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INTERNATIONAL/095: Ost-/Zentraleuropa - Gewalt gegen Roma, Staaten sollen Verbrechen verurteilen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 20. Juni 2012

Ost-/Zentraleuropa: Gewalt gegen Roma - Staaten sollen Verbrechen verurteilen

von Pavol Stracancsky



Bratislava, 20. Juni (IPS) - Nach der jüngsten Ermordung einer Roma-Familie in der Slowakei haben Menschenrechtsorganisationen die ost- und zentraleuropäischen Staaten aufgefordert, den zunehmenden Anstieg der Gewalt gegen die größte Minderheit Europas zu verurteilen.

Der Aufruf erfolgte nur wenige Tage nach einem Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs, wonach in der Slowakei die effektive Untersuchung eines brutalen Anschlags auf zehn Roma im Jahre 2002 ausgeblieben ist. Damals waren mehrere Personen schwer verletzt worden.

Den Menschenrechtsaktivisten zufolge lässt sich das Urteil des Tribunals auch auf die meisten anderen Fälle rassistischer Gewalt gegen die Roma übertragen. Es verdeutlicht ihrer Meinung nach auch, dass die politischen Entscheidungsträger der Region mehr tun müssen als bisher, damit die Täter bestraft werden könnten.

Dezideriu Gergely, Geschäftsführer des Europäischen Zentrums für die Rechte der Roma (ERRC) in Budapest, erklärte gegenüber IPS: "Das Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichts bezieht sich zwar auf einen Vorfall, der zehn Jahre zurückliegt, der sich aber immer weiter reproduziert. Das Urteil verdeutlicht, wie wichtig es ist, dass die Slowakei und andere Staaten der Region die Voraussetzungen schaffen, damit die brutalen Übergriffe auf unsere Minderheiten geahndet werden und die Täter nicht straffrei davonkommen."

Viele Roma beklagen ihre systematische Verfolgung und Diskriminierung auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Die Mehrheit von ihnen lebt in Zentral- und Osteuropa. Es finden sich aber auch große Gemeinschaften in Spanien, Frankreich, Griechenland und Italien.


Arbeitslosigkeit von bis zu 100 Prozent

Insgesamt leben etwa zehn Millionen bis zwölf Millionen Roma in Europa. In Zentral- und Osteuropa zeichnen sie sich durch eine große Armut aus. Die Arbeitslosigkeit in manchen Roma-Siedlungen liegt bei fast 100 Prozent, und auch die hohen Kriminalitätsraten sind für viele Gemeinschaften ein großes Problem.

Roma, auch Romani genannt, werfen nicht zuletzt den Sicherheitskräften Rassismus vor. Werden sie Zielscheibe von Gewalt, die sich oft durch ein hohes Maß an Brutalität auszeichnet, fallen die Ermittlungen, wenn sie überhaupt stattfinden, in aller Regel nachlässig aus.

Wie Georgina Siklossy vom Europäischen Netzwerk gegen Rassismus (ENAR) erläuterte, zeigen Untersuchungen über den Umgang von Staaten mit Gewalt gegen Roma, wie schlecht es eigentlich um die Minderheit bestellt ist.

Eine Studie von ERRC hatte 44 Übergriffe auf Roma im Zeitraum 2008 bis 2011 in der Tschechischen Republik, in Ungarn und in der Slowakei untersucht. Die Autoren fanden heraus, dass es in nur 20 Prozent aller Fälle zu einem Schuldspruch gekommen war. In fast einem Drittel wurden die polizeilichen Untersuchungen ergebnislos eingestellt. "Auch andere Mitglieder unseres Netzwerks bestätigen einen Mangel an Ermittlungsarbeit- und -erfolgen bei der Aufklärung von Verbrechen an den Roma", sagte Siklossy.

Anti-Rassismus-Organisationen führen den wachsenden Rassismus in den ost- und zentraleuropäischen Ländern auf das Erstarken rechtsextremistischer Parteien und Bewegungen als Folge der Weltwirtschaftskrise zurück.


Arsen, Gewehre, Handgranaten

In der Tschechischen Republik, wo mehr als 300.000 Roma leben, kamen zwischen Oktober 2011 und März 2012 drei Menschen bei Gewalttaten gegen Roma ums Leben. In den letzten Jahren mehren sich zudem Arsenanschläge auf die Minderheit. In einem Fall 2009 trug ein Säugling eine lebenslange Behinderung davon.

In Ungarn wurden zwischen 2008 und 2011 bei Anschlägen auf Roma neun Personen einschließlich zwei Minderjährige getötet. Bei einigen dieser Übergriffe gingen die Angreifer mit Molotowcocktails, Handgranaten und Gewehren auf ihre Opfer los.

In Rumänien wurden innerhalb des letzten Monats zwei Roma-Männer von der Polizei getötet. Im Mai sprang ein 24-jähriger Roma auf der Flucht vor den Sicherheitskräften in einen See und wurde in der Nähe des Ufers mit einem Kopfschuss getötet. Das Opfer war angeblich in einen Diebstahl verwickelt.

Am 10. Juni wurden zwei Roma-Brüder bei einem Polizeieinsatz im Zusammenhang mit einem Streit in Bezirk Mures beschossen. Der eine starb an den Schussverletzungen. ERRC und die lokale Nichtregierungsorganisation 'Romani CRISS' forderten die rumänischen Behörden auf, die Schießerei zu verurteilen und sicherzustellen, dass die verantwortlichen Polizeibeamten zur Rechenschaft gezogen werden.

Bei dem letzten Anschlag dieser Art wurden in der Slowakei drei Mitglieder einer Roma-Familie von einem Polizisten in Zivil erschossen. Dieser hatte vor ihrem Haus in Hurbanovo das Feuer auf die Gruppe eröffnet. Die Motive für den Anschlag liegen bislang im Dunkeln.


Straflosigkeit gleich Freischein

Bei der Urteilsverkündung in diesem Monat unterstrich der Europäische Gerichtshof, wie wichtig es sei, rassistisch motivierte Straftaten vollständig und effektiv zu untersuchen. Ebenso wichtig sei, dass die Staaten jede Form von Rassismus verurteilten und sich das Vertrauen der Minderheiten in die Fähigkeit der Behörden sicherten, sie vor rassistischer Gewalt zu bewahren.

Stefan Iwanco vom slowakischen Zentrum für Bürger- und Menschenrechte, das Roma-Gewaltopfer vor Gericht vertritt, erklärte gegenüber IPS: "Die slowakische Regierung könnte sich definitiv stärker gegen solche Übergriffe auf Roma aussprechen, doch gehört das offenbar nicht zu ihren Prioritäten."

Solange Regierungen Gewalt gegen die Roma nicht öffentlich verdammten und nicht dafür sorgten, dass die Polizei ihre Arbeit vernünftig mache, fühlten sich Rassisten und Neonazis ermutigt, Anschläge durchzuführen, sagte Iwanco. Dadurch verfestige sich in der Gesellschaft der Eindruck, dass Gewalt gegen Roma ruhig toleriert werden dürfe. (Ende/IPS/kb/2012)


Links:

http://poradna-prava.sk/?cat=3&lang=en
http://www.errc.org/
http://www.enar-eu.org/
http://www.ipsnews.net/2012/06/europe-rights-groups-call-for-effective-investigations-of-crimes-against-roma/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juni 2012