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REDE/043: Dr. Ursula von der Leyen zum Haushaltsgesetz 2010, 16.03.2010 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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Rede der Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Dr. Ursula von der Leyen, zum Haushaltsgesetz 2010 vor dem Deutschen Bundestag am 16. März 2010 in Berlin


Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren!

Zunächst einmal möchte ich dem Hohen Haus, aber auch dem Haushaltsausschuss sowie den Berichterstatterinnen und Berichterstattern für ausgesprochen konstruktive Beratungen danken.

Noch ein Wort vorweg, weil mir die Themen "Bildung" und "bedürftige Kinder" am Herzen liegen: Frau Pothmer, Sie wissen, dass wir das in diesem Jahr beraten und abschließen müssen, weil das Urteil des Bundesverfassungsgerichts das ganz klar sagt. Insofern wird diese Debatte geführt werden, wenn auch nicht heute. Im Laufe dieses Jahres wird dieses Thema aber abgeschlossen sein.

Das zeigt, dass die Arbeits- und Sozialpolitik den Blick vor allem nach vorne richten muss. Sie kann gestalten, sie kann bewegen, sie ist entscheidend, wenn es darum geht - zumindest werden diese Fragen durch sie beantwortet -, wie offen, wie stark, wie engagiert, wie zukunftsgewandt, wie kommunikativ, wie optimistisch eine Gesellschaft ist.

Nehmen wir ein Beispiel: Für das Umändern von Arbeits- und Sozialpolitik in Zeiten der Krise ist das Kurzarbeitergeld vielleicht ein Synonym. Das ist ein arbeitsmarktpolitisches Instrument, das lange ein Schattendasein geführt hat. Der beherzte Ausbau und Einsatz dieses Instruments hat dazu geführt, dass Hunderttausende Arbeitsplätze in der Krise gerettet worden sind, dass die Entstehung von Langzeitarbeitslosigkeit verhindert worden ist, dass Kaufkraft und Zuversicht erhalten worden sind. Deshalb ist Deutschland im Augenblick wohl das einzige Land, in dem die Krise auf dem Arbeitsmarkt emotional und real nicht so stark durchschlägt wie in anderen Ländern. Wir werden, wenn wir das weiter so gut machen, stärker aus der Krise herauskommen als viele andere Länder.

Ich weiß, dass das Geld kostet. Aber es ist günstiger, frühzeitig in die Vermeidung von Arbeitslosigkeit zu investieren, als nachträglich Arbeitslosigkeit finanzieren zu müssen und mit all ihren langwierigen materiellen und psychologischen Folgen umgehen und diese kurieren zu müssen.

Deshalb möchte ich an dieser Stelle klarstellen: Das Vorurteil, dass das Kurzarbeitergeld Großkonzernen auf Kosten des Mittelstandes geholfen hätte, stimmt nicht. Das Gegenteil ist der Fall. Wir haben jetzt die Zahlen für das letzte Jahr. Die Daten, die vorliegen, zeigen, dass 56 Prozent der Kurzarbeiterinnen und Kurzarbeiter in mittelständischen Betrieben arbeiten, in Betrieben mit zwischen 20 und 500 Beschäftigten. 15 Prozent arbeiten in Betrieben mit weniger als 20 Beschäftigten. Somit zeigt sich ganz deutlich, dass sich dieses Kurzarbeitergeld ausgezahlt hat. Es ist beherzt investiert worden, und es ist frühzeitig gehandelt worden. Wir haben vertraute Pfade verlassen. Deshalb möchte ich an dieser Stelle dem gesamten Hohen Haus danken; denn das ist ein Zeichen für den Zusammenhalt in der Krise gewesen. Die Früchte davon ernten wir heute in hohem Maße.

Das zeigt sich auch beim Haushalt des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales: 143,2 Milliarden Euro. Das sind 3,6 Milliarden Euro weniger, als ursprünglich veranschlagt. Diese positive Entwicklung ist im Wesentlichen auf einen einzigen Faktor zurückzuführen, auf den eben beschriebenen Erfolg, darauf, dass sich der Arbeitsmarkt in Deutschland besser gehalten hat, als dies in anderen Ländern der Fall gewesen ist.

Ich möchte aber auch ganz deutlich sagen: Wir gehen zwar mit einer relativ starken Position in das Jahr 2010 - wir haben in Europa gewissermaßen die Pole Position inne -, aber wir sollten uns nichts vormachen. Die größte Wucht der Krise ist durch betriebsinterne Flexibilität abgefedert worden. Das bedeutet für den Arbeitsmarkt: Es wird noch lange dauern, bis Betriebe wieder einstellen werden. Wir sind noch lange nicht aus der Krise heraus. Wir müssen dies bei all den Diskussionen, die im Augenblick laufen, gewissermaßen als Warnlampe innerlich mitführen.

Gerade angesichts der aktuellen Diskussion über die Arbeitsmarktpolitik möchte ich klarstellen, dass für mich in der Arbeitsmarktpolitik der Dreisatz gilt: Erst einmal auf die Stärken der Menschen schauen. Dieses Land braucht jeden und das, was er oder sie kann. Umgekehrt gilt: Jeder muss sich nach seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten einbringen, muss sich erst selbst anstrengen; denn erst dann hilft ihm der Staat und nicht umgekehrt. Schlussendlich justiert Politik den Rahmen, in dem dann die richtigen Anreize gesetzt werden. Deshalb ist es bei der Diskussion über die Haushaltsmittel so wichtig, dass nicht nur die Höhe, sondern auch Zweck und Ziel der Ausgaben debattiert werden.

Ganz entscheidend sind eine schnelle passgenaue Aktivierung und Arbeitsvermittlung. Das spart dem Sozialstaat Geld, weil Langzeitarbeitslosigkeit verhindert wird und all die Folgen für die Familien nicht zu tragen sind. Die Frage ist also immer: Wo können wir besser werden? Das beziehe ich auch ganz bewusst auf die Sperre von 900 Millionen Euro im Eingliederungs- und Verwaltungsetat für Grundsicherung. Die Freigabe der Mittel ist an die Vorlage eines Konzepts geknüpft. Ich nehme diesen Auftrag ernst und nehme ihn selbstverständlich an.

Kernziel ist und bleibt die Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt. Diesen Prozess, die schnelle Vermittlung, müssen wir stringenter und systematischer organisieren. Die Menschen wollen arbeiten. Sie brauchen dazu passgenaue Angebote. Keine Seite darf sich an die Arbeitslosigkeit gewöhnen, weder die Arbeitslosen noch die Verwaltung.

Mit anderen Worten: Wo können wir besser werden?

Es gibt drei Felder, die mir wichtig sind.

Erstens die Passgenauigkeit und schnelle Taktung der Angebote. Man muss von Anfang an klären: Wie ist der Standort? Welche Stärken hat jemand? Wo sind die Defizite? Wo gibt es Vermittlungshindernisse? Es muss Sofortangebote und Termine in schneller Taktung geben, damit sich klärt, wer wirklich arbeiten will und wer vielleicht vergessen hat, dass er woanders mehr Arbeit hat. Es geht um die konsequente Bereitschaft zum Mitmachen, das konsequente Anbieten von Angeboten und Qualifizierung sowie die Vermittlungsbemühungen; dies zeigt sich in allen Daten. Das führt zum Erfolg, und zwar für die Arbeitslosen, für die Arbeitgeber, für die Jobcenter und damit auch für den Sozialstaat.

Das zweite Feld, bei dem wir besser werden können und müssen, betrifft die Alleinerziehenden. Arbeitslosigkeit hat immer eine Ursache. Aber wir können doch nicht akzeptieren, dass die Ursache für Arbeitslosigkeit ein Kind ist. Das ist die Kausalkette bei den Alleinerziehenden. 40 Prozent aller Alleinerziehenden sind in Langzeitarbeitslosigkeit. Sie sind jünger und qualifizierter als der Durchschnitt der Langzeitarbeitslosen. Sie bleiben länger in der Langzeitarbeitslosigkeit als alle anderen Langzeitarbeitslosen. Warum? Weil ihnen die Angebote für Kinderbetreuung oder Ganztagsschulplätze fehlen. Da müssen wir besser werden. Es ist ein Armutszeugnis für ein Land, wenn ein Kind die Ursache für Langzeitarbeitslosigkeit ist. Dies muss sich ändern.

Das dritte Feld, das mir wichtig ist, betrifft Jugendliche. Wir müssen neue Akzente bei der Vermittlung von Jugendlichen setzen, indem wir den Blick auf Kontinuität und Verlässlichkeit schärfen. Es gibt gerade bei den Jugendlichen viel zu viele Bruchstellen in der Kette der Maßnahmen. Es gibt Berufsberatung in der Schule, die Arbeitsvermittlung, die Berufsvorbereitung und die Matching-Beauftragten bei den IHKs. Jeder ist vielleicht an seiner Stelle richtig, aber zum Schluss ist es eine Kette von Erlebnissen des Scheiterns für die Jugendlichen, wenn sie von einer Hand zur nächsten gereicht werden. Wenn wir dieses große Wort "Hilfe aus einer Hand" ernst nehmen wollen, dann muss es vor allem bei den jungen Menschen gelten, die einen Anker, einen Mentor brauchen. Es ist der richtige Moment, das Konzept "Hilfe aus einer Hand" in einer Person neu umzusetzen.

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal sagen, dass ich nach wie vor der Überzeugung bin - das habe ich in der kurzen Zeit in diesem Amt immer wieder betont -, dass die Arbeitsmarktreformen der letzten Jahre in die richtige Richtung gegangen sind. Sie hatten den Grundsatz, Menschen durch Aktivierung eine reelle Chance zu geben, weil jeder Monat länger in Arbeitslosigkeit das Risiko erhöht, dass sich Langzeitarbeitslosigkeit verfestigt. Ich nenne zwei Zahlen. 2005 waren 37 Prozent der Menschen, die arbeitslos waren, länger als ein Jahr ohne Arbeit. Dann kamen die Arbeitsmarktreformen. 2009, mitten im Krisenjahr, waren es nur noch 29 Prozent, die länger als ein Jahr arbeitslos waren. Das heißt, es waren weniger. Jetzt können wir doch nicht die Rolle rückwärts machen, indem wir wieder in die alten Fehler verfallen.

Deshalb, liebe SPD, ich hätte bezüglich des Konzepts gestern mehr erwartet. Dazu muss ich an dieser Stelle ein paar kritische Worte sagen. Ich lese: länger Arbeitslosengeld bei Qualifizierung. Ein Blick ins Gesetz genügt, um zu sehen: Das steht schon drin. Das ist nichts Neues. Das ist ungefähr so prickelnd wie ein abgekautes Kaugummi. Die Regelung, dass das Arbeitslosengeld I bei Qualifizierung länger bezogen werden kann, gibt es schon heute. Im Extremfall geht das bis zu 36 Monate.

An einer anderen Stelle habe ich mir die Augen gerieben: Sie beklagen, dass es zu viel Teilzeit gibt. Wer hat denn das Recht auf Teilzeit - übrigens vernünftigerweise, weil es kaum eine reelle Chance auf Vereinbarkeit von Beruf und Familie gab - eingeführt? Es war die SPD beziehungsweise es war, um es korrekt zu sagen, Rot-Grün. Jetzt läuft das. Die Menschen nehmen sich das Recht auf Teilzeit. Die unbefristete Teilzeit - ich betone: die unbefristete - expandiert, nicht als Verdrängung der Vollzeit, sondern als Ergänzung der Vollzeit. An den entsprechenden Arbeitsmarktzahlen lässt sich ablesen: Oft ist die Teilzeit ein Übergang in die Vollzeit. Nachdem sich der Erfolg nach einigen Jahren eingestellt hat, kann es jetzt doch nicht heißen: Rein in die Kartoffeln und wieder raus aus den Kartoffeln. Das kann kein Konzept für die Zukunft sein. Mir ist wirklich an diesem Thema gelegen.

Ich weiß, dass wir in der Vergangenheit Fehler gemacht haben. Diese Fehler muss man in der Zukunft korrigieren; das akzeptiere ich immer. Aber den Blick zurück zu werfen, wie Sie es bei den beiden Punkten, die ich gerade exemplarisch genannt habe, vorschlagen, kann keine Antwort sein. Wir leben in einer sozialen Marktwirtschaft. Wir alle sind der festen Überzeugung: Sie ist das Richtige. Sie zeichnet sich aus durch Wettbewerb und durch Freiheitlichkeit, aber mit Maß und Mitte, mit Leitplanken. Unsere Aufgabe muss es sein, diese richtigen Grundprinzipien heute in eine moderne, in eine globalisierte Arbeitswelt zu übersetzen. Daran möchte ich mit Ihnen gemeinsam arbeiten.


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Quelle:
Bulletin Nr. 26-2 vom 16.03.2010
Rede der Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Dr. Ursula von der Leyen,
zum Haushaltsgesetz 2010 vor dem Deutschen Bundestag am 16. März 2010 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. März 2010