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RENTE/564: Erwerbsminderung von der Politik vergessen? (spw)


spw - Ausgabe 2/2011 - Heft 183
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Erwerbsminderung von der Politik vergessen?
Invalidität: Das "eigentliche" Risiko der Rentenversicherung

Von Felix Welti


Als die deutsche gesetzliche Rentenversicherung 1891 eingeführt wurde, hieß sie Invaliditäts- und Altersversicherung. Das gesetzliche Renteneintrittsalter von 70 Jahren wurde nur von wenigen Arbeitern erreicht, noch weniger im erwerbsfähigen Zustand. Die Sicherung des Lebensunterhalts derjenigen, die nicht mehr arbeiten konnten, stand im Zentrum des Auftrags der oft kurz als Invalidenversicherung bezeichneten neuen Institution.

Auch heute sind Renten wegen Erwerbsminderung (Paragraph 43 SGB VI) Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung. Sie stehen jedoch weder im Zentrum der Debatten über Rentenpolitik noch derjenigen über Behindertenpolitik. Es besteht die Gefahr, dass eine Kernaufgabe sozialer Sicherung vernachlässigt wird (vgl. den Beitrag von Holler/Kistler/Trischler[*])

Ende 2009 gab es in der Bundesrepublik 746.000 Rentnerinnen und Rentner wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, davon etwa 100.000 wegen teilweiser Erwerbsminderung. Wegen der restriktiven Leistungsvoraussetzungen sind dabei nicht alle erfasst, die aus gesundheitlichen Gründen nicht oder nicht in vollem Umfang arbeiten können. 364.000 Personen zwischen 18 und 65 erhielten Grundsicherung wegen voller Erwerbsminderung vom Träger der Sozialhilfe. Dazu gehören Personen, die mangels Vorversicherung keinen Anspruch erwerben konnten, wie auch diejenigen, deren Rente nicht das Existenzminimum erreicht und die sie deshalb aufstocken müssen. Weiterhin wird geschätzt, dass ein Viertel der Bezieher von Grundsicherung für Arbeitsuchende gesundheitlich eingeschränkt sind. Weitere Erwerbsgeminderte beziehen zunächst Krankengeld oder Arbeitslosengeld, bis diese Ansprüche erschöpft sind. Schließlich gibt es - insbesondere bei Frauen - eine Gruppe, die keine Sozialversicherungsansprüche hat, wegen Einkommens ihres Ehepartners aber auch keinen Grundsicherungsanspruch hat. Auch wenn die Voraussetzungen im Einzelnen nicht übereinstimmen, kann die Zahl von 3,1 Millionen schwerbehinderten Menschen zwischen 15 und 65 Jahren einen Hinweis auf das Potenzial erwerbsgeminderter oder von Erwerbsminderung bedrohter Personen geben.


Wer ist erwerbsgemindert?

Während das Alter einfach festzustellen ist, bedarf es für das Risiko der Erwerbsminderung Maßstab und Verfahren. Das seit zehn Jahren geltende Recht legt fest, dass voll erwerbsgemindert ist, wer wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, unter den allgemeinen Bedingungen des Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Die Drei-Stunden-Schwelle grenzt zugleich zwischen den Zuständigkeiten der Jobcenter (SGB II) und der Sozialhilfeträger (SGB XII) für die Grundsicherung ab. Sie ist insofern eine allgemeine normative Grenze, wer in den Arbeitsmarkt einbezogen sein soll und wer nicht. Der Bezug auf den "allgemeinen Arbeitsmarkt" bedeutet, dass es im Grundsatz weder auf den gelernten und gewünschten Beruf noch auf die Arbeitsmarktlage ankommt. Die auf den bisherigen Beruf bezogene Berufsunfähigkeitsrente läuft seit 2001 aus (Jahrgänge bis 1960). Die Arbeitsmarktlage wird nur bei einer recht geringen Zahl von Fällen berücksichtigt, wenn anerkannt wird, dass es keinen Teilzeitarbeitsmarkt für Personen mit Arbeitsvermögen von drei bis sechs Stunden gibt. Es gibt viele vor allem gering Qualifizierte mit gesundheitlicher Beeinträchtigung, die schlechte Arbeitsmarktchancen haben, sich zu krank zum Arbeiten fühlen und gleichwohl keinen Rentenanspruch haben. Langwierige Rechtsstreitigkeiten, die selbst krank machen können, sind die Folge.


Ganz oder gar nicht?

Gesundheitliche Probleme betreffen oft nicht das ganze Erwerbsvermögen, sondern schränken es nur ein. Sie sind zudem oft überwindbar, wenn sich Gesundheitszustand oder Kontext bessern. Das geltende Rentenrecht berücksichtigt das, wenn auch sehr grob. Wer zwischen drei und sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann, ist teilweise erwerbsgemindert und kann eine Rente beziehen, die halb so hoch ist wie bei voller Erwerbsminderung. Doch bleibt die Frage offen, ob und wie die abstrakt verbliebene Hälfte des Erwerbsvermögens in Wert gesetzt werden kann. Nur bei einem Zehntel der Rentenzugänge wird der Arbeitsmarkt für Teilerwerbsgeminderte als verschlossen berücksichtigt, so dass diese eine volle Rente bekommen. Nicht vorgesehen ist dagegen ein konkreter Ausgleich für Personen, die zeitweise oder dauerhaft aus Gesundheitsgründen nur Teilzeit arbeiten. Erwerbsminderungsrenten können befristet sein. Dabei wird das Rentenende wiederum abstrakt medizinisch bestimmt und nicht danach, ob real wieder Anschluss an den Arbeitsmarkt besteht. Insgesamt wird so weiterhin ein "alles oder nichts" begünstigt, anstatt passgenau die konkrete Minderung der Arbeitsmarktchancen zu versichern.


Prävention durch Rehabilitation

Mit medizinischer und beruflicher Rehabilitation und Unterstützung der stufenweisen Wiedereingliederung hat die Rentenversicherung den Auftrag, Erwerbsminderung zu verhindern. Dieser sinnvolle Ansatz wird durch eine seit 1996 bestehende Deckelung des Rehabilitations-Budgets begrenzt, die den investiven Charakter dieser Leistungen nicht berücksichtigt. Da die Rentenversicherung erst nach Eintritt ins Erwerbsleben zuständig wird, ist vorher für medizinische Rehabilitation die Krankenkasse zuständig, die diese Leistungen im Kassenwettbewerb vernachlässigt und nicht auf Erwerbsfähigkeit ausrichtet. In der beruflichen Rehabilitation ist zunächst die Bundesagentur zuständig, die sich in den letzten Jahren auf kurzfristige statt auf nachhaltige Erwerbsintegration orientiert hat. In den Betrieben müssen Ansätze wie das Betriebliche Eingliederungsmanagement gegen wachsenden Druck auf die Arbeitsbedingungen durchgesetzt werden (vgl. Pickshaus, spw 179,31).


Versicherungsrechtliche Voraussetzungen

Erwerbsminderungsrenten können nur beansprucht werden, wenn die Versicherten bereits drei, in Ausnahmefällen nur zwei Jahre Beiträge aus einer versicherungspflichtigen Beschäftigung gezahlt haben. Damit werden von Geburt, Kindheit oder Jugend an behinderte Menschen oder insbesondere Frauen mit früher Familiengründung und Personen, die keinen Anschluss an den Arbeitsmarkt gefunden haben, benachteiligt. Sie bleiben auf die Grundsicherung angewiesen, bei der Partnereinkommen und Vermögen angerechnet werden.


Wie wird die Rentenhöhe bestimmt?

Die Erwerbsminderungsrente ist eine Risikoversicherung. Die bereits durch geleistete Beiträge erworbenen Ansprüche werden durch die Zurechnungszeit hochgerechnet. Damit sollen die Versicherten so gestellt werden, als hätten sie bis zum 60. Lebensjahr Beiträge gezahlt wie in ihrem bisherigen Erwerbsleben. Die sich so ergebende Summe mindert sich noch um einen Abschlag für den vorzeitigen Renteneintritt.

Der durchschnittliche Zahlbetrag von 692 Euro zeigt, dass heute oft mit Erwerbsminderungsrenten das Existenzminimum nicht erreicht und das Ziel eines gesicherten Lebensstandards verfehlt wird. Ein Grund dafür ist, dass bei vielen Erwerbsgeminderten schon das Erwerbsleben vor Renteneintritt von schlecht bezahlter Beschäftigung oder Arbeitslosigkeit geprägt war. Dazu kommt, dass die Kürzungen am Rentenniveau der letzten zehn Jahre von der Fiktion ausgehen, die dadurch entstehenden Lücken würden durch private Vorsorge geschlossen. Die Riester-Förderung erreicht schon für die Alterssicherung gering Verdienende nur kaum. Erst recht sorgen die von Erwerbsminderung Betroffenen kaum privat vor, weil ihnen verfügbare Mittel fehlen und sie durch Vorerkrankungen und gesundheitsgefährdende Berufe hohe Beiträge aufwenden müssten. Schließlich zielen die Abschläge darauf, den freiwilligen Renteneintritt unattraktiv zu machen. Erwerbsminderung wird aber nicht freiwillig gewählt. Zwar hat das BVerfG den Abschlag Anfang 2011 als nicht übermäßige Belastung mit einer Kürzungswirkung von 3-4 Prozent akzeptiert (1 BvR 3588/08 u.a.). Systematisch bleibt der Abschlag jedoch verfehlt, gerade für jene knappe Hälfte der Erwerbsgeminderten, die schon vor dem 50. Lebensjahr in Rente geht. Insgesamt muss - auch als Folge des SGB II - davon ausgegangen werden, dass viele Erwerbsgeminderte nur wenig Ersparnisse und zusätzliche Einkommensquellen haben. Hier besteht noch Forschungsbedarf.


Regelungsalternativen

Die gegenwärtige soziale Sicherung bei Erwerbsminderung scheint unzureichend. Ob das Gebot eines angemessenen Lebensstandards ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung nach Art. 28 der Behindertenrechtskonvention erreicht wird, muss diskutiert werden.

Verbesserungen könnten im bestehenden System durch eine Verlängerung der Zurechnungszeit bis zur Regelaltersgrenze erreicht werden. Anstelle eines Abschlags zur Strafe für vorzeitigen Renteneintritt wäre ein Zuschlag für die fehlende Möglichkeit zur Privatvorsorge zu erwägen, soweit diese nicht als Pflichtversicherung ausgestaltet wird, die auch das Invaliditätsrisiko diskriminierungsfrei erfasst.

Eine in die Rentenversicherung integrierte steuerfinanzierte Grundsicherung könnte diskriminierende Wirkungen der bedürftigkeitsgeprüften Sozialhilfe-Grundsicherung vermeiden. Die Vorversicherungszeiten müssten als Benachteiligung frühzeitig behinderter oder am Arbeitsmarkt benachteiligter Menschen entfallen. Ein modernes, am tatsächlichen Risiko orientiertes System sollte stärker die konkrete gesundheitsbedingte Einschränkung auf dem Arbeitsmarkt berücksichtigen und abgestufte Leistungen zusammen mit passgenauer Prävention und Rehabilitation erbringen. Nicht niedrige Rentenhöhen, sondern ein offener inklusiver Arbeitsmarkt mit nachhaltiger Unterstützung zur Teilhabe würden die Rentenversicherung effektiv entlasten.


[*] Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Den Artikel finden Sie im Schattenblick unter:
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RENTE/562: Zu jung für die Rente - zu alt für den Job? (spw)


Prof. Dr. Felix Welti ist Professor der Universität Kassel am Institut Sozialwesen des Fachbereichs Humanwissenschaften und im spw-Zusammenhang aktiv.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 2/2011, Heft 183, Seite 22-24
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juni 2011