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FRAUEN/763: Frauenwahlrecht und politische Partizipation im Globalen Süden (frauen*solidarität)


frauen*solidarität - Nr. 145, 3/18

Mütter, Kämpferinnen für die Unabhängigkeit, Feministinnen
Frauenwahlrecht und politische Partizipation im Globalen Süden

von Rosa Zechner


Der Kampf um das Wahlrecht im Globalen Süden ist Teil der spezifischen De/Kolonialgeschichten dieser Länder. Der aktuelle Stand der politischen Partizipation von Frauen zeigt: Der Kampf ist noch lange nicht vorbei.

Als britische Suffragetten im März 1912 in der Bond Street in London Fenster einschlugen, feierten chinesische Aktivistinnen deren Mut und starteten 20 Tage später eine ähnliche Aktion vor dem Parlament in Nanjing. Die Frauenwahlrechtsbewegung war sowohl national als auch global. Wahlrechtsaktivistinnen tauschten sich untereinander aus - quer über unterschiedliche Sprachen, Länder und Kontinente hinweg.


Lateinamerika

Frauen waren wichtiger Teil der Unabhängigkeitskämpfe Lateinamerikas zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Sie beteiligten sich nicht aus emanzipatorischen Gründen, sondern in Erfüllung ihrer traditionellen Rolle. Die Rechte von Frauen als Mütter, Frauenbildung und Gesundheitsfragen waren für viele Sozialreformer_innen wichtiger als das Frauenwahlrecht.

Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts besaßen auch nur wenige Männer politische Rechte, die Ausübung des Wahlrechts war in vielen Ländern nämlich an Bildung und/oder Besitz gebunden. Erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstand im Rahmen der allgemeinen Diskussion um die Ausweitung der politischen Rechte eine breitere Debatte über das Frauenwahlrecht. Das erste Land in Lateinamerika, in dem das Frauenwahlrecht eingeführt wurde, war Ecuador 1929, gefolgt von Brasilien und Uruguay 1932.

In Brasilien formierte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Frauenbewegung mit dem Hauptziel, Frauen Zugang zu allen Bereichen von Bildung zu verschaffen. Als Ende 1889 die Monarchie gestürzt und die Republik ausgerufen wurde, forderten Frauen auch volle politische Rechte für sich. Federführend war Bertha Lutz, Tochter europäischer Einwander_innen. Sie gründete 1920 die Liga für die intellektuelle Emanzipation der Frau, die sich u. a. für verbesserte Bildungsmöglichkeiten und das Frauenwahlrecht einsetzte.

Lutz besuchte internationale Konferenzen und gründete 1922 die Panamerican Association for the Advancement of Women, wodurch die Forderung nach dem Frauenwahlrecht auch in anderen lateinamerikanischen Ländern verstärkt aufgegriffen wurde. In Brasilien sah die Wahlrechtsreform von 1930 das Wahlrecht nur für alleinstehende Frauen und Witwen mit Besitz sowie für verheiratete Frauen mit Erlaubnis ihrer Männer vor. Daraufhin gingen Feministinnen in die Offensive und leisteten breite Überzeugungsarbeit. Ihre Aktivitäten waren diesmal von Erfolg gekrönt: Frauen erhielten 1932 die gleichen politischen Rechte wie Männer. Analphabet_innen waren allerdings - wie auch in vielen anderen Ländern - ausgeschlossen.

Die lateinamerikanischen Frauenwahlrechtsaktivistinnen waren großteils eine Bewegung von weißen Ober- und Mittelschichtfrauen, die sich vom Kampf der britischen Suffragetten distanzierten und die sogenannte soziale Mutterschaft propagierten.


Asien

In weiten Teilen Asiens wurde der Kampf um das Frauenwahlrecht zu Beginn des 20. Jahrhunderts gemeinsam mit Bestrebungen um Frauenbildung geführt. Frauen waren ein wichtiger Teil der nationalen Unabhängigkeitsbewegungen und wurden als Trägerinnen der Tradition gesehen. Gleichzeitig verfolgten die westlichen Kolonialmächte das Ziel, die asiatische Frau zu "modernisieren". Frauen standen somit im Spannungsfeld zwischen den westlichen kolonialen Einflüssen, der traditionellen Frauenrolle und dem Wunsch, Teil der nationalen Befreiungsbewegungen zu sein. Der Kampf um das Frauenwahlrecht war also auch eine Debatte um die kulturelle Konstruktion von Weiblichkeit, wie etwa das Beispiel Indien zeigt.

Hier war das Frauenwahlrecht Ergebnis mehrerer Faktoren: des indischen Nationalismus, des britischen Paternalismus und der internationalen Suffragettenbewegung. Die indische Frauenwahlrechtsbewegung war Teil der Unabhängigkeitsbewegung, bestand aus indischen wie auch britischen Frauen und kooperierte mit internationalen Frauenwahlrechtsorganisationen. Wie in vielen anderen Ländern blieb sie auf (westlich) gebildete Frauen der Mittel- und Oberschicht beschränkt.

Und wie auch in anderen Ländern wurde in Indien das Frauenwahlrecht stufenweise eingeführt: Das Wahlrecht zu den Provinziallegislativen erhielten Frauen teilweise bereits in den 1920er Jahren. In den 1930ern wurde es erweitert - auf Frauen mit Besitz und/oder Bildung bzw. verheiratete Frauen, deren Männer das Wahlrecht hatten. Mit der Erlangung der Unabhängigkeit 1947 wurden Frauen im Wahlrecht den Männern gleichgestellt.

Bereits zehn Jahre zuvor erhielten Frauen auf den Philippinen das Wahlrecht. Nachdem sie 1908 den Zugang zur Universität erlangt hatten, kam es auch zu einer breiteren Bewegung für das Frauenwahlrecht. 1933 wurde das Frauenwahlrecht mit großer medialer Begleitung eingeführt, aber 1934 aufgrund einer Verfassungsänderung wieder aufgehoben. Der Widerstand dagegen war so groß, dass eine Volksabstimmung nur für Frauen beschlossen wurde. Sollte diese von mindestens 300.000 Frauen unterzeichnet werden, würde das Wahlrecht wieder eingeführt. 1937 stimmten 447.725 Frauen dafür, woraufhin Frauen das gleiche Wahlrecht wie Männer erhielten.

Die Unterscheidung zwischen "modernen" und "traditionellen" Frauen, die in zahlreichen asiatischen Ländern verbreitet war, erfolgte auch über die Kleidung. Der Einsatz dieser war Teil der Strategien des politischen Empowerments. Auf den Philippinen plädierten Wahlrechtsaktivistinnen zwar für westliche Uniformen in Schulen und auf Universitäten, sie selber aber trugen nationale philippinische Kleidung. Lobbying für Frauenemanzipation erschien weniger bedrohlich, wenn die Lobbyistinnen traditionell gekleidet waren.


Afrika

Auch in den nationalen Befreiungsbewegungen in Afrika erfüllten Frauen eine wichtige Rolle. Während der 1950er Jahre war das Wahlrecht ein wichtiger Punkt dieser Bewegungen, und speziell das Frauenwahlrecht galt als Aspekt von Modernität.

In Kenia, das ab 1895 britisches Protektorat war, waren Frauen wichtiger Teil der Unabhängigkeitsbewegungen. Im Mau-Mau-Krieg bildeten sie 5 % der Kämpfer_innen, einige erlangten Führungspositionen. Beeinflusst durch das britische Wahlrecht, bekamen weiße Frauen in Kenia 1919 das Wahlrecht, asiatische Frauen und Männer 1923. Schwarze, die über Besitz und Bildung verfügten, erhielten 1957 das Wahlrecht, darunter waren aber nur wenige Frauen. Arabische Frauen waren gänzlich vom Wahlrecht ausgeschlossen. Ein allgemeines Wahlrecht ab 18 kam erst mit der Unabhängigkeit 1963. Damit steht Kenia für die Entwicklung des (Frauen-)Wahlrechts am gesamten afrikanischen Kontinent: zuerst die Weißen, dann die Asiat_innen und zuletzt die Schwarzen.

Im gesamten Subsahara-Afrika wurde das Frauenwahlrecht im Zuge der Dekolonisierung eingeführt. Ob Frauen aktiv daran beteiligt waren, spielte dabei keine Rolle. Gleiches Wahlrecht wurde Frauen nicht aufgrund ihrer Leistungen bei der Nationsbildung zugestanden, sondern als westliches Konzept von Fortschritt.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde meist zuerst das allgemeine Männer- und dann das Frauenwahlrecht eingeführt. Das änderte sich nach dem Zweiten Weltkrieg: Nationen führten gleichzeitig das Männer- und Frauenwahlrecht ein, unabhängig davon, wie deren Repräsentation davor war. Die Ausbreitung des Frauenwahlrechts hing auch mit dem Druck anderer Länder zusammen, es wurde zu einem wichtigen Merkmal von authentischer Nationalstaatlichkeit.


Arabische Welt

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts befanden sich beinahe alle Länder des Nahen Ostens, Nordafrikas und Asiens mit muslimischer Mehrheit im Unabhängigkeitskampf. Anders als in Asien führte die Beteiligung von Frauen beim Kampf um nationale Unabhängigkeit in islamischen Ländern - mit Ausnahme von Algerien und Indonesien - nicht zu ihrer politischen Emanzipation. Wie in Afrika südlich der Sahara war in einigen Ländern wie Tunesien, Marokko und Mauretanien das Frauenwahlrecht Teil des Paketes, das die Kolonialadministration hinterlassen hatte.

1919 waren in Ägypten Frauen unterschiedlicher sozialer Schichten aktiv am Aufstand gegen die britische Kolonialherrschaft beteiligt, der 1922 zur - teilweisen - Unabhängigkeit führte. In der Verfassung von 1923 erhielten zwar alle Ägypter_innen gleiche zivile und politische Rechte, das Wahlrecht wurde allerdings auf Männer eingeschränkt. Groß war die Enttäuschung all jener Frauen, die für die Befreiung ihres Landes gekämpft hatten. Daraufhin wurde die "Ägyptische Frauenunion für das Wahlrecht" gegründet, die die Gleichstellung von Frauen auch in anderen Bereichen forderte.

Neben Demonstrationen - 1951 etwa marschierten 1.500 Wahlrechtskämpferinnen zum ägyptischen Parlament - griffen Frauen zu weiteren öffentlichkeitswirksamen Methoden wie Hungerstreiks. 1956 erhielten Frauen endlich das Wahlrecht, allerdings mussten sie sich - im Gegensatz zu Männern - vor einer Wahl registrieren.

Während in der Türkei Frauen bereits ab 1934 wählen durften, wurde in den meisten mehrheitlich muslimischen Ländern das Frauenwahlrecht erst in den 1950er und frühen 1960er Jahren eingeführt. Eine Ausnahme bildeten die Golfstaaten. Auf Basis eines Dekrets aus dem Jahr 2011 - erlassen während der Umwälzungen des Arabischen Frühlings - wurden schließlich auch Frauen in Saudi-Arabien im Dezember 2015 erstmals zu Kommunalwahlen zugelassen.


Politische Macht

Der "Erfolg" des Frauenwahlrechts kann an der Teilhabe von Frauen an formaler politischer Macht gemessen werden. Während im frühen 20. Jahrhundert das Frauenwahlrecht als Kennzeichen von Fortschritt betrachtet wurde, gilt heute der Anteil von Frauen im Parlament bzw. die Anzahl von Politikerinnen als Maßstab. [1]

Der Anteil von Frauen in nationalen Parlamenten hat sich im weltweiten Durchschnitt innerhalb von zwei Dekaden von 12 % (1997) auf 23,4 % (2017) beinahe verdoppelt, liegt aber noch immer unter einem Viertel. Am höchsten ist der Anteil in Lateinamerika und der Karibik, gefolgt von Europa und Afrika südlich der Sahara. Schlusslicht sind die arabischen Länder.

Ein Blick auf das länderspezifische Ranking zeigt, dass die nordeuropäischen Länder ihre Spitzenposition verloren haben. Seit 2015 führt Ruanda mit 63,8 %, gefolgt von Bolivien mit 53,1 % Frauenanteil im Parlament. Bis Ende 2017 konnte kein weiteres Land die 50-%-Marke erreichen. Im aktuellen Ranking folgen Kuba mit 48,9 %, Mexiko mit 48 %, Nicaragua mit 45,7 %, Schweden mit 43,6 % und Senegal mit 41,8 %.

Verschiedene Faktoren beeinflussen den Anteil von Frauen positiv: Genderquoten (auf gesetzgebender Ebene, auf Parteienebene, in Form reservierter Sitze), Frauen in hohen Positionen von Parteien, gleicher Zugang zu (finanziellen) Ressourcen in Wahlkampagnen etc. 2015 verfügten 74 Länder über eine Form der Quotierung: Gesetzliche Quoten für Kandidatinnen sind die am meisten genutzte Form der Quotierung, reservierte Sitze für Frauen gibt es in 20 Ländern (elf davon in Subsahara-Afrika). Mehrere Länder verwenden beide Formen.

Auch der Anteil von Frauen an Regierungsämtern (er betrug 2015 weltweit 18 %) und der Anteil von weiblichen Staatsoberhäuptern bzw. Regierungschefinnen (2015 waren es 19 von insgesamt 193) zeigt, dass wir trotz der positiven Entwicklungen in den letzten beiden Jahrzehnten von einer gleichberechtigten Partizipation von Frauen in der Politik weit entfernt sind.


Anmerkung:
[1] Folgende Quellen wurden für die Zahlen in diesem Kapitel herangezogen:
- The world's women 2015: trends and statistics
(https://unstats.un.org/unsd/gender/worldswomen.html)
- Women in parliament: 20 years in review
(archive.ipu.org/pdf/publications/WIP20Y-en.pdf), weiters die Berichte zu 2015, 2016 und 2017
(z. B. www.ipu.org/resources/publications/reports/2018-03/women-in-parliament-in-2017-year-in-review)

Verwendete Literatur:
- Adams, Jad: Women and the vote: a world history (Oxford: Oxford Univ. Press 2014)
- Edwards, Louise et al. (ed.): Women's suffrage in Asia: gender, nationalism and democracy (London: Routledge 2004)
- Potthast, Barbara: Von Müttern und Machos: eine Geschichte der Frauen Lateinamerikas (Wuppertal: Hammer 2003)
- Rassi, Barbara: Frauenbewegungen in Ägypten (Wien: Diplomarbeit 2000)

Zur Autorin:
Rosa Zechner ist Historikerin und Bibliothekarin und arbeitet bei der Frauen*solidarität.

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Quelle:
Frauen*solidarität Nr. 145, 3/2018, S. 7-9
Text: © 2018 by Frauensolidarität / Rosa Zechner
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Januar 2019

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