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JUGEND/306: Kinder- und Jugendhilfe in neuer Gesellschaft (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2013 - Nr. 101

Kinder- und Jugendhilfe in neuer Gesellschaft

Wie sich das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen verändert - und wie die Kinder- und Jugendhilfe darauf reagiert

von Thomas Rauschenbach



Veränderungen des Kindes- und Jugendalters lassen sich aus mehreren Blickwinkeln nachzeichnen. Der Blick auf die Akteure weist darauf hin, wie sich das Leben von Kindern und Jugendlichen verwandelt und was die Erkennungszeichen dieses veränderten Aufwachsens sind. Ebenso aufschlussreich ist die Frage, welche Rolle dabei Institutionen wie die Schule oder die Kinder- und Jugendhilfe spielen: Wo reagieren diese auf die Veränderungen des Aufwachsens - und wo stoßen sie selbst entsprechende Veränderungen an? Der 14. Kinder- und Jugendbericht geht beiden Fragenkomplexen nach; sein Augenmerk richtet sich überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, auf die Kinder- und Jugendhilfe.


Was Heranwachsende erleben - der Blick auf die Akteure

Kindheit und Jugend spielen sich heute an anderen Orten und in anderen Settings ab als früher. Viele Prozesse des Aufwachsens, die einst fast ausschließlich in der unregulierten privaten Sphäre von Familie und Haushalt abliefen, finden heutzutage weitgehend außerhalb der eigenen vier Wände statt. Schon im zweiten oder dritten Lebensjahr betritt eine stetig steigende Anzahl von Kindern die institutionalisierte Welt der Kindertagesbetreuung. Die Kinder des 21. Jahrhunderts erleben keine reine »Familienkindheit« mehr, wie sie in Westdeutschland vor wenigen Jahrzehnten üblich war, als Kinder noch ein, zwei Jahre vor der Einschulung fast ausschließlich von der Mutter und vielleicht noch der Großmutter umsorgt wurden.

Ebenfalls selten geworden ist die im Zuge des Älterwerdens nachfolgende »Straßenkindheit« im Grundschulalter, in der sich Kinder am Nachmittag relativ unkontrolliert auf Spiel- und Bolzplätzen, auf freiem Gelände und in anderen öffentlichen Räumen treffen. Stattdessen wird Schule immer häufiger zu einem Ganztagsbetrieb, der den Alltag von Kindern und Jugendlichen weit mehr prägt als die frühere obligatorische Halbtagsschule. Selbst Schülerinnen und Schüler, deren Unterricht mittags endet, sind anschließend im Hort oder haben längst wegen geplanter und geregelter außerschulischer Aktivitäten - Sport, Musik, Vereine, Jugendgruppen, Ballett - häufig Terminpläne, wie sie in ihrer Elterngeneration kaum vorstellbar waren.

Das Aufwachsen vollzieht sich mehr denn je von Anfang an als eine »organisierte und betreute Kindheit«. Heranwachsende begegnen einer stetig wachsenden Zahl an pädagogischen Profis, die sich vormittags wie nachmittags, am Wochenende und in den Ferien um sie kümmern, sie betreuen, beaufsichtigen, unterhalten, erziehen, beraten, unterrichten, trainieren und therapieren. Die pädagogische Planung, Gestaltung und Inszenierung der Lebenswelt der nachwachsenden Generation gehört zur Normalität und zu den neuen Selbstverständlichkeiten des Aufwachsens am Beginn des 21. Jahrhunderts. Zugleich werden die Lebenswelten der Kinder offener, vielschichtiger, individueller, vorläufiger: So heterogen die deutsche Gesellschaft im Laufe eines halben Jahrhunderts geworden ist, so heterogen sind auch die Kindheiten.

Mit dem Übergang in das Jugendalter werden die familiär geprägten, vorgegebenen Muster der Lebensführung nach und nach ergänzt, durchbrochen und abgelöst durch selbst gewählte, jugendkulturelle Ausdrucksformen, Stile und Präferenzen in Gleichaltrigenszenen. Hier zeigen sich auch neue Muster des Umgangs mit Medien: Jugendliche unterscheiden im Jahr 2013 nicht mehr zwischen »online« und »offline«; sie bewegen sich mit großer Selbstverständlichkeit in gleichermaßen realen wie virtuellen Räumen, die ihre Eltern deutlich schlechter überblicken als die Zimmer ihrer Kinder.

Dies alles bleibt nicht ohne Folgen und Nebenwirkungen für die Kinder- und Jugendhilfe. In welchem Ausmaß reagiert diese auf die sozialen Veränderungen - und in welchem Ausmaß gestaltet sie diese vielleicht sogar selbst mit? Ein Blick auf die rechtlichen Veränderungen in der Kinder- und Jugendhilfe macht deutlich, dass sich beide Effekte verschränken. So wächst mit dem bundesweit geregelten Ausbau der Kinderbetreuung für unter Dreijährige seit 2007 auch im Westen Deutschlands ein weiterer, nunmehr zentraler Aufgabenbereich der Kinder- und Jugendhilfe heran. Damit einher geht zum einen ein Anstoß für den sozialen Wandel in der frühen Kindheit, verliert doch damit die außerhäusliche Betreuung im zweiten und dritten Lebensjahr auch in Westdeutschland ihren Ausnahmecharakter. Mehr noch: Sie ist dabei, ähnlich wie in Ostdeutschland, zur neuen Normalität des Aufwachsens zu werden. Zum anderen kann man feststellen, dass diese verstärkte öffentliche Verantwortungsübernahme für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen eine Reaktion auf veränderte elterliche Bedürfnisse darstellt: Mit dem Bedeutungszuwachs der Erwerbstätigkeit von Frauen mit Kindern sowie einer Neuakzentuierung der »Bildung von Anfang an« ist in den vergangenen Jahren das elterliche Interesse an früher Bildung, Betreuung und Erziehung ihrer Kinder enorm gewachsen.

Eine ähnliche Verschränkung lässt sich bei der jüngsten Ausweitung der öffentlichen Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern beobachten: im Feld des Kinderschutzes. Den Anstoß geben neue gesetzliche Grundlagen - kürzlich präzisiert durch das Bundeskinderschutzgesetz -, aufgrund derer staatliche Institutionen versuchen, Kindeswohlgefährdungen frühzeitig zu erkennen und Präventionsmöglichkeiten im Rahmen der »Frühen Hilfen« zu verbessern. Den gesetzgeberischen Aktivitäten gingen mehrere spektakuläre Fälle von Kindstötungen voraus; auch darin wird eine Reaktion der Legislative auf einen anhaltenden öffentlichen Diskurs über Kindeswohlgefährdungen erkennbar.


Kinder sollen für den Arbeitsmarkt »fit« gemacht werden

Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass die neue Rechtslage das Verhältnis zwischen öffentlichen Angeboten und Familien qualitativ verändert. Offensichtlich will der moderne Wohlfahrtsstaat den Eltern mit erweiterten Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nicht nur Erziehungs- und Betreuungsarbeit abnehmen; er fordert vielmehr von den Eltern gleichermaßen, Kinder als »öffentliches Gut« optimal zu fördern und sie auf diese Weise für die Gesellschaft, den Arbeitsmarkt und den Wirtschaftsstandort Deutschland »fit« zu machen. Diese gestiegene Erwartung erklärt ebenso die gewachsene Bereitschaft aller staatlich-politischen Ebenen, finanzielle Mittel für den Ausbau und die Stärkung der Kinder- und Jugendhilfe zur Verfügung zu stellen. Diese Entwicklungen hinterlassen in der Kinder- und Jugendhilfe deutliche Spuren. Wie expansiv sich diese Branche zuletzt entwickelt hat, zeigt sich zuallererst am Personalgefüge. Die jüngste Personalerhebung weist - bei steigender Tendenz - mehr als 730.000 Menschen aus, die im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe beruflich tätig sind, davon etwa 610.000 im Westen und 120.000 im Osten Deutschlands. In der deutschen Automobilindustrie, dem lange Zeit mit Abstand bedeutendsten Industriezweig der Bundesrepublik, arbeiten inzwischen ähnlich viele, knapp 750.000 Personen - bei sinkender Tendenz. Zwar lässt sich die Wertschöpfung beider Sektoren kaum miteinander vergleichen und auch die öffentliche Wahrnehmung der Bedeutung der beiden Arbeitsfelder ist immer noch ausgesprochen unterschiedlich. Dennoch deutet dieser Vergleich darauf hin, dass die Kinder- und Jugendhilfe längst nicht mehr nur ein Nischenarbeitsmarkt ist: Sie ist zu einer ernst zu nehmenden Wachstumsbranche geworden.

Entsprechend sind die öffentlichen Ausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe in den vergangenen 20 Jahren - bei einer gleichzeitig rückläufigen Anzahl der unter 27-Jährigen - deutlich angestiegen, und zwar zwischen 1992 und 2011 von 15 Milliarden Euro auf zuletzt mehr als 30 Milliarden Euro, was auch inflationsbereinigt eine deutliche Zunahme der finanziellen Aufwendungen für die Kinder- und Jugendhilfe bedeutet. Auffällig ist, dass der Großteil dieses Zuwachses dabei nicht in den 1990er-Jahren zustande kam, sondern in der Zeit ab 2006 - und vor allem in Westdeutschland.

Dieser Pfad der Expansion und Ausdifferenzierung der Kinder- und Jugendhilfe erscheint aus heutiger Sicht als eine folgerichtige Antwort auf die veränderten Bedingungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen und den gewandelten Lebenslagen von Familien. Die sich gegenwärtig abzeichnenden Realitäten von Familien sowie die individuellen Perspektiven von Kindern und Jugendlichen legen nahe, dass dieser Entwicklungspfad auch künftig weiter beschritten wird.


Prof. Dr. Thomas Rauschenbach ist Direktor und Vorstandsvorsitzender des Deutschen Jugendinstituts (DJI), Professor für Sozialpädagogik an der Technischen Universität Dortmund sowie Leiter des Forschungsverbundes DJI/TU Dortmund und der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik.
Kontakt: rauschenbach@dji.de

DJI Impulse 1/2013 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2013 - Nr. 101, S. 4-6
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Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juli 2013