachtung von Frauen als homogene Gruppe und ein polarisierendes, dichotomes Geschlechtermodell. Dieses suggeriert - beabsichtigt oder nicht -, dass Männer in den Camps kollektiv Täter seien und die humanitären Organisationen die Camp-Bewohnerinnen vor ihnen schützen müssten. Nach den Gründen für den Gewaltanstieg wird mehrheitlich nicht gefragt. Die maskuline Gewaltbereitschaft erscheint vielmehr wie ein Naturzustand, dem militante Konflikte oder saisonale Dürren und andere Klimakatastrophen nur zum Ausbruch verhelfen.

Dennoch wird in den Camps zumeist nicht mit den durch Kriege und Katastrophen geprägten Männern in einer Weise gearbeitet, dass sie gewaltlose Formen der Konfliktlösung und neue Selbstbilder erlernen. Dieses Defizit führt auch zu latenten Gewaltproblemen zwischen männlichen Camp-Bewohnern, womit in der Folge häufig auch Gewalt gegen Frauen einhergeht. Umso wichtiger sind Gegenmaßnahmen auf dieser Ebene.


Militarisierte Männlichkeit überwinden

Frauenspezifische Fluchtgründe sind integraler Bestandteil sozialer, wirtschaftlicher, ökologischer und politischer Problemkomplexe, die allesamt mit Gender-Hierarchien eng verwoben sind und diese oft intensivieren. Für Camp-Verantwortliche stellt sich damit die Frage, wie sie die Camp-Strukturen und das Alltagsleben gestalten können, damit martialische Männlichkeit nicht verstärkt, sondern überwunden wird. Auch um eine Remilitarisierung - etwa von demobilisierten Ex-Kämpfern - zu vermeiden.

Das Sonke-Gender-Justice Network, Men Engage und das Refugee Law Project haben seit einigen Jahren neue Ansätze zur Arbeit mit Männern unterschiedlichen Alters und Status in Flüchtlingscamps erarbeitet. Mehrheitlich vertreten sie einen profeministischen Ansatz. Ausdrücklich zielen sie auf Männer als Akteure der Veränderung ab und bestärken beispielsweise Jugendliche in Peer-Groups, die sich gegen die besitzergreifenden und gewaltsamen Formen des maskulinen Auftretens wehren und auf egalitäre Verhaltenspraxen Wert legen.

Einzelne humanitäre Organisationen wie Care International Österreich und Oxfam haben die Bedeutung präventiver Gender-Arbeit erkannt und integrieren sie von Anfang an in ihre Aktivitäten. Wünschenswert wäre es, dass solche innovativen Ansätze in der humanitären Szene verbreitet würden. Sie haben weit über das Camp-Leben hinaus eine insgesamt befriedende Wirkung und können dazu beitragen, zukünftige Fluchtursachen für Frauen zu verhindern - und das nicht nur in Ostafrika.


Zur Autorin: Rita Schäfer ist freiberufliche Wissenschaftlerin. Zu ihren Publikationen zählen VIDC-Studien über militarisierte Männlichkeit, Bücher und Aufsätze über Frauen und Kriege in Afrika, Gender und ländliche Entwicklung sowie Webseiten zum Klimawandel und zu Kriegen in Afrika, zu Südafrika und Simbabwe.

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 140, 2/2017, S. 10-11
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
Sensengasse 3, A-1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Juli 2017

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