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INTERNATIONAL/080: Israel - "Remember Me", Holocaust-Überlebende suchen im Internet nach Angehörigen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 6. März 2012

Israel: 'Remember Me' - Holocaust-Überlebende suchen im Internet nach Angehörigen

von Pierre Klochendler


Jerusalem, 6. März (IPS) - Hinter jedem der 1.100 Fotos steht eine eigene Geschichte. Jedes Bild ist tausend Worte und Erinnerungen wert. Die 74-jährige Bracha Aris hat den Holocaust überlebt und die traumatischen Erfahrungen lange Zeit verschwiegen - bis sie vor kurzem im Internet auf ein Kinderbild von sich stieß.

"Ich sah sofort, dass ich es war", sagte Aris, die auf der Website des 'Holocaust Memorial Museum' (USHMM) in Washington ein Foto eines Kindes fand, aufgenommen am Ende des Zweiten Weltkrieges. 'Berthe Moskowicz, acht Jahre', stand darunter. "Das war mein Mädchenname. Ich habe dann gleich das Museum angerufen."

Seit einem Jahr ist nun die Social-Media-Website 'Remember me' online. Auf den Bildern sind Kinder zu sehen, die durch die Verfolgung in der NS-Zeit ihre Eltern verloren oder von ihnen getrennt wurden. Die in dem Museum tätigen Forscher wollen damit die letzten Holocaust-Überlebenden finden. Den Experten ist bewusst, dass das ein Wettlauf mit der Zeit ist.

Sechs Millionen Juden in Europa wurden von den Nazis ermordet. Mehr als eine Million von ihnen waren Kinder und Jugendliche. Innerhalb von viereinhalb Jahren wurden ganze Familien aufgrund ihrer jüdischen Herkunft ausgelöscht. Zu Kriegsende wussten viele Holocaust-Überlebende nichts über das Schicksal ihrer Verwandten. Die Hoffnung, die Vermissten wiederzufinden, blieb immer wach.


Schicksal Tausender Kinder ungeklärt

Sieben Jahrzehnte später sind Forscher und Philosophen immer noch damit beschäftigt, das enorme Ausmaß des Holocausts zu erfassen. Millionen Tote sind bisher nicht identifiziert worden, das Schicksal Tausender Kinder bleibt ungewiss. Was ist aus ihnen geworden? Aris erzählt eine Geschichte, die noch niemand gehört hat: "Alles begann damit, dass man mir meine Mutter wegnahm." Kopien alter Dokumente und verblichene Kinderfotos sind das Einzige, an dem sie sich in ihrer Trauer festhalten kann.

Bracha Aris wurde 1937 als Berthe Moskowicz in Paris geboren, als einziges Kind der polnischen Einwanderer Chana Moskowicz und Noah Flambaum. Früh wurde sie im von den Nazis besetzten Frankreich von ihren Eltern getrennt. Als Berthe drei Jahre alt war, kam ihr Vater in das Internierungslager Pithiviers. "Ich erinnere mich nicht mehr an ihn und kannte früher noch nicht einmal seinen Namen."

Von ihrem Vater sind ihr nur ein selbstgemachter Stift und ein Brieföffner geblieben, den er aus dem Lager schickte. Darauf sind die Worte eingraviert: "Meiner geliebten Berthe, Dein Vater liebt Dich sehr." Ein Jahr später, im Juni 1942, wurde er in das Vernichtungslager Auschwitz geschickt.

Aris erinnert sich noch genau an einen schicksalhaften Tag im Juli 1942, als die französische Polizei eine Razzia gegen die 14.000 in Paris lebenden Juden begann. Nach einem Bescheid der Polizei habe ihre Mutter schweigend einen Koffer gepackt. Zwei französische Polizisten und eine Gestapo-Mann hätten sie abgeholt, berichtete sie. Der Offizier habe ihrer Mutter gesagt, sie solle das Kind bei der Concierge lassen. Das habe ihr das Leben gerettet. "Warum er das tat, weiß ich bis heute nicht. Vielleicht tat ich ihm leid", sagte Aris. Ihre Mutter habe sie nie wieder gesehen, sie sei nach Auschwitz deportiert worden.

Nach einigen Tagen kam das Mädchen in ein Waisenhaus und wurde dann zu einem Bahnhof gebracht. "Es waren viele deutsche Soldaten in dem Zug. Mir wurde eingeschärft, nicht den Mund aufzumachen und über das zu sprechen, was geschehen war." Im Westen Frankreichs kam sie auf einen Bauernhof, wo sie mehrere Jahre verbrachte. "Es waren keine besonders herzlichen Menschen, aber sie haben mich gut behandelt", erinnerte sich Aris. Sie habe Kühe zur Weide gebracht und sei zur Schule gegangen.


Jüdische Kinder auf dem Land versteckt

35 weitere jüdische Kinder waren heimlich in der Region untergekommen, ohne voneinander zu wissen. "Jeder von uns bewahrte sein Geheimnis", sagte sie. Nach dem Krieg kam Aris in ein Kinderheim nahe Paris. Das Foto, das sie auf der Museumswebsite entdeckte, wurde damals wahrscheinlich aufgenommen, um ihre Eltern ausfindig zu machen. Doch sie musste vergeblich auf sie warten.

Als Aris 1948 nach Israel kam, schämte sie sich dafür, dass sie nicht einmal den Namen ihres Vaters kannte. Deshalb habe sie den Namen 'Max' für ihn erfunden, der heute noch in ihrem Pass steht. In Israel nannte sie sich Berthe Bracha, heiratete und bekam drei Kinder. Inzwischen hat sie acht Enkel, ihr Mann starb vor drei Jahren.

Bei ihren Nachforschungen fand Aris später eine Liste mit den Namen aller 76.000 aus Frankreich in NS-Todeslager deportierter Juden. Nur 2.500 von hatten überlebt. Über ihre Eltern war zu lesen, dass sie bei der Ankunft in Auschwitz bereits tot waren.

Mit ihren Kindern hat Aris kaum über die Vergangenheit gesprochen. "Ich wollte nicht darüber reden. Erst jetzt kann ich mich etwas öffnen." Bei ihren Recherchen hat sie neue Einzelheiten über ihre Familie erfahren. "Der einzige überlebende Verwandte war ein Onkel, der vor dem Krieg nach Amerika ausgewandert war", erzählte sie. Ausfindig habe sie ihn aber nicht machen können.

Jeden Monat rufen mehr als tausend Menschen bei der 'Remember Me'-Hotline an. Bis jetzt konnten 230 Holocaust-Überlebende Angehörige wiederfinden. 15 von ihnen konnten in Israel gefunden werden, und 13 sind noch am Leben. (Ende/IPS/ck/2012)


Links:
http://rememberme.ushmm.org/
http://ipsnews.net/2012/03/pictures-worth-a-thousand-memories/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 6. März 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. März 2012