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KIND/045: Hilfen zur Erziehung - Versprechen mit vielen Unbekannten (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 2/2011 - Nr. 94

Versprechen mit vielen Unbekannten

Von Jens Pothmann


Nach einer beachtlichen Expansion der Hilfen zur Erziehung in den vergangenen 20 Jahren erreichten im Jahr 2009 vor allem ambulante Leistungen mehr als 950.000 junge Menschen. Doch was kann und was sollte man von der Inanspruchnahme dieser Hilfeformen mit Blick auf präventive Effekte erwarten? Können sie Heimerziehung und stationäre Unterbringung vermeiden? Kritische Hinweise zur Bilanz des Forschungsstands.


Für die Hilfen zur Erziehung (HzE) ist für die vergangenen Jahrzehnte ein beachtlicher Expansions- und Ausdifferenzierungsprozess zu konstatieren (Rauschenbach 2010, S. 28). Nie zuvor haben so viele Familien personenbezogene staatliche Sozialleistungen zur Unterstützung der familiären Erziehung in Anspruch genommen wie zurzeit - überwiegend handelt es sich um Beratungsangebote und diverse andere ambulante Leistungen. Im Jahre 2009 lag die Zahl der Hilfen insgesamt bei etwa 834.500. Rund 954.400 junge Menschen wurden durch diese Leistungen erreicht; das entspricht fast sechs Prozent der Bevölkerung im Alter von unter 21 Jahren. Immerhin nicht ganz 6,6 Milliarden Euro wurden im besagten Jahr von den Kommunen für HzE aufgewendet. Das ist etwa jeder vierte Euro der Jugendhilfeausgaben insgesamt.

Beachtlich ist daneben der erreichte Grad der Ausdifferenzierung des HzE-Angebots. Das geht nicht zuletzt auch auf die in den 1980er-Jahren formulierten Ziele des Gesetzgebers für die Reform des Kinder- und Jugendhilferechts zurück. So bestand Einigkeit darüber, das Übergewicht der verschiedenen Formen familienersetzender Hilfen (Vollzeitpflege, Heimerziehung) abzubauen und dafür ein breites Spektrum an ambulanten und teilstationären Leistungen zu implementieren (Wiesner 2001). Die Anfang der 1990er-Jahre veränderte Rechtslage des SGB VIII und die Konzepte einer lebenswelt- und dienstleistungsorientierten Kinder- und Jugendhilfe haben die HzEs stärker in Richtung familienunterstützender und -ergänzender, also niedrigschwelliger Leistungsangebote verschoben (Rauschenbach 2010). Vollzogen hat sich zumindest auf den ersten Blick ein Umbau des Hilfesystems hin zu einer präventiven und familienunterstützenden Kinder- und Jugendhilfe. Wenn aber nun für die letzten Jahrzehnte sowohl eine Expansion als auch eine Ausdifferenzierung der Angebote sowie eine vermehrte Inanspruchnahme ambulanter Hilfen zu beobachten ist, könnte vielleicht besser von einem Anbau als von einem Umbau gesprochen werden.

Ob nun Umbau oder Anbau oder vielleicht doch beides, ist an dieser Stelle nicht zu klären. Dafür hätte die Frage nach Wechselwirkungen oder auch systematischen Bezügen zwischen den institutionalisierten Angeboten der HzEs bis heute empirisch abschließend beantwortet werden müssen. Doch es ist nach wie vor offen, inwiefern die vermehrte Inanspruchnahme ambulanter Leistungen systematisch die Notwendigkeit einer stationären Unterbringung vermeidet, reduziert oder aber gar ein adäquater Ersatz sein kann.


LEXIKON

Hilfen zur Erziehung

Die Hilfen zur Erziehung sind im Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) geregelt. Sorgeberechtigte haben darauf Anspruch, sofern die Hilfe für die Entwicklung des Kindes geeignet und notwendig ist und wenn eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung nicht mehr gewährleistet ist. Zu unterscheiden sind familienunterstützende Leistungen wie zum Beispiel Erziehungsberatung und die Zusammenarbeit mit einem Betreuungshelfer. Als familienersetzende Leistungen werden dagegen die Heimunterbringung von Kindern und die Vollzeitpflege in einer anderen Familie bezeichnet.

Kinder- und Jugendhilfestatistik (KJH-Statistik)

Die amtliche KJH-Statistik erfasst im Rahmen von zehn Teilerhebungen zum Beispiel zu der Kindertagesbetreuung, den Hilfen zur Erziehung, den Schutzmaßnahmen, aber auch zu den Beschäftigten und den Ausgaben die Strukturen und ausgewählte Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe. Sie hat zum Ziel, Fakten über die Kinder- und Jugendhilfe aufzuzeigen, um somit auch zur Weiterentwicklung der rechtlichen Grundlagen beizutragen. Die KJH-Statistik leistet auf diese Weise einen Beitrag zur empirischen Dauerbeobachtung des Feldes.

Die meisten Daten werden jährlich von den Statistischen Landesämtern und dem Statistischen Bundesamt erhoben. Die Standardtabellen sind hier komplett oder zumindest auszugsweise in der Regel kostenfrei über das Internet verfügbar. Die Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik (AKJStat) wertet die Ergebnisse der KJH-Statistik regelmäßig aus und veröffentlicht die Analysen in Beiträgen für Fachzeitschriften oder Sammelbänden sowie kostenfrei im Rahmen eines dreimal jährlich erscheinenden Informationsdienstes (KomDat Jugendhilfe) und auf der Internetseite des Forschungsprojektes:
www.akjstat.uni-dortmund.de



Widersprüchliche Ergebnisse

Auch wenn die Kinder- und Jugendhilfeforschung auf diese Fragestellungen (immer noch) keine abschließenden Antworten gefunden hat, so liegen doch immerhin diverse Berechnungen und empirische Untersuchungen vor, allerdings mit zumeist vagen, zum Teil widersprüchlichen Ergebnissen.

Blickt man zunächst auf die Entwicklung der Inanspruchnahme von Leistungen der letzten knapp 20 Jahre zurück, so zeigen die Ergebnisse der Kinder- und Jugendhilfestatistik (KJH-Statistik) eine deutliche Zunahme der Hilfen mit einem geringeren Interventionscharakter in Form von Erziehungsberatung sowie ambulanten Hilfen. Die Fallzahlen bei der Fremdunterbringung (Vollzeitpflege und Heimerziehung) bleiben dagegen im gleichen Zeitraum nahezu konstant beziehungsweise haben in den vergangenen Jahren sogar wieder zugenommen (siehe Abbildung). Gleichwohl liegt nach den zuletzt verfügbaren Daten die Inanspruchnahme ambulanter Leistungen deutlich über den Zahlen der Fremdunterbringung, so dass man diesbezüglich tatsächlich von einer veränderten Hilfekultur sprechen könnte. Zu weniger Fremdunterbringungen hat dies im Endeffekt allerdings nicht geführt.

Aus diesen Entwicklungsverläufen lassen sich zunächst einmal keine systematischen Bezüge zwischen den Hilfeformen ableiten. Das heißt nicht, dass es die gesuchten Wechselwirkungen nicht gibt, es bedeutet aber, dass sie zumindest auf Basis dieser Daten nicht sichtbar werden. So schlussfolgerte bereits Bürger (2001) anhand einer Analyse amtlicher Daten für die 1990er-Jahre, dass bundesweit und hier insbesondere für die westdeutschen Länder keine Gleichzeitigkeiten zwischen der Entwicklung bei den Fremdunterbringungen und einer veränderten Nutzung der ambulanten Hilfen festzustellen sind. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen auch Untersuchungen des Deutschen Jugendinstituts (Pluto u. a. 2007, S. 252).

Auf der Grundlage eigener Datenerhebungen bei Jugendämtern werden für Baden-Württemberg oder auch Rheinland-Pfalz etwas andere Schlussfolgerungen aus den Daten gezogen. Basierend auf landesweiten Untersuchungen zur Gewährungspraxis und Inanspruchnahme von HzE wird davon ausgegangen, dass den ambulanten Hilfen zumindest eine »Bremswirkung« mit Blick auf eine verhinderte Zunahme bei den Fremdunterbringungen zugeschrieben werden kann (KVJS 2008; MASGFF 2010). Zweifellos könnten die vorliegenden Ergebnisse der KJH-Statistik in eine ähnliche Richtung interpretiert werden (siehe Abbildung).

Auf der Basis einer Befragung von fast 90 Jugendämtern in einem Teil Nordrhein-Westfalens wiederum kommt man zu einem anderen Ergebnis. In Jugendamtsbezirken mit einem hohen Anteil von sogenannten »Nicht-Heimhilfen« werden weniger Heimerziehungen gezählt, und zwar insbesondere für die unter 12-Jährigen (Stickdorn 2003). Ohne die Resultate hier näher kommentieren zu wollen, ist das Design der Untersuchung richtungsweisend für zukünftige Antwortversuche. Erstens sollten solche Untersuchungen die regionalen Disparitäten und damit die Jugendamtsergebnisse berücksichtigen. Zweitens sollten bei derartigen Berechnungen aber auch Angaben zu den jungen Menschen und deren Familien stärker beachtet werden. Und drittens erscheint es notwendig, die Untersuchung von Wechselwirkungen auf bestimmte Hilfeformen und -settings einzugrenzen (Pothmann/Rauschenbach 2010).


Vorsicht: Legitimationsfalle

Die vorliegenden Erkenntnisse sind mehr als unbefriedigend. Überfällig sind daher nicht nur weitere Untersuchungen zu Wechselwirkungen innerhalb der HzE-Angebote. Darüber hinaus müssen zudem die Wechselwirkungen zwischen HzE-Leistungen und den gewachsenen Strukturen für die Betreuung, Bildung, Erziehung und Förderung von jungen Menschen und deren Familien untersucht werden, etwa im Rahmen Früher Hilfen, der Kindertagesbetreuung, der Kinder- und Jugendarbeit oder auch den diversen Kooperationsformen zwischen Jugendhilfe und Schule. Daneben muss stärker als bisher auch die Ebene von Hilfeverläufen und -karrieren mit in den Blick genommen werden.

Ohne abgesicherte Erkenntnisse über Wechselwirkungen zwischen den unterschiedlichen Angebotsstrukturen bleiben Optionen für Qualitätsentwicklung und Steuerungsstrategien ungenutzt. Doch nicht nur das. Politik und Praxis geraten angesichts des Erkenntnisstands zudem in die Gefahr, die ambulanten Hilfen in eine Art Legitimationsfalle hineinzumanövrieren. Die bislang in der Regel einfach konstruierten Wirkungszusammenhänge und daraus resultierende Präventionsversprechen sind jugendhilfepolitisch zu kurz gegriffen und holen die Akteure fiskalisch mittelfristig wieder ein.

Fachpolitisch ist daher daran zu erinnern, dass der Ausbau der ambulanten Hilfen nicht als kostengünstiger Ersatz oder fiskalische Vermeidungsstrategie von stationären Unterbringungen gedacht ist, sondern in erster Linie als Ausdruck eines gesellschaftlich gewollten Paradigmenwechsels von einer fürsorglichen zu einer lebenswelt- und dienstleistungsorientierten Kinder- und Jugendhilfe zu verstehen ist.


DER AUTOR
Dr. Jens Pothmann, Diplom-Pädagoge, ist Mitarbeiter der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik im Forschungsverbund Deutsches Jugendinstitut/Technische Universität Dortmund.
Kontakt: jpothmann@fk12.tu-dortmund.de, Telefon 0231/755-5420


LITERATUR

BÜRGER, ULRICH: Können ambulante Hilfen Fremdunterbringung vermeiden? Eine Bilanz der Hilfen zur Erziehung im Zeitalter des KJHG. In: Rauschenbach, Thomas / Schilling, Matthias (Hrsg.): Kinder- und Jugendhilfereport 1. Münster, S. 191-219

KOMMUNALVERBAND FÜR JUGEND UND SOZIALES BADEN-WÜRTTEMBERG (KVJS) (Hrsg.; 2008): Bericht zu Entwicklungen und Rahmenbedingungen der Inanspruchnahme erzieherischer Hilfen in Baden-Württemberg 2008. Stuttgart

MINISTERIUM FÜR ARBEIT, SOZIALES, GESUNDHEIT, FAMILIE UND FRAUEN RHEINLAND-PFALZ (MASGFF) (Hrsg.; 2010): Hilfen zur Erziehung in Rheinland-Pfalz, Mainz

PLUTO, LIANE / GRAGERT, NICOLA / VAN SANTEN, ERIC / SECKINGER, MIKE (2007): Kinder- und Jugendhilfe im Wandel. München

POTHMANN, JENS / RAUSCHENBACH, THOMAS (2010): Kann die amtliche Statistik Wirkungen beobachten? Möglichkeiten und Grenzen der Kinder- und Jugendhilfestatistik. Erscheint in: Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen/Institut für Kinder und Jugendhilfe (Hrsg.): Wirkungsforschung im Sozialwesen

RAUSCHENBACH, THOMAS (2010): Wo steht die Kinder- und Jugendhilfe? Zwischen Bedeutungszuwachs und Marginalisierung. In: Neue Praxis, Heft 1/2010, S. 25-38

STICKDORN, JÖRG (2003): Der Umbau der Erziehungshilfen gelingt. Ein interkommunaler Vergleich. Weinheim u. a.

WIESNER, REINHARD (2001): Rechtliche Grundlagen der Erziehungshilfe. In: Birtsch, Vera / Münstermann, Klaus / Trede, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch Erziehungshilfen. Münster, S. 329-352


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Seite 10:

Inanspruchnahme von Hilfen zur Erziehung

Die Angaben schließen die Hilfen für junge Volljährige mit ein. Unter »ambulanten Hilfen« werden hier familienunterstützende und -ergänzende Leistungen verstanden, ohne die gesondert ausgewiesenen Erziehungsberatungen. Dargestellt ist die Zahl der mit den Hilfen erreichten jungen Menschen. Die Kategorie der »Fremdunterbringung« fasst familienersetzende Hilfeformen im Rahmen von Vollzeitpflege und Heimerziehung zusammen. Nicht weiter ausgeführt werden können an dieser Stelle Hinweise zur Einschränkung der Aussagekraft des Zeitreihenvergleichs für den Zeitraum 2005 bis 2009 aufgrund einer Umstellung der KJH-Statistik (siehe auch www.akjstat.uni-dortmund.de >> Analysen).

Darstellung nach Leistungssegmenten; Deutschland; Erziehungsberatung ambulante Hilfen Fremdunterbringung 1991-2009; Angaben pro 10.000 der unter 21-Jährigen

Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe - Teil I: Erzieherische Hilfen, verschiedene Jahrgänge


DJI Impulse 2/2011 - Das komplette Heft finden Sie im Internet unter:
www.dji.de/impulse


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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 2/2011 - Nr. 94, S. 9-11
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
Nockherstraße 2, 81541 München
Telefon: 089/623 06-0, Fax: 089/623 06-265
E-Mail: info@dji.de
Internet: www.dji.de

DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
abonniert oder unter vontz@dji.de schriftlich angefordert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juli 2011