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REDE/037: Merkel zur Eröffnung des neunten Deutschen Seniorentages in Leipzig, 8.6.09 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
"REGIERUNGonline" - Wissen aus erster Hand

Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zur Eröffnung des neunten Deutschen Seniorentages am 8. Juni 2009 in Leipzig


Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Stanislaw Tillich,
Herr Landtagspräsident,
Herr Oberbürgermeister, lieber Herr Jung,
lieber Herr Parlamentarischer Staatssekretär Kues,
sehr geehrter Herr Link
und vor allem Sie, meine Damen und Herren, die Sie an diesem Tag der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen teilnehmen.

Auch ich darf Ihnen Leipzig sehr ans Herz legen. Ich habe hier von 1973 bis 1978 studiert. An die Uni werden die meisten von Ihnen nicht gehen, obwohl wir über lebenslanges Lernen sprechen. Man war schon zu DDR-Zeiten streng, wenn man Physik studiert hat, und hatte sehr gut gebildete Professoren, aber die Stadt hat in den letzten 20 Jahren noch einmal vieles verschönt, auch wenn sie vorher schon einiges in dieser Richtung geleistet hat. Auch ich darf Ihnen raten, von der Thomaskirche bis zu den Arkaden und Passagen zu gehen und sich anzuschauen, wie wunderbar es dort ist.

Ich bin heute sehr gern hierher gekommen. Walter Link hat davon gesprochen, dass wir uns vor gut einem Jahr über dieses Treffen der Bundesarbeitsgemeinschaft unterhalten haben.

Ich möchte Ihnen gratulieren. Wir haben in diesem Jahr viele Jahrestage. Wir haben gerade 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland gefeiert und können ein bisschen stolz darauf sein. Viele von Ihnen haben die längste Wegstrecke in dieser Bundesrepublik miterlebt - bewusst miterlebt, nicht nur miterlebt, sondern auch mit gestaltet. Dass wir, die etwas Jüngeren, heute voller Stolz auf dieses Land blicken können, ist zuallererst auch Ihr Werk. Dafür ein ganz herzliches Dankeschön.

Die allermeisten von Ihnen werden es als ein großes Glück begreifen, dass Ihnen zu Ihren Lebzeiten die Deutsche Einheit geschenkt wurde. Ich denke, die Tatsache, dass vor 20 Jahren die Mauer fiel, hat uns in Deutschland noch einmal ungeahnte Möglichkeiten eröffnet. Ich habe jetzt in den letzten Tagen, als wir uns sehr oft an damals erinnert haben - das werden wir bis zum 9. November, dem 20. Jahrestag des Mauerfalls, noch des Öfteren tun -, oft darüber gesprochen, wie meine Lebensplanung aussah. Sie war sehr übersichtlich. In der DDR wurden die Frauen schon mit 60 Rentnerinnen, die Männer mussten noch fünf Jahre länger arbeiten. Ich hatte scharf im Visier, dass die alte Bundesrepublik die deutsche Staatsbürgerschaft auch für DDR-Bürger erhalten hat. Man konnte mit seinem DDR-Ausweis aufs nächste Polizeiamt gehen. Wenn man als Rentner mit 60 reisen durfte, konnte man sich dort einen ordentlichen Pass holen. Und dann wollte ich nach Amerika fahren. Darauf hatte ich mich gefreut. Nun ist daraus schon früher etwas geworden - für viele von Ihnen auch. Ich glaube aber, das, was uns doch alle heute beglückt, ist vor allem die Tatsache, dass wir nicht mehr diese Mauer haben, dass wir nicht mehr den Stacheldraht haben, dass wir nicht mehr den Kalten Krieg haben und dass Sie hier in einer wunderschönen Stadt Leipzig zusammen sein können.

BAGSO hat sich in diesen 20 Jahren - Sie haben insofern auch ein Jubiläumsjahr; herzlichen Glückwunsch - seit 1989 zu einem hörbaren Sprachrohr für die Interessen Älterer etabliert. Herzlichen Dank dafür. Es haben sich viele Arbeitsgemeinschaften und -gruppen zusammengeschlossen. Es ist sicherlich nicht ganz einfach, immer alle Interessen unter einen Hut zu bringen. Ich glaube, wenn man die hier Anwesenden sieht, wenn man die Kraft dieses Sprachrohres wahrnimmt, dann hat es sich gelohnt, auf Kompromisse einzugehen. Ich würde Ihnen raten: Bleiben Sie weiter gut zusammen, diskutieren Sie die kontroversen Dinge aus, aber seien Sie nach außen eine Arbeitsgemeinschaft, die mit einer Stimme die Interessen der Älteren in Deutschland vertritt. Das tut der ganzen Gesellschaft gut.

Sie haben mit Ihrem Motto "Alter leben - Verantwortung übernehmen" auch deutlich gemacht, dass Sie sich aktiv einmischen möchten. Ich verstehe das als eine Feststellung, geradezu als ein Angebot. Ich glaube, dass dieses Angebot von uns allen nicht nur sehr aufmerksam verfolgt, sondern auch gern angenommen werden sollte.

Denn unsere Gesellschaft verändert sich. Das wird mit dem sehr technischen Wort des demografischen Wandels beschrieben. Sie stellen sich diesen Herausforderungen insoweit, als Sie die Interessen der Älteren kundtun. Ich bin sehr dafür, dass wir diesen demografischen Wandel als Chance begreifen. Wenn wir ihn aber als Chance begreifen wollen, dann heißt das für mich auch, dass wir die Größe der Herausforderung nicht einfach unter den Tisch fallen lassen dürfen. Deutschland wird eines der Länder auf der Welt sein, das mit am schnellsten von diesem demografischen Wandel betroffen sein wird. Deshalb kann Deutschland in der Art und Weise, wie wir diesen demografischen Wandel gestalten - wie in vielen anderen Bereichen auch -, ein Beispiel für andere Länder auf der Welt dafür sein, wie auch sie damit umgehen können.

Wir wissen, dass wir heute schon erste Auswirkungen der demografischen Veränderungen haben, ganz besonders in ländlichen Bereichen. Sie wirken sich auch auf die täglichen Lebensbedingungen in den ländlichen Bereichen aus, wenn zum Beispiel die Infrastruktur in Dörfern bestenfalls nur noch aus einem Getränkeautomaten besteht oder nur ein Warenwagen ab und zu vorbeikommt, wenn die eigenen Enkel lange Schulwege in Kauf nehmen müssen, weil die Jahrgangsstärken zusammenschrumpfen, wenn Bahnlinien oder Busstrecken stillgelegt werden, weil man sagt, es lohnt sich aufgrund der geringen Fahrgastanzahl nicht mehr, sie zu betreiben, oder wenn auch die Kirche nicht mehr in jedem Ort finanziert werden kann. Dann zeigt sich, dass unser Leben anders organisiert und strukturiert wird.

Heute ist in Deutschland die Zahl derer, die über 60 sind, schon größer als die der unter 20-Jährigen. Wir werden bis zum Jahr 2030 eine Entwicklung haben, wonach die Zahl von heute rund 26 Prozent der über 60-Jährigen auf etwa 36 Prozent ansteigt. Das heißt also, es ist sehr wichtig, dass wir uns auf diese Veränderung der Altersstruktur einstellen, dass wir die richtigen Antworten darauf finden. Diese Antworten sind natürlich vielgestaltiger Natur. Denn wir müssen darauf achten, dass der Zusammenhalt unserer Gesellschaft erhalten bleibt. Dass nicht nur ein Zusammenhalt zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern vorhanden ist, sondern auch in der Gesellschaft insgesamt die Bindekräfte immer wieder gestärkt und die solidarischen Elemente entwickelt werden, ist der Wesenskern der Sozialen Marktwirtschaft, der Deutschland so erfolgreich gemacht hat.

Nun leben wir heute - anders als zu Zeiten der Gründung der Bundesrepublik - in einem offenen Europa, in einer offenen Welt. Das heißt, eine Politik, die die Älteren in den Blick nimmt, muss gleichzeitig eine Politik sein, die auch den Jüngeren Lebenschancen eröffnet, damit Deutschland für alle Generationen ein lebens- und liebenswertes Land ist. Diese Aufgabe wird die Politik der nächsten Jahrzehnte prägen und beschäftigen. Es wäre falsch, darum herum zu reden, sondern wir müssen immer wieder an einem Interessenausgleich arbeiten. Das, was ich als positive Botschaft und als Angebot der Älteren nehme, ist die Bereitschaft, in dieser Situation Verantwortung zu übernehmen, sich für die Gesellschaft einzusetzen und einen Beitrag zu leisten, den Zusammenhalt der Generationen zu fördern.

Nun beginnt, wenn wir uns der Berufstätigkeitsphase zuwenden, das Ganze damit, dass lebenslanges Lernen auch in den späteren Jahren des Berufslebens eine ganz natürliche Aufgabe sein wird, aber auch über das Berufsleben hinaus. Qualifizierung wird also zum täglichen Brot gehören. Schon allein das verändert eine Gesellschaft erheblich, weil es für die Älteren nicht immer so einfach ist, wenn die Jüngeren die Lehrer sind, die dann benoten oder testieren, wie die Älteren und Erfahreneren ihren neuen Bildungsabschnitt bewältigen. Das stellt ein wenig die Autoritäten auf den Kopf. Ich habe das zum ersten Mal erfahren, als wir Anfang der 90er Jahre die Deutsche Einheit gestaltet haben und plötzlich junge - in Anführungszeichen - "Alleswisser" aus den alten Bundesländern kamen und Umschulungsmaßnahmen gestaltet haben. Es ist nicht immer einfach, wenn man plötzlich vor einem Jüngeren wieder in einer Schulprüfungssituation steht und alles Gelernte aufsagen muss. Dies bedarf einer gewissen Sensibilität aller, die daran beteiligt sind.

Dennoch haben wir in Deutschland große Fehler gemacht. Aus diesen großen Fehlern haben wir aber, glaube ich, glücklicherweise gelernt. Es gab schon Zeiten, in denen von den über 50-Jährigen nur noch 40 Prozent überhaupt im Berufsleben waren. Dies ist glücklicherweise vorbei. Heute sind es wieder weit mehr als 50 Prozent.

Es gibt zwei Punkte, bei denen ich hoffe, dass wir in der jetzigen krisenhaften Situation nicht wieder in die alten Fehler zurückfallen.

Wir werden in der Mitte des nächsten Jahrzehnts in Deutschland dringend Fachkräfte benötigen. Es wäre grottenfalsch - wenn ich das so etwas lax sagen darf -, wenn wir jetzt wieder mit Teilzeitruhestand und Altersteilzeit diejenigen, die älter sind, aus dem Berufsleben drängen würden. Wir brauchen die Älteren einerseits, weil wir in Zukunft jede Fachkraft brauchen werden, andererseits, weil wir in Deutschland besser lernen müssen, in gemischten Teams zusammenzuarbeiten und die Erfahrung der Älteren mit der Schnelligkeit der Jüngeren zusammenzubringen. Das gilt für Frauen wie für Männer. Deutschland hat sich unglaublich schwergetan mit dem, was die Amerikaner Diversity, also Vielfalt, nennen. Vielfalt ist sozusagen eine Versicherung gegen große Fehler. Vielfalt ist eine Möglichkeit, Fehler nicht doppelt und dreifach zu machen. Sie schützt vor Fehlentwicklungen. Deshalb glaube ich, dass wir uns viel stärker dazu bekennen sollten. Deshalb sind die Erfahrung und der Schwung der Routine der Älteren ein unverzichtbarer Bestandteil unseres Berufslebens. Das muss sich endlich auch herumsprechen.

Dann kommt der Lebensabschnitt nach der Erwerbstätigkeit, nach der Berufstätigkeit. Ich will noch hinzufügen, wir müssen auch bei der Frage, wie lange jemand erwerbs- und berufstätig sein darf, flexibler werden. Diese Frage wird sich im Wissenschaftlerbereich noch einmal sehr stark stellen. Das ist auch aus Unternehmenssicht gesagt worden. Wir sollten - das haben wir auch in unserem Gespräch vor einem Jahr erwähnt - die Altersgrenzen, die wir in unserer Gesellschaft haben, soweit wie möglich abschaffen, weil die Frage des Alters sehr individuell ist und nicht durch schematische Grenzen in Ausgrenzung münden sollte. Auch das müssen wir lernen.

Aber dennoch gibt es eine Phase nach dem Berufsleben, die auch eine ausgesprochen aktive Phase ist. Das Wort "Ruhe-Stand", das ja in zwei verschiedenen Facetten von Ruhe und Stand eine gewisse Immobilität andeutet, ist keine richtige Beschreibung der Phase nach dem Erwerbsleben der Älteren in unserer Gesellschaft. Man muss sich nur einmal ansehen, was hier los ist, wenn Reisegruppen unterwegs sind. Ob man nun im Ausland oder im Inland ist, man wird von Älteren freudig begrüßt. Es geht um ein hohes Maß an Mobilität, ein hohes Maß an Neugierde, ein hohes Maß an Verwirklichung von Wünschen, die man vielleicht sein ganzes Leben lang gehegt hat und sich jetzt erfüllen kann. Schablonen sind also nicht richtig.

Jetzt kommt im Grunde die wesentliche Aufgabe, an der wir nur gemeinsam arbeiten können. Der nächste Altenbericht, den die Bundesregierung erarbeiten wird, wird das Thema "Altersbilder" haben. Ich finde den Titel eigentlich sehr schön, weil er zweierlei aussagt: Einerseits haben wir noch keine richtige Vorstellung davon, wie denn diese Altersphasen aussehen könnten. Wir müssen sie uns ausmalen, erkennen und darüber sprechen. Andererseits wird mit dem Wort "Altersbilder" nicht nur ein Altersbild angesprochen, sondern es geht um mehrere Altersbilder. Das zeigt etwas von der Vielfalt in unserer Gesellschaft. Es gibt nicht den Älteren oder denjenigen, der sozusagen die Phase nach der Berufstätigkeit symbolisiert, sondern es gibt ganz unterschiedliche Lebensentwürfe. Das ist auch wie in den jüngeren Phasen des Lebens.

Ich glaube, wir können eine vernünftige und die Menschen auch ansprechende Wahrnehmung dieser Altersbilder überhaupt nur erreichen, wenn die Generationen besser auf die jeweiligen Belange hören. Denn die Älteren sind ja auch - sagen wir es einmal so - oft wählerisch. Sie wollen einerseits einbezogen sein, aber andererseits nicht verpflichtet werden. Sie wollen die richtigen Strukturen vorfinden, aber nicht gegängelt werden. Die Frage heißt also: Wie kommen wir an ihre individuellen Wünsche heran und wie ermöglichen wir das, was sie in die Gesellschaft einbringen wollen, ohne dass sie den Eindruck haben, missbraucht und nicht mit der notwendigen Anerkennung ausgestattet zu werden? Die Frage ist politisch noch nicht abschließend beantwortet.

Natürlich haben viele von Ihnen ein langes Erwerbsleben hinter sich. Sie haben sich jeden Tag oft in einen großen Zwang, in einen rigide festgelegten Tagesablauf einfügen müssen und freuen sich nun auf ein bisschen mehr Flexibilität. Trotzdem haben Sie Vorstellungen und Ideen, was man tun kann, und wollen sich ehrenamtlich engagieren. Dieses Maß an Flexibilität, verbunden mit strukturellen Möglichkeiten, müssen wir in unserer Gesellschaft noch besser ausgestalten.

Ich glaube, hierbei sind die Mehrgenerationenhäuser ein sehr, sehr guter Ansatz. Sie haben sich auch wirklich zu Rennern in unserer Gesellschaft entwickelt. Über 500 solcher Häuser gibt es bereits. Dort entstehen sehr spannende Projekte und Diskussionen. Natürlich wissen wir, dass es viele Möglichkeiten gibt, die Jüngeren und die Älteren zusammenzubringen, wie etwa über das Vorlesen im Kindergarten und Hilfen bei Schularbeiten oder Freizeitgestaltung. Ich glaube, die Vielfalt in unserer Gesellschaft ist auch ein Beweis für die Vielfalt der Projekte.

Das kann man sozusagen aus Berlin nun ganz schwer steuern. Das wollen wir auch nicht. Trotzdem darf sich die Bundesregierung dieser Aufgabe nicht entziehen. Deshalb ist das Gespräch mit den Verbänden, die die Interessen der Älteren auch widerspiegeln, eines der zentralen Elemente dafür, wie wir zueinander kommen und wie wir das auch hinbekommen.

Nun ist es so, dass wir ein zentrales Interesse im Sinne des Zusammenhalts der Gesellschaft haben - des Zusammenhalts der Jüngeren und Älteren, auch wenn sie heute oft durch unterschiedliche Wohnorte getrennt sind, auch wenn viele Ältere heute keine eigenen Kinder, keine eigenen Enkel haben. Doch jeder kann von dem anderen lernen.

Es ist auf der einen Seite so, dass die Älteren von den Jüngeren lernen können, wie man zum Beispiel technische Geräte bedient. Ich kann es vielleicht noch lernen; ich weiß nicht, ob es im Alter bei mir mit der Technik noch besser wird. Ich glaube es nicht. Wenn man junge Leute sieht, wie die irgendetwas zusammenstecken und intuitiv alles richtig hinbekommen, dann ist das doch nicht schlecht. Ich weiß aber auch, dass die Älteren heute auch gute Computernutzer sind. Diesbezüglich brauchen wir uns keine Sorgen zu machen.

Auf der anderen Seite können Ältere auch Hinweise geben, etwa zur Entwicklung der Städte, zu der Frage, wie man ein bisschen mehr Übersichtlichkeit und Ordnung in die Schilderwälder bringt, zur Formulierung von Gebrauchsanweisungen, zur Benutzung von Fahrkartenautomaten und zu allem, was einen sonst noch verwirrt. Ich meine, Sie sollten Ihre Forderung nach einer gewissen Normung durchaus aussprechen. Auch der Deutsche Städtetag kann sich einmal damit befassen, dass nicht jeder Fahrkartenautomat in jeder Stadt anders ist und sich als Teil einer besonderen Vielfalt herausstellt.

Wir wollen also Jung und Alt zusammenschmieden.

Wir wissen, dass ein Großteil unserer Infrastruktur und dessen, was wir an öffentlichen Angeboten machen können - vom Sportverein und Schwimmbad bis zur öffentlichen Bibliothek -, überhaupt nicht mehr funktionieren würde, wenn sich Ältere hier nicht einbringen würden. Deshalb wollen wir auch die Bedingungen für ehrenamtliches Wirken in Vereinen und Stiftungen weiter verbessern. Wir haben das in dieser Legislaturperiode schon getan. Wir haben auch Freiwilligendienste für alle Generationen geöffnet. Auch das ist etwas, bei dem wir den Älteren heute sehr viel mehr Möglichkeiten geben. In Schulen, in Familien, in Stadtteilzentren, in stationären Einrichtungen oder in Hospizen können heute Freiwillige aus allen Generationen arbeiten. Wir haben das Programm "Aktiv im Alter", mit dem wir Kommunen und Städte dabei unterstützen, geeignete Rahmenbedingungen für das ehrenamtliche Wirken Älterer vor Ort zu gestalten. Beim Thema Ehrenamt werden wir am Ball bleiben. Wir sind da auch auf Ihre Hinweise, was Sie sich noch besser vorstellen können, angewiesen.

Nun ist eine der wesentlichen Fragen - Walter Link hat es bereits angesprochen - die Frage, mit welcher materiellen Sicherheit ich in die Phase des Älterwerdens gehen kann. Ich stimme vollkommen zu, dass die Rente mehr sein muss als nur eine Grundsicherung. Wir haben ein bewährtes Prinzip, demnach sich gerade auch die Erfolge und die Leistungen im Arbeitsleben in der Rente widerspiegeln. Wir sind froh, dass es zum 1. Juli dieses Jahres nach langen Zeiten, in denen die Rentner Verzicht geübt haben, eine Rentensteigerung geben wird.

Ich stehe auch absolut dazu, dass wir es in der jetzigen krisenhaften Situation den Älteren nicht zumuten, sich von jedem Wirtschaftsprofessor mit jedem Gutachten jeden Tag dahingehend in Unruhe versetzen zu lassen, ob nun nächstes Jahr die Rente sinkt oder ob sie doch nicht sinkt. Vielmehr haben wir gesagt, dass, wenn sie entsprechend der Rentenformel eigentlich sinken sollte, die Minderung bei künftigen positiven Rentenanpassungen nachgeholt wird. Ich finde, man kann es älteren Bürgern nicht zumuten, die wirklich jeden Euro umdrehen müssen - ich weiß das auch aus meinen Bürgersprechstunden in meinem Wahlkreis -, die mit Preissteigerungen zu kämpfen haben, dann auch noch das ganze Jahr über durch eine Diskussion beunruhigt zu werden, in welcher Art und Weise nun vielleicht die Rente gekürzt wird. Dagegen habe ich mich aus voller Überzeugung ausgesprochen, auch wenn es vielleicht wissenschaftlich fragwürdig ist. Es geht hier um Menschen, und zwar um ziemlich viele Menschen.

Sie wissen, dass wir einen zusätzlichen kapitalgedeckten Anteil an der Altersvorsorge brauchen. Mit der so genannten Riester-Rente ist ein Angebot gemacht worden. Es hat sich aber in der jetzigen Situation der internationalen Wirtschaftskrise auch gezeigt: Wir sind richtig damit gefahren, bei der Riester-Rente vielleicht auf manche Rendite in der Anlageform zu verzichten, aber zu garantieren, dass das, was man eingezahlt hat, auch wieder herauskommt. Es ist richtig, dass man damit keine exorbitanten Steigerungen beim Kapitalstock erreichen kann, aber man hat ein hohes Maß an Sicherheit.

Wenn man in diesen Tagen und Monaten einmal zum Beispiel in die Vereinigten Staaten von Amerika schaut und sich die Aktienkurse der großen Automobilfirmen ansieht, kann man feststellen, wie der Wert der Fonds zusammengeschrumpft ist und was das für die Alterssicherung bedeutet. Dazu kann ich nur sagen: Ein Stück mehr Sicherheit und Berechenbarkeit, auch um den Preis, dass man keine exorbitanten Gewinne hat - man hat dann aber auch keine exorbitanten Verluste -, steht uns Deutschen gut zu Gesicht. Auch das ist ein Teil des Zusammenhalts der Gesellschaft.

Wir wissen, dass zum Älterwerden auch gehört, dass die eigenen physischen Fähigkeiten nicht besser werden. Viele sind in einem späteren Lebensabschnitt auf Hilfe angewiesen. Ich denke, auch diesen Teil des Älterwerdens dürfen wir nicht verdrängen. Er gehört zum Leben dazu. Deshalb ist mir sehr daran gelegen, dass wir auch den Tod nicht aus unserer gesellschaftlichen Wahrnehmung verdrängen, dass wir für ein würdiges Sterben eintreten, dass wir jeder Art von aktiver Sterbehilfe ein klares Nein entgegenschmettern.

Es darf nicht sein, dass der ältere Mensch in einer Phase der körperlichen Schwäche in eine Situation kommt, in der er denkt, er würde der Gesellschaft zur Last fallen. Dagegen werde ich immer wieder eintreten. Der Phase der Pflege kommt eine erhebliche Bedeutung zu. Diesbezüglich haben wir einiges in dieser Legislaturperiode zum Guten verändert, indem beispielsweise die Frage der Demenzerkrankungen in der Pflegeversicherung besser berücksichtigt wird. Es geht auch unter anderem darum, dass es für pflegende Angehörige möglich ist, ein Stück Freistellung vom Beruf zu bekommen, um sich der Pflege besser widmen zu können. Am Ende des Jahres müssen wir noch einmal über die Erfahrungen mit den Neuerungen reden.

Ich glaube, dass wir, was die Menschlichkeit der Pflege anbelangt, noch längst nicht an dem Punkt sind, an dem wir zufrieden sein können. Es gibt noch sehr, sehr viele mechanisch abzurechnende Schritte, bei denen die menschliche Zuwendung oft auf der Strecke bleibt. Das wird eine Daueraufgabe bleiben. Denn wir werden immer in einem Spannungsfeld liegen. Auf der einen Seite will man alles kontrollierbar machen, wenn es eine Klage oder Beschwerde gibt. Und auf der anderen Seite weiß man, dass, wenn wir alles kontrollieren, für individuelle Fallgestaltung und Zuwendung überhaupt kein Raum mehr bleibt.

Ein solches Spannungsfeld haben wir in unserer Gesellschaft an vielen Stellen, aber es darf nicht so einengend sein, sodass zum Schluss diejenigen, die Pflegeberufe erlernen, keine Freude mehr an diesen Berufen haben, weil sie nur noch mechanistisch tätig sein müssen, und diejenigen, die Pflege brauchen, zum Schluss keine Menschlichkeit und keine Emotionen mehr spüren. Das wird auch eine der ganz großen Aufgaben bleiben.

Es sind also spannende Zeiten - Zeiten, denen wir uns aber guten Mutes stellen wollen, weil wir wissen, dass unser Land die Herausforderungen, vor die es gestellt war, immer gut, klug und erfolgreich bewältigt hat, wie etwa den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg - eine Leistung, vor der meine Generation nur staunend stehen kann. Wenn man in diesen Tagen noch einmal die Filme von einem zerstörten Deutschland gesehen hat, von einem Land, das die Wiedervereinigung alles in allem mutig und klug gemeistert hat, dann wird man verstehen können, dass dieses Land den demografischen Wandel auch als Bereicherung unserer Gesellschaft sehen kann. Ich wünsche mir das jedenfalls. Aber ich sage Ihnen auch: Ohne Ihre Stimme wird es nicht gehen. Deshalb: Mischen Sie sich ein, seien Sie manchmal unbequem - natürlich in Maßen -, seien Sie immer konstruktiv.

Ich danke dafür, dass Sie dazu bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Das ist alles andere als selbstverständlich. Sie könnten sich zurückziehen und sagen: Wir haben unseren Teil getan. Dass Sie das nicht tun, ist eine große Ermutigung für uns. Herzlichen Dank dafür.


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Quelle:
Bulletin Nr. 67-2 vom 08.06.2009
Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zur Eröffnung des
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juni 2009