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KIND/099: Flüchtlingskinder, Jugendhilfe und Kinderschutz (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2014 - Nr. 105

Flüchtlingskinder, Jugendhilfe und Kinderschutz

Von Heinz Kindler



Die deutsche Kinder- und Jugendhilfe diskriminiert Flüchtlingskinder unbeabsichtigt. Während wissenschaftliche Studien zur Lebenssituation von jungen Flüchtlingen noch fehlen, untersuchten Forscherinnen und Forscher in den letzten Jahren, wie Flüchtlingskinder unter der schwierigen Situation ihrer Familie leiden - und welche Faktoren sich positiv auswirken können.


Im Geschichtsbewusstsein der deutschen Kinder- und Jugendhilfe haben weder die Erfahrungen der vor dem Zweiten Weltkrieg aus Deutschland vertriebenen Kinder (zum Beispiel Fast 2011) noch die Erlebnisse der Kinder, die während oder im Anschluss an den Krieg nach Deutschland vertrieben wurden (zum Beispiel Weber-Newth 2012) nennenswerte Spuren hinterlassen. Pionierstudien zur damaligen psychischen Situation und Entwicklung von Flüchtlingskindern sind heute weitgehend vergessen.

Mit dem Wandel Deutschlands von einem Auswanderungs- zu einem Einwanderungsland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstand zwar ein zunehmendes Interesse der sozialen Arbeit an Kindern und Jugendlichen aus sogenannten Gastarbeiterfamilien. Dieses war aber stark darauf fokussiert, den Schulerfolg der Kinder sicherzustellen und Kriminalität zu verhindern. Andere Aspekte, die der Kinder- und Jugendhilfe helfen könnten, ihr heutiges "Fremdeln" gegenüber den Bedürfnissen und Lebenslagen von Flüchtlingskindern zu überwinden, sind nur selten in den Blick geraten. Vor allem ein mehrdimensionales Verständnis von Akkulturation, das Kenntnis und Wertschätzung sowohl der Kultur in Deutschland als auch der Kultur in der Herkunftsfamilie als förderungswürdig begreift, hat in der deutschen Kinder- und Jugendhilfe nie richtig Fuß gefasst. Dementsprechend legt sie mehr Wert darauf, dass sich Flüchtlingskinder die Werthaltungen und Lebensweisen der deutschen Mehrheitsgesellschaft aneignen, als das Alternativmodell, das eine bikulturelle Kompetenz bevorzugt (für Forschungsübersichten siehe Bornstein/Cote 2006; Coll 2012).

Das Feld des Kinderschutzes nähert sich Problemlagen in Flüchtlingsfamilien bislang vor allem mit einer besonderen Aufmerksamkeit für schädigende kulturelle Praktiken in manchen Familien, wie etwa (drohender) weiblicher Genitalverstümmelung, Zwangsverheiratung von Jugendlichen oder schweren Restriktionen von Selbstbestimmung und Bewegungsfreiheit bei jugendlichen Mädchen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass solche Praktiken nicht toleriert werden können und notfalls einen Anlass für staatliches Eingreifen zum Schutz von Kindern darstellen. Zugleich zeigen aber vergleichende Analysen von Praxis- und Politikstrategien in Europa, dass diese Themen in Deutschland - bedingt durch schwache oder nicht existente Strukturen der Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Gruppen migrierter Familien - in der besonderen Gefahr stehen, zu einem Mittel der Ausgrenzung zumeist muslimischer Familien zu werden (zum Beispiel Yurdakul/Korteweg, im Druck).


Wie das Kinderschutzsystem Flüchtlinge diskriminiert, ist kaum erforscht

Zudem wurde in Deutschland die Gefahr institutioneller Diskriminierung im Kinderschutzsystem (zum Beispiel durch häufigere Fremdunterbringungen) bislang eher selten zum Gegenstand kritischer Selbstüberprüfung. Das Projekt "migrationssensibler Kinderschutz" (Jagusch 2012) war zwar dafür ein sehr wichtiger und positiver erster Schritt. Im Verhältnis dazu, wie intensiv in einigen anderen Ländern (etwa in den USA, den Niederlanden oder England) beobachtet wird, ob Kinder aus bestimmten Ethnien oder Kulturen im Kinderschutzsystem überrepräsentiert sind, wird dieser Thematik in Deutschland wenig Aufmerksamkeit geschenkt (Alan 2014). Bislang nicht erforscht ist insbesondere, ob Kinder mit unterschiedlichem Aufenthaltstitel gleich häufig Schutz erfahren wie deutsche Kinder, wenn sie Opfer von Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch werden.

Zudem haben alle Kinderschutzsysteme mit dem Problem zu kämpfen, nach eingegangenen Kinderschutzmitteilungen in ausreichender Zahl kulturell kompetente Fachkräfte für die Kommunikation mit migrierten Familien oder ambulante Hilfen zur Erziehung zu rekrutieren. Flüchtlingsfamilien stellen hierbei eine besondere Herausforderung dar, da sie häufig kulturellen oder ethnischen Gruppen angehören, die in Deutschland eher selten vertreten sind, und sich zudem die Herkunftsländer von Flüchtlingsfamilien in Abhängigkeit von politischen Ereignissen rasch verändern.

Während also auf der einen Seite noch erhebliche Anstrengungen erforderlich sind, um die "Fitness" der Kinder- und Jugendhilfe und speziell des Kinderschutzsystems für Versorgung und Schutz von Flüchtlingskindern zu erhöhen, sind auf der anderen Seite in den letzten Jahren viele Informationen über Belastungen und Bedürfnisse, aber auch über die Stärken von begleiteten Flüchtlingskindern zusammengetragen worden.

Einen Schwerpunkt der wissenschaftlichen Literatur bilden Befunde zur Verbreitung von posttraumatischen Belastungsstörungen bei Flüchtlingskindern. So stellten etwa die Psychologen Martina Ruf, Maggie Schauer und Thomas Elbert (2010) fest, dass fast alle der von ihnen untersuchten begleiteten Flüchtlingskinder wiederholt traumatische Ereignisse erlebt hatten. Etwa ein Fünftel der Kinder hatte hierauf mit der Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung reagiert. Ähnliche Häufigkeiten werden auch bei Flüchtlingskindern in anderen westlichen Industrieländern berichtet. Die wenigsten der Kinder erhielten zeitnah ein angemessenes psychotherapeutisches Angebot. Das ist sehr problematisch, da posttraumatische Belastungsstörungen chronisch werden und dann zu langfristig negativen Folgen für die psychische Gesundheit führen können. Dringend benötigt werden daher Fachkräfte, die Brücken zum kinderpsychiatrischen Versorgungssystem schlagen können.

Jenseits posttraumatischer Belastungsstörungen zeigen Untersuchungen in Flüchtlingsunterkünften in Deutschland, dass ein substanzieller Anteil (bis zu 50 Prozent) der dort begleitet lebenden Kinder und Jugendlichen zumindest zeitweise auf die Belastungen vor, während und nach der Flucht mit psychischen Auffälligkeiten reagiert (Gavranidou u.a. 2008). Neben Unterstützungsangeboten für Kinder und Jugendliche selbst spielen psychische Belastungen oder gar Erkrankungen der Eltern hier eine besondere Rolle. Ein Weg zum Kindeswohl führt daher über die Förderung des Elternwohls. Tatsächlich lässt sich belegen, dass positive Beziehungen zu Eltern oder anderen begleitenden Verwandten, aber auch weitere unterstützende Erwachsene Flüchtlingskindern helfen, Belastungen zu überwinden. Vor einem solchen Hintergrund ist zu betonen, dass sich Kinder aus Flüchtlingsfamilien teilweise beeindruckend resilient zeigten (APA 2010), sie also trotz schwieriger Situationen eine positive Entwicklung aufwiesen. Viele der Kinder können unter den richtigen Bedingungen zu einem wichtigen Potenzial für unsere Gesellschaft oder die Gesellschaft ihres Heimatlandes werden.


Flüchtlingsheime schaden den Kindern häufig

Nur wenige Fachkräfte werden bislang behaupten wollen, dass die behördlich gestalteten Lebensumwelten und Verfahren, die Flüchtlingskinder durchlaufen, ausreichend auf das Wohl dieser Kinder ausgerichtet sind. Empirische Studien, etwa zu den Auswirkungen des Asylverfahrens auf Kinder, sind aber bislang selten. Eine Ausnahme stellt die Längsschnittstudie der holländischen Sozialwissenschaftlerin Elianne Zijlstra (2012) dar, die aufzeigt, dass sich ein über längere Zeit unklarer Aufenthaltstitel auf Kinder besonders belastend auswirkt. Zudem kann sich die Lebensumwelt in den Flüchtlingsunterkünften schädlich auswirken: etwa dadurch, dass Kinder dort Gewalt miterleben, durch das Leben auf engem Raum (Dichtestress) oder durch fehlenden Schutz vor sexuellen Übergriffen durch andere Mitbewohner (Helming 2012).

Der Rechtsbegriff der Kindeswohlgefährdung zielt auf das Verhältnis zwischen Staat und Eltern. Bei einer konkreten Gefahr, dass Eltern durch ihr Handeln oder Unterlassen ein Kind erheblich schädigen, besteht eine Berechtigung und Verpflichtung zum staatlichen Eingreifen. Das ist allerdings gebunden an das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Eine solche liegt nicht vor, wenn das Wohl eines Kindes vor allem durch die vom Staat selbst zu verantwortenden Lebensbedingungen seiner Familie gefährdet würde. Anders ist die Situation, wenn Eltern das Kind zum Beispiel misshandeln oder eine Behandlung selbst schwerer psychischer Auffälligkeiten des Kindes verweigern. Da die Grundrechte von Eltern und Kindern nicht unter einem Finanzierungsvorbehalt stehen, kommen auch hier Eingriffe von Seiten des Staates nur dann in Betracht, wenn Möglichkeiten, die Eltern umzustimmen, ausgeschöpft sind oder fehlen. Informationen dazu, wie Kinder nach Vertreibung und Flucht Zusammenbrüche oder Misshandlung seitens ihrer Eltern verkraften, fehlen bislang. Gleiches gilt für Erfolgsaussichten ambulanter Hilfen und Fallverläufe nach Fremdunterbringung. Offen scheint auch die Frage, wie Beratungsansprüche an Beschäftigte in Flüchtlingsunterkünften nach Paragraph 8b SGB VIII (Fachliche Beratung und Begleitung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen) bei gewichtigen Anhaltspunkten für Gefährdung kompetent erfüllt werden können.


DER AUTOR

Dr. Heinz Kindler, Dipl.-Psychologe, ist Leiter der Fachgruppe "Familienhilfe und Kinderschutz" in der Abteilung "Familie und Familienpolitik" des Deutschen Jugendinstituts. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Kinderschutz, Entwicklung von Kindern in Fremdunterbringung sowie Hochstrittigkeit zwischen Eltern nach Trennungen und Partnerschaftsgewalt.
Kontakt: kindler@dji.de


LITERATUR

ALAN, DETTLAFF (2014): The evolving understanding of disproportionality and disparities in child welfare. In: Korbin, Jill/Krugman, Richard (Hrsg.): Handbook of child maltreatment. New York, S. 149-168

AMERICAN PSYCHOLOGICAL ASSOCIATION (APA) (2010): Resilience and recovery after war: Refugee children and families in the United States. Washington

BORNSTEIN, MARC/COTE, LINDA (2006): Acculturation and parent-child relationships. Mahwah

FAST, VERENA (2011): Children's Exodus: A History of the Kindertransport. London

COLL, CYNTHIA GARCIA (2012): The impact of immigration on children's development. Basel

GAVRANIDOU, MARIA/NIEMIEC, BARBARA/MAGG, BIRGIT/ROSNER, RITA (2008): Traumatische Erfahrungen, aktuelle Lebensbedingungen im Exil und psychische Belastung junger Flüchtlinge. In: Kindheit und Entwicklung, Heft 4, S. 224-231

HELMING, ELISABETH (2012): Gefährdung durch sexuelle Gewalt in Flüchtlingsunterkünften. In: IzKK-Nachrichten, Heft 1, S. 18f. Im Internet verfügbar unter:
www.dji.de/bibs/IzKK_Nachrichten_2012.pdf (Zugriff: 13.02.2014)

JAGUSCH, BIRGIT/SIEVERS, BRITTA/TEUPE, URSULA (2012): Migrationssensibler Kinderschutz. Ein Werkbuch. Frankfurt

RUF, MARTINA/SCHAUER, MAGGIE/ELBERT, THOMAS (2010): Prävalenz von traumatischen Stresserfahrungen und seelischen Erkrankungen bei in Deutschland lebenden Kindern von Asylbewerbern. Zeitschrift für klinische Psychologie und Psychotherapie, Heft 3, S. 151-160

YURDAKUL, GÖKÇE/KORTEWEG, ANNA (im Druck): Gender equality and immigrant integration: Honor killing and forced marriage debates in the Netherlands, Germany, and Britain. In: Women's Studies International Forum

WEBER-NEWTH, INGE (2012): The burden of the past: Flight and expulsion as a socio-psychological phenomenon. In: Debatte: Journal of Contemporary Central and Eastern Europe, Heft 1, S. 21-35

ZIJLSTRA, ELIANNE (2012): In the best interest of the child? Thesis. Groningen


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www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2014
Nr. 105, S. 9-11
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Mai 2014