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KIND/070: Indien - Tausende Armutswaisen in Kaschmir, seelische Störungen verbreitet (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 4. Januar 2013

Indien: Tausende Armutswaisen in Kaschmir - Seelische Störungen verbreitet

von Sana Altaf


Bild: © Sana Altaf/IPS

In Waisenhäusern wird für die Grundbedürfnisse gesorgt
Bild: © Sana Altaf/IPS

Srinagar, Kaschmir, 4. Januar (IPS) - Der 17-jährige Afzal lebt seit vier Jahren in einem Waisenhaus im indischen Teil von Kaschmir, obwohl er eine Mutter hat. Sie lebt mit seinen jüngeren Geschwistern bei seinen Großeltern in der Stadt Srinagar, nicht weit von dem Waisenhaus entfernt. Der Vater ist tot.

Einmal im Monat bekommt Afzal Besuch von der Familie. Danach ist er wieder sich selbst überlassen. Er gehört zu den Tausenden von Kindern, die aus Armutsgründen nicht bei ihren Eltern aufwachsen. "Meine Mutter hat kein Geld, um mich zur Schule zu schicken und zu ernähren", erzählt Afzal.

Ihr Sohn würde verhungern, wenn er bei ihr leben würde, meint Farzana, die Mutter. Im Waisenhaus erhalte er zumindest ordentliches Essen, Kleidung und Unterricht. Sie hat kein eigenes Einkommen und kann ihre Familie nur mit der finanziellen Unterstützung einer Nichtregierungsorganisation (NGO) durchbringen.

Andere Kinder in dem Waisenhaus Bait Ul Hilal haben Ähnliches erlebt. Kein Tag vergeht, an dem der zierliche Nabeel sich nicht wünscht, wieder nach Hause zurückkehren zu können. Er vermisst seine Mutter und seine drei Geschwister. "Mein Vater war ein Rebell und wurde vor fünf Jahren getötet", erzählt er. "Seitdem lebe ich hier, weil meine Familie in die Armut abgerutscht ist."

Seine Mutter Arifa sieht keine andere Möglichkeit, um ihrem Sohn eine Ausbildung zu bieten. "Die Schule, die Bücher und die anderen Ausgaben kann ich nicht bezahlen", sagt sie. Als Haushaltshilfe verdient sie im Monat gerade einmal 55 US-Dollar.

Vor 1986, als die Unruhen im Kaschmir-Tal zunahmen, gab es in Srinagar nur ein einziges Waisenhaus. Meistens nahmen Nachbarn oder Verwandte Waisenkinder zu sich. Die Zahl der Heime nahm jedoch sprunghaft zu, als etwa 10.000 Menschen bei den Unruhen in der Region getötet wurden. Die meisten Opfer waren junge Väter.


Mehr als ein Drittel aller Waisenhauskinder von Bürgerkrieg betroffen

Die britische NGO 'Save the Children' schätzt, dass es in Kaschmir etwa 214.000 Waisen gibt. 37 Prozent von ihnen hat der Bürgerkrieg um das Zusammenleben mit der Familie gebracht - entweder durch den Tod der Eltern oder durch die Armut. In den zahlreichen Waisenhäusern, die in ganz Kaschmir entstanden sind, leben viele Kinder, die noch einen Elternteil haben.

Die meisten Kinder hätten noch Mütter und Großeltern, bestätigt Zahoor Ahamd Tak, Vorsitzender des großen Waisenhauses 'Yateem Trust', das vom Bundesstaates Jammu und Kaschmir verwaltet wird. "Diese Familien leben jedoch im Elend, nachdem sie ihren Ernährer verloren haben." Würde der Staat diese Menschen unterstützen, müssten sie ihre Kinder nicht wegschicken, meint er. 80 Prozent dieser 'Waisen' erhielten zudem keine höhere Bildung, weil sie nach Abschluss der zehnten Klasse die Heime verlassen müssten.

Psychologen weisen immer wieder darauf hin, dass Essen, Kleidung und Bildung die Zuwendung der Familie nicht ersetzen können. Viele Kinder, die aus ihrem vertrauten Umfeld herausgerissen werden, entwickeln in den Waisenhäusern in einem alarmierenden Ausmaß seelische Störungen.


Seelische Narben

Eine kürzlich in den Waisenhäusern in Kaschmir durchgeführte Untersuchung unter Leitung des bekannten Psychologen Mushtaq Margoob ergab, dass fast 41 Prozent der Kinder unter posttraumatischem Stress leiden. Bei einem Viertel waren Anzeichen für eine Depression erkennbar. Sieben bis 13 Prozent von ihnen seien hyperaktiv, litten unter Angstzuständen und dissoziativen Störungen.

Einige Heime konnten sich auf die emotionalen Bedürfnisse der Kinder einstellen und ihnen ein neues Zuhause bieten. Die meisten werden jedoch völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. "Sie haben Probleme im Umgang mit anderen und können werden später ihren eigenen Kindern keine guten Eltern sein", so Magoob.

"Diese Kinder haben schon ihre Väter verloren", meint Bashir Ahmad Dabla, Soziologe an der Universität Kaschmir. "Und wenn sie in Waisenhäuser kommen, müssen sie auch auf die Liebe verzichten, die sie von ihren Müttern und Geschwistern bekommen könnten." (Ende/IPS/ck/2013)


Links:

http://www.savethechildren.org/site/c.8rKLIXMGIpI4E/b.6115947/k.8D6E/Official_Site.htm
www.ipsnews.net/2012/12/thousands-orphaned-by-poverty-in-kashmir/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Januar 2013