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INTERNATIONAL/136: Mexiko - Gefängnisse völlig überfüllt, oft führen Banden das Kommando (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 3. Januar 2013

Mexiko: Gefängnisse völlig überfüllt - Oft führen Banden das Kommando

von Daniela Pastrana



Mexiko-Stadt, 3. Januar (IPS) - Seit zwei Jahren sitzt Edgar Torres Castillo im Gefängnis der Stadt Gómez Palacio in Lagunera. Der in den nordmexikanischen Bundesstaaten Durango und Coahuila gelegene Distrikt gilt als eine der gefährlichsten Regionen des Landes.

Der heute 21-Jährige wurde zu acht Jahren Haft verurteilt, obwohl er nur ein Mobiltelefon gestohlen hatte. Seine Mutter Amparo Castillo durfte ihn zuletzt am 18. Dezember besuchen. "Er verhielt sich merkwürdig", erzählt sie. "Er schien sehr traurig zu sein, so als habe man ihm wehgetan." Nach einer Stunde mussten sich die beiden verabschieden. Die Atmosphäre sei sehr gespannt gewesen, erinnert sich die Mutter besorgt.

In den frühen Morgenstunden des 17. Dezember überstellte die Polizei 137 Häftlinge aus Gómez Palacio in Bundesgefängnisse. Am folgenden Tag hörten Anwohner am Ende der Besuchszeit, wie in dem Gebäude geschossen wurde und Menschen schrien. Wie die Behörden später mitteilten, wurden während eines Ausbruchsversuchs 25 Gefangene und sechs unbewaffnete Wärter getötet.

Nach Angaben der Polizei von Durango hatten die Häftlinge das Feuer auf die Wärter eröffnet, als sie an der Flucht gehindert wurden. Die Regierung des Bundesstaates ließ daraufhin die Haftanstalt räumen, in der in den vergangenen drei Jahren 78 Menschen getötet worden sind. Mehrmals hatten Gefangene auszubrechen versucht. Zum Zeitpunkt der Räumung saßen dort etwa 500 Menschen ein.

Wie andere Angehörige fuhr auch Amparo Castillo sofort zur Haftanstalt, als sie von der Schießerei hörte. Da die Familien der Insassen kaum Informationen erhielten, reagierten sie mit Protesten und Straßenblockaden. "Wir wissen nicht einmal, wer überlebt hat", berichtet die Mutter.


Gefängnisse kurz vor dem Kollaps

Die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Häftlingen und dem Wachpersonal in Gómez Palacio sind ein weiterer Beweis für die gravierenden Missstände in mexikanischen Gefängnissen, die nach Ansicht von Experten am Rand des Zusammenbruchs stehen.

Nach Angaben des Bundesministeriums für öffentliche Sicherheit gibt es landesweit derzeit 429 Haftanstalten. 15 davon stehen unter der Verwaltung der Zentralregierung. Zehn werden von den Behörden des Föderalen Distrikts von Mexiko-Stadt geführt, 91 von Stadtregierungen und die übrigen von den jeweiligen Bundesstaaten.

Untersuchungen haben ergeben, dass die Gefängnisse zu 22 Prozent überbelegt sind. Das bedeutet, dass etwa 40.000 Menschen dort eigentlich keinen Platz mehr haben. 40 Prozent aller Häftlinge warten noch auf das Ende ihrer Prozesse, teilen ihre Zellen aber bereits mit verurteilten Straftätern.

Ein Fünftel der Gefangenen sitzt wegen organisierter Kriminalität wie Drogenhandel ein, die in die Zuständigkeit der Bundesjustiz fallen. Nach einer Besichtigung von 24 Gefängnissen in Mexiko 2009 kritisierte der Unterausschuss der Vereinten Nationen für Folterprävention in einem Bericht, dass der mexikanische Strafvollzug strukturelle Mängel aufweise. Damit seien Übergriffen aller Art, mit denen die Häftlinge zu Geständnissen und sich selbst belastenden Äußerungen gezwungen werden, Tür und Tor geöffnet.

Während des Feldzugs von Ex-Präsident Felipe Calderón (2006-2012) gegen die Drogenkartelle wurden noch mehr Menschen in Sicherungsverwahrung genommen als zuvor. Aus einer im vergangenen September vorgestellten Untersuchung der Nationalen Menschenrechtskommission geht hervor, dass in 60 Prozent der Haftanstalten des Landes kriminelle Gruppen großen Einfluss haben.

Der Report stellt fest, dass die Situation in den Gefängnissen in zehn der 31 mexikanischen Staaten riskant ist. Allein zwischen 2010 und 2012 entkamen insgesamt 521 Häftlinge bei 14 Ausbrüchen. 350 Menschen wurden bei zwei Meutereien und 75 bewaffneten Auseinandersetzungen getötet.

Im Gefängnis von Gómez Palacio, das in weniger als drei Jahren von sechs verschiedenen Direktoren geführt wurde, ereigneten sich mehrere spektakuläre Ausbrüche. Auch Fälle von Korruption wurden bekannt.


Entgegenkommendes Wachpersonal

Im März 2009 marschierte am helllichten Tag eine Gruppe Bewaffneter in Polizeiuniformen in die Haftanstalt und nahm fünf Gefangene mit. Im Juli des folgenden Jahres wurde die damalige Anstaltsdirektorin Margarita Rojas festgenommen. Die Generalstaatsanwaltschaft warf ihr vor, Gefangenen Ausgang gewährt zu haben, die später auf einer nahe gelegenen Farm 17 Menschen ermordeten.

Wie die Bundesbehörden erklärten, erlaubten die Wachen den Häftlingen, nachts das Gefängnis zu verlassen, die Waffen der Aufseher mitzunehmen und deren Fahrzeuge zu nutzen. Die Gefangenen gingen dann gegen rivalisierende Banden vor. Jorge Carvallo, der Vorsitzende der Anwaltsvereinigung im Bundesstaat Mexiko, hatte im November 2010 berichtet, dass Straftäter mit Hilfe der Polizei nachts das Barrientos-Gefängnis verlassen konnten, um bewaffnete Raubüberfälle zu verüben.

Die Regierung von Durango kündigte am 21. Dezember die endgültige Schließung des Gómez Palacio-Gefängnisses an. Dort soll künftig eine Polizeiwache einziehen. Die Angehörigen der Häftlinge haben indes immer noch keine Klarheit über die Vorfälle am 18. Dezember.

"Wir versuchen einigen Frauen zu helfen, die in einem furchtbaren Zustand zu uns kamen", sagt die Aktivistin Verónica Villareal. "Sie waren verzweifelt und machten sich Sorgen um ihre Angehörigen." Die Gruppe besorgte Unterkünfte für die Frauen, die von Gómez Palacio nach Mexiko-Stadt gekommen waren, um Auskünfte einzuholen.

Seit dem 19. Dezember harrt Amparo Castillo vor dem Gefängnis in Durango aus und hofft, ihren Sohn wiederzusehen. "Sie haben uns nichts gesagt", klagt sie. "Wir wissen nicht, wie es ihnen geht. Erst in vier Wochen können wir sie sehen. Man hat uns nur gesagt, dass einige Gefangene in andere Bundesstaaten verlegt wurden." (Ende/IPS/ck/2013)


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http://www.ipsnews.net/2012/12/prisons-in-mexico-on-verge-of-collapse/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Januar 2013