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ENERGIE/2404: Kampf um den Ölpreisdeckel (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 11. Oktober 2022
german-foreign-policy.com

Kampf um den Ölpreisdeckel

Der Ölpreisdeckel der EU droht zu Versorgungslücken zu führen und den Ölpreis in die Höhe schnellen zu lassen. Washington diskutiert Ölexportverbot - zu Lasten der EU.


BRÜSSEL/MOSKAU - Die EU droht mit ihren Plänen zur Deckelung des Preises für russisches Öl einen dramatischen Anstieg des Ölpreises und womöglich sogar eklatante Versorgungsprobleme auszulösen. Russland hat angekündigt, sich dem Preisdeckel nicht zu beugen und kein Erdöl zu liefern, sollte es zur Einhaltung eines von der EU festgesetzten Höchstpreises genötigt werden. Die Lage ist ernst: Gegenwärtig wird mehr als die Hälfte der russischen Ölexporte von Tankschiffen transportiert, die griechischen Reedern gehören und nicht mehr fahren dürfen, falls Russland den Preisdeckel nicht einhält. Gelingt es nicht, EU-Tanker komplett durch Schiffe aus nichtwestlichen Staaten zu ersetzen - die Chancen dafür werden als gering eingeschätzt -, dann ist mit ernsthaften Versorgungslücken und mit einem rasant explodierenden Ölpreis zu rechnen. Die Hoffnung, andere Ölförderer könnten einspringen, ist mit dem Beschluss der OPEC+-Staaten aus der vergangenen Woche geplatzt, ihre Ölförderung um zwei Millionen Barrel pro Tag zu kürzen. Die US-Administration tobt; in Washington wird über ein Ölexportverbot diskutiert. Die USA sind aktuell einer der wichtigsten Lieferanten Europas.

Marktmacht

Mit ihrem Ölpreisdeckel, den sie in der vergangenen Woche beschlossen hat, will die EU verhindern, dass ihr Ölembargo gegen Russland komplett ins Leere läuft. Kein Mitgliedstaat der Union darf ab dem 5. Dezember noch russisches Öl einführen; Ausnahmen gelten nur für drei Länder, die auf Pipelinelieferungen angewiesen sind - Ungarn, die Slowakei, die Tschechische Republik -, und für Bulgarien, das noch bis 2024 russisches Öl auch per Schiff importieren darf. Nun könnte Russland sein Öl künftig einfach an andere Länder verkaufen und Einnahmen in gleicher oder doch zumindest in ähnlicher Höhe erzielen. Das will die EU unterbinden und dazu in Abstimmung mit den G7 einen Höchstpreis für russisches Öl festlegen, der wenig über den Produktionskosten liegt. Um den Höchstpreis durchzusetzen, will sie die Tatsache nutzen, dass Tankschiffe aus Griechenland, Zypern und Malta einen überaus großen Marktanteil halten; laut Branchenangaben wurden von März bis August rund 55 Prozent des russischen Öls allein von Tankern in griechischem Besitz exportiert.[1] Die EU hat nun sämtliche Dienstleistungen für russische Ölexporte, auch die Verschiffung, verboten, sofern das Öl oberhalb des Höchstpreises veräußert wird. Darüber hinaus sollen Versicherungsleistungen untersagt werden. Dabei ist die Union auf die Unterstützung Londons angewiesen, dessen Marktanteil bei Versicherungen klar dominiert.[2]

Mangel und Teuerung

Schon seit Monaten werden in Branchenkreisen Zweifel laut, ob der EU-Ölpreisdeckel wie gewünscht funktioniert oder ob er nicht dem Westen erheblich stärker schadet als Russland. Die Lage ist komplex. Bisher hat kein Land jenseits des transatlantischen Bündnisses bzw. der G7 sich bereiterklärt, den Preisdeckel anzuerkennen. Moskau hat angekündigt, ihn nicht akzeptieren zu wollen. Zuletzt exportierte Russland rund 1,15 Millionen Barrel pro Tag aus seinem fernen Osten in asiatische Länder, vor allem nach China und Indien; dazu nutzte es weitgehend eigene Schiffe oder Schiffe aus asiatischen Ländern, denen der EU-Preisdeckel nichts anhaben kann. Zugleich exportierte es aber auch rund 4,45 Millionen Barrel pro Tag aus Häfen in der Arktis, an der Ostsee oder dem Schwarzen Meer, die überwiegend von Tankern aus der EU transportiert wurden; dies wäre nicht mehr möglich, sollte Moskau den Preisdeckel tatsächlich weiterhin ablehnen.[3] Damit fehlten auf dem Weltmarkt gewaltige Mengen an Öl; der Preis schnellte dramatisch in die Höhe, Versorgungslücken wären recht wahrscheinlich. Letzteres träfe insbesondere auf Diesel zu, da Russland riesige Mengen davon exportiert. Branchenkenner warnen, die EU habe keine echte Alternative zur Versorgung mit russischem Diesel; es drohe gravierender Mangel.[4]

Schuss ins eigene Knie

Weigert sich Moskau, den Ölpreisdeckel zu akzeptieren, dann bestünde eine denkbare Option, großen Versorgungslücken und astronomischen Preisen zu entkommen, darin, dass Russland genügend Tankschiffe auftreiben kann, die in keinerlei Beziehung zur EU sowie zu Dienstleistungen aus EU-Staaten stehen. Dies gilt als schwierig, aber doch als teilweise möglich. So können zum Beispiel Tankschiffe umgeflaggt werden; dass das schon geschieht, wird etwa aus Zypern berichtet.[5] Die EU sucht gegenzusteuern, indem sie sämtlichen umgeflaggten Schiffen, die auch bloß ein einziges Mal den Ölpreisdeckel nicht einhalten, für alle Zukunft die Nutzung von Dienstleistungen aus EU-Staaten untersagt.[6] Das Ergebnis gilt in Branchenkreisen als ungewiss. Schiffseigner wie auch Schiffsversicherer aus EU-Staaten und aus Großbritannien warnen explizit, der Ölpreisdeckel werde Bestrebungen, eine nichtwestliche Tankerflotte sowie nichtwestliche Versicherungs- und Finanzdienstleister für die Schifffahrtsbranche aufzubauen, neuen Auftrieb verschaffen. Das werde die heute noch dominante Marktposition westlicher Konzerne untergraben. Die Einbußen durch die neue russische bzw. asiatische Konkurrenz, die ihren Aufstieg letzten Endes womöglich dem Ölpreisdeckel der EU verdankte, wögen auf lange Sicht schwer.[7]

Die OPEC+ stellt sich quer

Der einzige offensichtliche Ausweg aus dem Dilemma bestünde darin, die Erdölförderung weltweit außerhalb Russlands dramatisch auszuweiten und russisches Öl damit überflüssig zu machen. Darum bemühen sich die westlichen Mächte schon lange. US-Präsident Joe Biden, sein französischer Amtskollege Emmanuel Macron, der einstige britische Premierminister Boris Johnson und Bundeskanzler Olaf Scholz haben Saudi-Arabien besucht, um Kronprinz Muhammad bin Salman, den faktischen Machthaber dort, zu einer deutlichen Ausweitung der saudischen Ölförderung zu bewegen. Macron empfing Bin Salman Ende Juli sogar in Paris. Sämtliche Bemühungen sind bislang erfolglos geblieben. Statt ihre Ölförderung auszuweiten, haben die OPEC+-Staaten vergangene Woche sogar beschlossen, ihre Förderung um zwei Millionen Barrel pro Tag zu kürzen - so viel wie nie seit den drastischen Drosselungen in der frühen Phase der Covid-19-Pandemie. Offiziell wurde die Kürzung damit begründet, die Weltwirtschaft steuere auf eine Rezession und damit zugleich auf einen deutlich sinkenden Ölverbrauch zu. Hinter den Kulissen heißt in der Ölbranche allerdings, der unerwartete Schritt sei eine recht deutliche Protestreaktion auf den Versuch der westlichen Mächte, den Ölpreisdeckel durchzusetzen.[8] Gelänge der Versuch, dann verlören die OPEC+-Staaten die Macht, den Ölpreis maßgeblich zu bestimmen. Deshalb gehen sie dagegen vor.

Washingtons Prioritäten

Der Konflikt dauert an. Während die EU daran arbeitet, den Ölpreisdeckel durchzusetzen - damit erhielte sie ihrerseits maßgeblichen Einfluss auf die Bestimmung des Ölpreises -, droht Washington den OPEC+-Staaten mit Konsequenzen. Aktuell wird über ein Gesetzesvorhaben mit der Bezeichnung NOPEC diskutiert, das es erlauben soll, souveräne Staaten dem US-Kartellrecht zu unterwerfen und sie vor US-Gerichten abzuurteilen; konkret soll es möglich sein, den OPEC+-Staaten wegen Kartellbildung in den USA den Prozess zu machen.[9] Weil der jüngste, durch die OPEC+-Förderkürzung verursachte Ölpreisanstieg den US-Benzinpreis in die Höhe treibt und damit die Chancen der Partei von US-Präsident Joe Biden reduziert, sich in den Zwischenwahlen Anfang November zu behaupten, wird in Washington auch über ein Erdölexportverbot diskutiert, um in der Endphase des Wahlkampfs die Benzinpreise zu stabilisieren.[10] Das wöge für Deutschland und die EU schwer: Dass es den Staaten Europas seit Kriegsbeginn gelungen ist, ihre Öleinfuhr aus Russland bereits deutlich zu reduzieren, liegt auch daran, dass die Vereinigten Staaten ihre Öllieferungen erheblich ausgeweitet haben und im August bereits rund 1,6 Millionen Barrel Erdöl pro Tag nach Europa lieferten. Fällt dies weg, weil die US-Administration eine Wahlniederlage verhindern will, dann sitzt Europa auf dem Trockenen.


Mehr zum Thema:
Von Preisdeckeln und Selbstbetrug.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9020


Anmerkungen:

[1] Peter R. Orszag, Theodore Bunzel: Price caps on Russian oil aren't ideal. But they're our best option. washingtonpost.com 06.10.2022.

[2] Emily Gosden: Russian oil tankers facing UK insurance ban. thetimes.co.uk 01.06.2022.

[3] John van Schaik, Emily Meredith: The Achilles' Heel of the G7 Price Cap. energyintel.com 13.09.2022.

[4] Paul Sampson: Traders Downbeat on Russian Oil Price Cap. energyintel.com 05.10.2022.

[5] Maria Eracleous: Demetriades: Loss of fleet due to sanctions on Russia. knews.kathimerini.com.cy 06.10.2022.

[6] Thomas Gutschker: Die komplizierteste Sanktion. Frankfurter Allgemeine Zeitung 06.10.2022.

[7] John van Schaik, Emily Meredith: The Achilles' Heel of the G7 Price Cap. energyintel.com 13.09.2022.

[8] David Sheppard, Derek Brower, Tom Wilson, Justin Jacobs: White House accuses Opec+ of aligning with Russia. ft.com 05.10.2022.

[9] Die OPEC-Staaten provozieren Amerika. Frankfurter Allgemeine Zeitung 07.10.2022.

[10] David Sheppard, Derek Brower, Tom Wilson, Justin Jacobs: White House accuses Opec+ of aligning with Russia. ft.com 05.10.2022.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 11. Oktober 2022

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