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KRIMINALITÄT/063: Haiti - Die brutalen Erben der Armee, Paramilitarismus in der Kritik (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 17. August 2012

Haiti: Die brutalen Erben der Armee - Paramilitarismus in der Kritik

von Judith Scherr

Von haitianischen Paramilitärs zerstörte Fahrzeuge - Bild: © Judith Scherr/IPS

Von haitianischen Paramilitärs zerstörte Fahrzeuge
Bild: © Judith Scherr/IPS

Oakland, Kalifornien, 17. August (IPS) - Seit der Auflösung der berüchtigten Armee von Haiti 1995 nehmen bewaffnete und uniformierte Paramilitärs, die keine Verbindung zur Regierung haben, die früheren Militärbasen des Landes in Beschlag. Staatspräsident Michel Martelly hat den Aufbau einer neuen Armee zugesagt, schreckt bisher jedoch davor zurück, die haitianische Polizei und die UN-Truppen auf die Milizen anzusetzen.

Angesichts der langen Geschichte der Gewalt, mit der die Militärs gegen die Demokratie zu Felde zogen, hält Jeb Sprague die Geburt einer neuen Armee für wenig ratsam. Martellys Plan werde nur noch mehr Leid erzeugen, warnt Sprague, Autor des neuen Buches 'Paramilitarism and the Assault on Democracy in Haiti' (Der Paramilitarismus und der Anschlag auf die Demokratie in Haiti), das noch in diesem Monat im Verlag 'Monthly Review Press' erscheinen wird.

Wie der Autor kritisiert, haben sich Wissenschaftler und Medien bisher zu wenig mit der Rolle beschäftigt, die die Armee und die Paramilitärs in dem karibischen Inselstaat gespielt haben. Der Soziologe, der an der Universität von Santa Barbara in Kalifornien promoviert, hofft, dass seine Untersuchung diese Lücke füllen kann.

Sprague hat über sechs Jahre recherchiert und ist häufig in Haiti gewesen. Außerdem sah er etwa 11.000 Dokumente des US-Außenministeriums ein, die durch das Gesetz über Informationsfreiheit zugänglich gemacht worden sind. Darüber hinaus interviewte er 50 Zeugen. Auch Dokumente von der Enthüllungsplattform 'Wikileaks' dienten ihm als Informationsquellen.

Der Autor ist ein Wissenschaftler, der keine neutrale Position einnehmen will. Er ist der festen Überzeugung, dass die breite Bevölkerung in Haiti die Zukunft des Landes selbst in die Hand nehmen muss. Um seine Ausführungen wissenschaftlich zu untermauern, hat Sprague rund 100 Fußnoten angefügt.


"Vergiftetes Geschenk" der USA

In seiner historischen Analyse erinnert Sprague den Leser an das "vergiftete Geschenk", das die USA Haiti während ihrer Präsenz im Land von 1915 bis 1934 gegeben hatten: eine Armee, "die die US-Besatzung noch lange nach dem Abzug der Truppen fortsetzen sollte". Die US-Marines hätten in Haiti Streitkräfte geschaffen, die "den Interessen der USA, des Bürgertums und der Großgrundbesitzer" gedient hätten.

Während der Herrschaft der Diktatoren Duvalier Senior und Junior von 1957 bis 1986 betrachteten die USA den Karibikstaat als Bollwerk gegen den Kommunismus. Sprague untersuchte unter anderem die "inzestuöse" Beziehung des Militärs zu Duvaliers Freiwilligen-Sicherheitsmiliz 'Tontons Macoute'. Deren Ziel sei es gewesen, "Kritiker der Regierung zu erpressen und anzugreifen". Oftmals habe sie als Sicherheitspolizei agiert, die ihre Gegner hingerichtet habe.

Nach der Duvalier-Ära setzten die Paramilitärs die Gewalt fort. 1988 wurde ein Mordanschlag auf den in der Bevölkerung beliebten Befreiungstheologen Jean Bertrand Aristide vereitelt. Bei dem Attentat starben 13 Menschen, weitere 80 wurden verletzt.

Sprague deckt auf, dass die Killer mächtige Hintermänner hatten, beispielsweise einen früheren Macoute-Milizionär, der an der berüchtigten 'School of the Americas' in den USA ausgebildet worden war, sowie den Bürgermeister von Port-au-Prince und wohlhabende Geschäftsleute. In seinem Buch weist der Soziologe mehrfach auf Verbindungen zwischen den Paramilitärs und ihren Unterstützern in der gesellschaftlichen Oberschicht des Landes, der Regierung und auswärtigen Mächten hin.

1991 trat Aristide sein Amt als erster demokratisch gewählter Staatschef Haitis an. Nach weniger als acht Monaten wurde er aber von den Streitkräften gestürzt. Wie Sprague erinnert, unterstützten die haitianischen Eliten, Staatsbeamte in Santo Domingo, Washington und Paris und sogar der Vatikan den Putsch.

1995 brachten der damalige US-Präsident Bill Clinton und 20.000 Marines Aristide ins Amt zurück. Seine Regierung befand sich jedoch in einer schwachen Position, da sie sich den USA gegenüber verpflichten musste, die Zölle auf Reis zu senken. Für die haitianische Landwirtschaft war dies ein harter Schlag.


Dominikanische Republik gewährte haitianischen Soldaten Unterschlupf

Im selben Jahr löste Aristide die Armee auf und ließ sich dafür von den Massen feiern. Dadurch zog er sich allerdings den Zorn ehemaliger und künftiger Militärangehöriger zu. Die Abschaffung der Armee habe das Land nicht vom Militarismus befreit, erklärt Sprague. Nur wenige Soldaten hätten freiwillig ihre Waffen abgegeben, viele hätten sich in die benachbarte Dominikanische Republik abgesetzt.

Weitere Ex-Militärs wurden in die Reihen der Polizei aufgenommen. Die USA nutzten diese Situation aus und ließen haitianische Rekruten im Bundesstaat Missouri ausbilden. Sprague zitierte aus einer Email von Aristides Rechtsberaterin Ira Kurzban, die bei einem Besuch der Basis Fort Leonard Wood in Missouri als erstes auf eine Geheimdiensteinheit der Armee stieß. "Später erfuhren wir, dass der Infiltrationsprozess in Fort Leonard Wood begann. Das Geheimdienstkonzept der USA bestand darin, Leute zu korrumpieren, die später Führungspositionen in der Polizei einnehmen würden. So standen sie den USA weiter zur Verfügung."

Sprague untersucht auch den Rückhalt, den die haitianischen Paramilitärs aus der Dominikanischen Republik erhielten. Im Jahr 2000, kurz bevor Aristide als Nachfolger von René Preval seine zweite Amtszeit antrat, versuchten Paramilitärs vergeblich einen Umsturz anzuzetteln. Die Verantwortlichen für den Coup flohen in die Dominikanische Republik. Die Regierung von Haiti bemühte sich vergeblich um deren Auslieferung.

In den folgenden Jahren war die Dominikanische Republik ein Zufluchtsort für paramilitärische Gruppen, die mordend durch Haiti zogen und sich dann jenseits der Grenze wieder in Sicherheit brachten. Weder die USA noch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) übten Sprague zufolge Druck auf die Regierung in Santo Domingo aus, um die Mordattacken zu unterbinden.

In diesem Zeitraum finanzierten die USA in Haiti Oppositionsparteien, die sich nach Erkenntnissen von Sprague in der Dominikanischen Republik mit Paramilitärs trafen. Auch die Medienberichterstattung habe den Milizen in die Hände gespielt, schreibt er. Kundgebungen von Aristides Lavalas-Bewegung hätten zwar zahlreiche Menschen angezogen. Darüber hätten aber nur wenige alternative oder von der Regierung finanzierte Medien berichtet.

Paramilitärs zerstörten Polizeiwachen, um die Kontrolle über viele Städte zu übernehmen. US-Diplomaten sorgten dann dafür, dass Aristide außer Landes gebracht wurde und sieben Jahre im Exil verbrachte. Nachdem Aristide abgesetzt war, übernahmen die Milizen neue Aufgaben. "Im März 2004 begann eine verstärkte Kampagne der Paramilitärs, nachdem die Armen in Haiti auf Großdemonstrationen gegen den Coup protestiert hatten", schreibt Sprague.

Die USA, Frankreich und Kanada setzten auf Haiti eine neue Interimsregierung ein, die von einem in Haiti geborenen US-Amerikaner geführt wurde. "Ganz oben auf der Agenda stand die Stabilisierung des Landes und sein Ausbau zu einer sicheren Plattform, über die globales Kapital frei fließen konnte."


Ambivalente Haltung der USA

Die USA nahmen laut Sprague keine konsequente Haltung gegenüber den Milizen ein. Kurz nach dem Putsch habe sich der US-Botschafter in Port-au-Prince im Radio positiv über die Paramilitärs geäußert. Später habe er dann eingeräumt, dass die Ex-Militärs die Regierung unterminieren könnten.

Seit dem Putsch 2004 wurden etwa 400 Paramilitärs in die haitianische Polizei aufgenommen, die manchmal widerwillig mit den rund 10.000 UN-Blauhelmen im Land zusammenarbeiten. "Durch die starke Präsenz der USA ist Haiti eine neue 'Normalität' aufgezwungen worden", erläutert Sprague.

"Nach dem verheerenden Erdbeben im Januar 2010 sowie nach der Rückkehr von Jean-Claude Duvalier und der umstrittenen Wahl von Michel Martelly haben die unzufriedenen Paramilitärs mehr Freiheit gewonnen. Zahlreiche neue Anhänger von Duvalier und rechte Militärs nehmen Schlüsselpositionen in der Martelly-Regierung ein." Der Präsident wolle nun die Armee wiedereinführen - allerdings unter dem neuen Namen 'öffentliche Sicherheitskräfte', meint Sprague. Wie in der Vergangenheit versuchten die Eliten ihre Kontrolle aufrecht zu erhalten. (Ende/IPS/ck/2012)


Links:

http://jebsprague.blogspot.de/
http://www.ipsnews.net/2012/08/book-exposes-violent-role-of-paramilitaries-in-haiti/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 17. August 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. August 2012