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DISKURS/111: Industriepolitik von links (spw)


spw - Ausgabe 5/2012 - Heft 192
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Industriepolitik von links

Von Sascha Vogt



Industriepolitik erfreut sich innerhalb wie außerhalb der SPD wieder eines zunehmenden Interesses. Das hat mehrere Gründe. Erstens ist deutlich geworden, dass Deutschland unter anderem wegen einem noch relativ starken industriellen Sektor besser als andere Länder durch die Finanz- und Wirtschaftskrise gekommen ist. Zweitens steht das aktuelle Thema der Energiewende in einem engen Zusammenhang mit Industriepolitik (man sollte es aber nicht gleichsetzen). Und Drittens führt der in Teilen der politischen Linken geführte wachstumskritische Diskurs auch zu einer stärkeren Befassung mit diesem Politikfeld.

Leider besteht in der öffentlichen Wahrnehmung oftmals eine gewisse Arbeitsteilung zwischen der politischen Rechten und der politischen Linken. Während die einen dafür zuständig sind, dass etwas erwirtschaftet wird, kümmern sich die anderen um eine gerechte Verteilung des Erwirtschafteten, gute Arbeitsplätze und die möglicherweise schädlichen Umweltfolgen. Diese künstliche Trennung führt erstens dazu, dass der Linken eine geringere Wirtschaftskompetenz zugesprochen wird und bringt zweitens Industriepolitik in linken Kreisen häufig in Verruf. Schnell stellt sich für viele die Assoziation einer unternehmensfreundlichen Politik ein. Auch innerhalb der SPD wird gerne die oben angesprochene künstliche Trennung einer ökonomischen von einer sozialpolitischen Sphäre vorgenommen: "Das, was umverteilt werden soll, muss zunächst mal erwirtschaftet werden". Das greift aber zu kurz. Denn Verteilungsfragen werden ja nicht erst ex post relevant, sie finden schon im unmittelbaren Wirtschaftsgeschehen statt. Es ist deshalb für die politische Linke existenziell, sich nicht in die vermeintliche Ecke wohlwollender Sozialpolitik drängen zu lassen, sondern den Anspruch zu haben, eigene Ideen zu entwickeln, wie eine linke Industriepolitik aussehen kann.

Dies gilt umso mehr, wenn man beachtet, dass die Industrie noch immer einen bedeutenden Teil unserer Wirtschaft ausmacht. Innerhalb der "Kern-EU" ist Deutschland neben Österreich und den Niederlanden das einzige Land, in dem die Industrieproduktion seit 2005 real zugenommen hat. Die industriellen Güter machen den Löwenanteil an den deutschen Exporten aus. Und rund ein Viertel des Dienstleistungssektors sind sogenannte industrienahe Dienstleistungen, die bei einer industriellen Schrumpfung teilweise wegfallen würden. Insgesamt arbeiten in der Industrie heute noch immer rund 5,2 Millionen Menschen - ein sogar leicht positiver Trend. Die industrienahen Dienstleistungen sind hier noch gar nicht drin. Und auch in qualitativer Hinsicht handelt es sich bei industriellen Arbeitsplätzen häufig auch um gute Arbeit mit einer relativ hohen Entlohnung und einer ausgeprägten Mitbestimmung.

Das alles kann aber nicht dazu führen, dass man Industriepolitik um ihrer selbst willen betreibt. Vielmehr muss es auch vor dem Hintergrund verschiedener anderer gesellschaftlicher Diskurse darum gehen, eigene, linke Zielvorstellungen für eine moderne Industriepolitik zu entwickeln. Schon oben wurde angesprochen, dass neben der wirtschaftsliberalen Sichtweise, die Industriepolitik auf gute Gewinnbedingungen für Unternehmen reduziert, innerhalb der politischen Linken mit der mehr oder minder fundamentalen wachstumskritischen Perspektive ein weiteres Interpretationsmuster besteht. Während die Abgrenzung zur wirtschaftsliberalen Position relativ einfach zu bewerkstelligen sein dürfte, wirft der wachstumskritische Diskurs ja in der Tat die eine oder andere Frage auf. Macht mehr Wachstum die Gesellschaft wirklich zufriedener? Ist Wachstum nicht identisch mit weiterem Klimawandel? Müssen wir nicht alle enthaltsamer leben, damit Menschen in anderen Ländern besser leben können? Ich für meinen Teil glaube nicht, dass man das Kind mit dem Bade ausschütten muss und Wachstum zumindest kurz- und mittelfristig allein schon aus Verteilungsfragen benötigt wird. Man sollte aber andererseits nicht so tun, als wäre alle geäußerte Kritik vollkommen substanzlos. Vielmehr muss es darum gehen, einen Zielkatalog zu beschreiben, aus dem deutlich wird, was eine linke, moderne Industriepolitik ausmacht. Aus meiner Sicht umfasst ein solcher Katalog folgende vier Punkte:

1. Industriepolitik ist dann ein linkes Projekt, wenn der damit einhergehende eindimensionale Wachstumsbegriff zugunsten eines gesellschaftlichen Fortschrittsbegriffs aufgegeben wird. Dieser hat das Ziel, ein besseres Leben für viele Menschen zu ermöglichen, statt die Gewinne von einigen wenigen zu mehren und umfasst deswegen neben dem wirtschaftlichen Wachstum auch weitere Komponenten wie etwa die Einkommensverteilung, die Gesundheitserwartung etc.

2. Industriepolitik ist dann ein linkes Projekt, wenn es gelingt, unsere Industrie auf einen ökologisch nachhaltigen Wachstumspfad zu bringen, der den Verbrauch der natürlichen Ressourcen vermindert. Das muss aber nicht gegen, sondern mit der Industrie geschehen, denn dazu benötigen wir technologische Innovationen und dürfen nicht beim Status Quo stehen bleiben.

3. Industriepolitik ist dann ein linkes Projekt, wenn sie nicht nationalstaatlichen Interessen in einer reinen Standortlogik unterworfen ist, sondern in internationaler Verantwortung stattfindet. Das spricht keineswegs gegen ein Wachstum auch hierzulande oder gar internationaler Arbeitsteilung. Es ist aber dann ein Problem, wenn die heimische Industrie ihre Gewinne auf Kosten ärmerer Länder einfährt.

4. Und Industriepolitik ist natürlich dann ein linkes Projekt, wenn in der Industrie das Prinzip von Guter Arbeit gilt. Das umfasst den Erhalt und den Ausbau von Arbeitsplätzen genauso wie die Arbeitsqualität in Form von Lohnhöhe, Arbeitsbedingungen usw. Sozial ist, was gute Arbeit schafft.

Ich glaube, Politik sollte gerade heute wieder stärker auf einem solchen Wertefundament arbeiten, und nicht technokratische, austauschbare Lösungsansätze anbieten. Selbstverständlich stehen diese Ziele auf der Ebene der Operationalisierung teilweise miteinander in Konflikt. Der Konflikt zwischen Arbeit und Umwelt ist seit den 1970er Jahren ein Begriff, und auch die internationale Verantwortung kann im Einzelfall mit anderen Zielen im Konflikt stehen. Aber vielleicht macht Politik ja gerade das aus und vielleicht sollte sie sich dazu manchmal deutlicher bekennen: In fast jeder Entscheidung gibt es unterschiedliche und ebenso berechtigte Interessen, die zusammengeführt und zu einem Kompromiss gebildet werden müssen. Und genau das sollte auch heute wie vor 150 Jahren Aufgabe der Sozialdemokratie sein.

Wer Industriepolitik in einem solchen Sinne verfolgen möchte, ist mit mehreren Herausforderungen oder Rahmenbedingungen konfrontiert. Aus meiner Sicht lassen sich diese in fünf Feldern zusammenfassen:


• Während zum Ende der 1990er Jahre industrielle Untergangsszenarien und die Schwäche des "Standorts" beschworen wurden, zeigt sich heute ein ganz anderes Bild. Die deutsche Industrie ist enorm wettbewerbsfähig, was sich allein schon am gigantischen Exportüberschuss zeigt, der maßgeblich auf den industriellen Sektor zurückzuführen ist. Es scheint viel dafür zu sprechen, dass es in den 90er Jahren tatsächlich einen erheblichen Strukturwandel gegeben hat, sich die deutsche Industrie aber nun mit einer stärkeren Konzentration auf Spitzen- und Hochtechnologie konsolidiert hat. Gewachsen sind nämlich eher die Branchen, in denen eine Kombination aus hohen Forschungsaufwendungen, qualifizierten Fachkräften und einem dichten Netzwerk aus (unternehmensnahen) Dienstleistungen gefragt sind, nämlich maßgeblich Investitionsgüter. In ihrer Bedeutung geschrumpft sind die 'herkömmlichen' Branchen mit einem höheren Anteil einfacher Beschäftigung und weniger Produktivitätspotentialen (maßgeblich also Konsumgüter). Diese Entwicklung zeigt, dass eine industriepolitische Strategie beim Prinzip "Besser statt Billiger" ansetzen muss. Für die derzeitige (und künftige) Struktur der deutschen Industrie sind Rahmenbedingungen wie Forschung, Fachkräfte und Infrastruktur garantiert wichtiger als ein oder zwei Prozentpunkte einer Tariferhöhung.

• Der prognostizierte demographische Wandel wird in gleich mehrfacher Form Einfluss auf industriepolitische Weichenstellungen haben. Erstens wird die Weltbevölkerung noch einmal deutlich steigen, womit klar ist, dass sich hier auch neue oder erweiterte Absatzmärkte ergeben können. Zweitens ist klar, dass sich in Zukunft ein Fachkräftemangel ergeben kann, wenn man keine politischen Weichenstellungen vornimmt. Denn für die Anzahl der Erwerbspersonen ist ja nicht nur erheblich, wie alt die Menschen im Durchschnitt sind. Sondern auch, wie lange sie aus gesundheitlichen Gründen tatsächlich arbeiten können und wollen, ob es uns gelingt die Erwerbsbeteiligung von Frauen zu erhöhen oder eine fortschrittliche Zuwanderungsdebatte führen.

• Auch aus der Wirtschafts- und Finanzkrise sollten die richtigen Schlüsse gezogen werden. Es ist schon klar geworden, dass eine solide Basis an industrieller Wertschöpfung ein Garant dafür ist, auch im Falle einer Finanzmarktkrise nicht gleich einen noch drastischeren Einbruch der Wirtschaft zu erleben. Die Krise sollte aber auch aus anderen Gründen zum Umdenken einladen: Die stärkere Finanzmarktorientierung der vergangenen Jahre hat zu Kurzfristdenken und sinkenden Investitionen in die Realwirtschaft geführt. Das erscheint langfristig gefährlich, wenn damit Investitionen in innovative, sich langfristig auszahlende Bereiche unterbleiben. Und es mag sein, dass gerade die deutsche Industrie von der Kombination aus einer wachsenden Ungleichverteilung der Einkommen und erheblichen Exportüberschüssen kurzfristig profitiert hat. Eine nachhaltige wirtschaftspolitische Strategie ist das aber nicht. Diese müsste eher bei einer stärkeren Gleichverteilung und einem Abbau des Außenhandelsüberschusses ansetzen. Das muss nun nicht als Aufforderung verstanden werden, weniger zu exportieren und damit die internationale Arbeitsteilung in Frage zu stellen. Die Frage ist nur, ob weiteres Wachstum wie bislang ausschließlich über die Exportindustrie gelingen muss.

• Dass sowohl der Klimawandel bekämpft als auch der Verbrauch anderer natürlicher Ressourcen verringert werden muss, bedarf heutzutage (zum Glück) keiner ausführlichen Begründung mehr. Schwieriger ist aber die Debatte wie mit diesen Problemen umzugehen ist. Denn es ist zwar richtig, dass es sich hierbei um Fragen handelt, die letztlich nur international und in einem weltweiten Maßstab geklärt werden können. Dies wird aber nur dann gehen, wenn gleichzeitig auch Verteilungsfragen angegangen werden. Und es ist ebenso richtig, wenn Deutschland und Europa in vielen Fragen mit gutem Beispiel vorangehen. Man darf aber auch hier - im Sinne einer fortschrittlichen Klimapolitik - nicht überdrehen. Denn wenn z.B. Energie so teuer wird, dass Unternehmen deswegen ihre Produktion in andere Länder verlegen, ist für das Klima nichts gewonnen.

• Insbesondere im Zuge der Energiewende aber auch bei vielen anderen Industrie- oder Infrastrukturprojekten ist es in den vergangenen Jahren zu Protesten und Widerständen von Bürgerinitiativen etc. gekommen. Man muss nun nicht so weit gehen und behaupten, wir würden in einem Land der Blockade leben. Offensichtlich aber herrscht in Teilen der Gesellschaft ein eher industriefeindliches Klima, was aus meiner Sicht aus einer relativ diffusen Mischung von Kritik an unserer heutigen Demokratie und ihren Verfahren, lokalen Interessen und einer gesellschaftlich verbreiteten Fortschritts- und Technologieskepsis, die im Protest gegen lokale Infrastrukturvorhaben kulminieren, resultiert.


Was bedeutet nun dies alles für die Konturen einer linken Industriepolitik? Weder hier noch in meinem Buchbeitrag kann und will ich eine Blaupause oder einen Masterplan aufstellen. Fest steht aus meiner Sicht aber, dass eine linke Industriepolitik sich aus den Fesseln der klassischen Ressortaufteilung in Bundes- und Landesregierungen befreien muss. Denn dort ist Industriepolitik nicht mehr als ein Teil des Wirtschaftsministeriums und damit auf die Bewilligung von Subventionen und der Begleitung des Strukturwandels in einzelnen Regionen beschränkt. Vielmehr muss es aus meiner Sicht darum gehen, einen industriepolitischen Ansatz zu verfolgen, der mehrere Politikfelder umfasst und damit auch koordinieren muss. Konturen und Bausteine einer solchen linken Industriepolitik müssen dabei u.a. sein:

• Die Wiederbelebung von wirtschaftsdemokratischen Konzepten auf der betrieblichen wie auf der regionalen Ebene. Alle Erkenntnisse belegen, dass betriebliche Mitbestimmung nicht nur für die Beschäftigten von Vorteil ist, sondern auch eine nachhaltige Entwicklung von Unternehmen fördert. Und auf der regionalen Ebene sollte die Beteiligung und Mitbestimmung von Interessengruppen bei Industrie- oder Infrastrukturvorhaben so früh wie möglich einsetzen.

• Das Eintreten für möglichst weitreichende internationale Vereinbarungen im Bereich des Klima- und Ressourcenschutzes. Denn die bekannten Probleme können hauptsächlich nur dort gelöst werden.

• Die Regulierung der Finanzmärkte mit dem Ziel, Investitionen in die Realwirtschaft attraktiver zu machen und "Angriffsmöglichkeiten" der Finanzmärkte auf das produzierende Gewerbe zu reduzieren.

• Eine europäische Koordinierung der Fiskal- und Lohnpolitik mit dem Ziel, den ruinösen Standortwettbewerb auf Kosten des Sozialstaats und der Beschäftigten innerhalb der Währungsunion zu beenden. Für den Gewinn/Umsatz eines Unternehmens sollte die eigene Innovationsfähigkeit ausschlaggebend sein, nicht der "Wettbewerb" um die niedrigsten Löhne.

• Eine Offensive für Bildung und Ausbildung. Wenn auch viele Unternehmen einen Fachkräftemangel befürchten, dann ist jetzt noch genügend Zeit, dem vorzubeugen. Ausreichend gute Ausbildungsplätze, mehr Investitionen in Bildung und der massive Ausbau von Weiterbildungsmöglichkeiten liegen dabei sowohl in staatlicher als auch in der betrieblichen Verantwortung.

• Ein handlungsfähiger Staat, der die Mittel hat, um in Bildung, Forschung und Infrastruktur zu investieren. In allen Bereichen steht Deutschland im europäischen Vergleich eher mittelprächtig da. Dabei sind genau dies Voraussetzungen für eine innovationsfähige Industrie.

• Die konsequente Umsetzung des Leitbildes der "Ökologischen Industriepolitik" mit dem Ziel, sowohl die Produkte als auch die Fertigungsverfahren auf eine ökologische Nachhaltigkeit zu verpflichten. Dabei ist der Bereich der Energiegewinnung und -einsparung nur eines von vielen möglichen Beispielen.

• Die Orientierung am Leitbild der "Guten Arbeit" um erstens für gute Bedingungen auch für die in der Industrie Beschäftigten zu sorgen. Zweitens muss es auch darum gehen, ein tarifpolitisches Umfeld zu schaffen, in dem die Gewerkschaften höhere Tarifabschlüsse erzielen können. Denn nur so kann es gelingen, zu mehr Verteilungsgerechtigkeit zu kommen, den gigantischen Exportüberschuss abzubauen und ein stärkeres binnenwirtschaftliches Wachstum zu erzielen.


Diese Liste ist sicherlich weder abschließend noch widerspruchsfrei. Von zentralerer Bedeutung für die weitere Debatte erscheint mir aber ohnehin, dass die politische Linke aus ihrer zum Teil selbst gewählten Ecke der Wirtschafts- und Industrieskepsis herausfindet und einen selbstbewussten Diskurs über die Ziele einer modernen linken Industriepolitik führt. Klar: Diese werden nicht immer widerspruchsfrei sein. Aus meiner Sicht muss es aber gerade für die SPD dabei darum gehen, den gesellschaftlichen Fortschritt und eben nicht nur Individualinteressen im Blick zu haben. Denn das können andere Parteien besser.


Sascha Vogt ist Bundesvorsitzender der Jusos und lebt in Essen.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 5/2012, Heft 192, Seite 16-20
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Dezember 2012