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FINANZEN/057: Von der geplatzten Finanzblase zum Staatsbankrott? (Sozialismus)


Sozialismus Heft 1/2010

Von der geplatzten Finanzblase zum Staatsbankrott?

Von Joachim Bischoff


Die durchschnittliche Verzinsung für kurzfristige Geldanlagen ist auf ein neues Tief gefallen. Die Verzinsung auf einem Tagesgeldkonto in Deutschland bei der Anlage von 5.000 Euro betrug Ende Dezember 2009 im Durchschnitt nur mehr 1,27%, für 50.000 Euro sind es 1,32%. Noch vor gut einem Jahr wurden durchschnittlich mehr als 3,5% Zinsen gezahlt. Wer sein Geld länger festlegen möchte, kann höhere Zinsen einstreichen. Im Angebot sind beispielsweise Sparbriefe, die bei drei Jahren Laufzeit einen Zinssatz von 3,5% je Jahr bieten.

Für diese niedrigen Zinssätze gibt es eine eindeutige Erklärung: Es existiert überreichliches Angebot an anlagesuchendem Geld- und Leihkapital. Diese Tendenz wird zweifelsohne verstärkt durch die expansive Geldpolitik der Notenbanken.

So hat beispielsweise die US-amerikanische Notenbank (Fed) trotz erster Anzeichen für eine Konjunkturerholung eine Fortführung ihrer Nullzinspolitik signalisiert. Die wirtschaftlichen Bedingungen erforderten für einen "längeren Zeitraum" ein "außergewöhnlich niedriges Zinsniveau". Die Fed begründete dies vor allem mit einer niedrigen Kapazitätsauslastung der Industrie (ca. 70%) und damit, dass auch für die nächsten Monate keine inflationäre Tendenz erkennbar sei. Ein robuster Wirtschaftsaufschwung hätte steigende Zinsen zur Folge. Von einem sich selbst tragenden Aufschwung - d.h. von wirtschaftlicher Belebung, Besserung am Immobilienmarkt sowie einer Verlangsamung der Talfahrt am Arbeitsmarkt - kann aber weder in den USA noch in Europa oder Japan die Rede sein. Die Notenbanken dieser Länder unterstreichen daher, dass die wirtschaftliche Aktivität wahrscheinlich noch eine Zeit lang schwach bleiben wird und es keine Inflationsgefahren (und somit keinen Anlass, an den Zinsen zu rütteln) gehe.


Hohe Liquidität bei sinkender Kreditwürdigkeit

Das überreichliche Angebot an Geld- und Leihkapital, in dem sich die krisengedrückte Akkumulation des Realkapitals spiegelt, produziert drei Phänomene:

Erstens nutzen Investoren mit reichlichem Geldkapital verstärkt die Zinsdifferenzen rund um den Globus - mithilfe so genannter Carry Trades. Sie nehmen Kredite in einer Niedrigzinswährung auf und legen es in einer höher verzinsten Währung an. So verkaufen sie japanische Yen oder neuerdings auch US-Dollar, wo die Zinsen nahezu bei Null liegen, und kaufen dafür beispielsweise den australischen Dollar. Dort beträgt der Leitzins 3,75%. Die "Devisenwette" geht aber nur auf, wenn der Kurs des "Aussie-Dollars" gegenüber US-Dollar oder Yen mindestens stabil bleibt. Gibt die Währung jedoch nach, drohen die Kursverluste den Zinsvorteil wieder zunichte zu machen. Mit Anlagen in bestimmten Währungen wie der Norwegischen Krone, dem brasilianischen Real, dem südafrikanischen Rand oder dem australischen Dollar ließ sich in den letzten Monaten reichlich Geld verdienen. Auch das Anhalten der großen Finanz- und Wirtschaftskrise hat mithin das internationale Karussell der Geldkapitalakkumulation nicht entschleunigen können. Der Devisenmarkt ist weiterhin der mit Abstand liquideste Markt der Welt. Laut Schätzungen werden weltweit täglich Devisen im Wert von über 50 Bio. US-Dollar gehandelt.

Zweitens haben die Staaten dank des reichlichen Angebotes an liquidem Kapital - und gefördert durch die Notenbanken - keine Schwierigkeiten, ihre Schulden zu refinanzieren und neue öffentliche Kredite auf den Geldkapitalmärkten aufzunehmen. Beispiel Deutschland: Die Berliner Republik wird sich 2010 so viel Geld am Kapitalmarkt leihen wie nie zuvor. Bekanntlich benötigt der Finanzminister ca. 100 Mrd. Euro neue Mittel, um im Jahr 2010 den Bundeshaushalt sowie die Bundesagentur für Arbeit und die Krankenkassen mit liquiden Mitteln ausstatten zu können. Zu dieser Neuverschuldung kommen die Mittel für die Umwälzung von Altschulden. Insgesamt sind öffentliche Kreditaufnahmen im Volumen von 343 Mrd. Euro geplant. Das ist eine nochmalige Steigerung gegenüber 2009, als der Bund bereits Anleihen und Geldmarktpapiere im Volumen von 329 Mrd. Euro ausgegeben hat. Im Jahr 2008 lag das Volumen noch bei 213 Mrd. Euro.

Schwierigkeiten für den Bund, die Papiere zu platzieren, sehen Experten nicht. Der Bund profitiere von der zunehmend angespannten Lage in anderen Euro-Staaten wie Griechenland oder Italien. Die Perspektiven seien gut. Das mache Bundesanleihen für sicherheitsorientierte Anleger interessant. Es sei ausreichend Liquidität am Markt verfügbar.

Drittens sind nicht alle Staaten in der komfortablen Lage wie die Bundesrepublik Deutschland, die USA oder Japan. In den letzten Wochen ist die unterschiedliche Kreditwürdigkeit der Länder oder gar ein Staatsbankrott zum aktuellen Problem geworden. Griechenland, Irland, Spanien, Dubai, die baltischen Staaten etc. haben erheblich an Vertrauen auf den Finanzmärkten verloren. Dies zeigt sich daran, dass Staaten mit geringerer Kreditwürdigkeit deutlich mehr Zinsen für Staatsanleihen bezahlen müssen. Weitere Konsequenz: Die führenden Ratingagenturen stufen diese Länder in der Kreditwürdigkeit herunter. Zahlreiche Länder bekommen das schon zu spüren. Griechenland, Italien und Spanien müssen immer höhere Zinsaufschläge im Vergleich zu Staatsanleihen erstklassiger Bonität zahlen. Und wer sich gegen Zahlungsausfälle dieser Länder absichern will, zahlt höhere Prämien. Das zeigt, wie misstrauisch die Gläubiger geworden sind. Sie erwarten mit höherer Wahrscheinlichkeit einen Zahlungsausfall.


Beispiel Griechenland

Der Renditeaufschlag griechischer Staatsanleihen zu deutschen Bundesanleihen mit gleicher Laufzeit ist im Dezember gestiegen. Nach der Ratingagentur Fitch hat auch S&P die Kreditwürdigkeit Griechenlands gesenkt. S&P stufte die Note für das Mittelmeerland von "A-" auf "BBB+" herunter. Der Ausblick blieb negativ. Griechenland muss auf absehbare Zeit für Kredite noch mehr bezahlen und schlingert dem Staatsbankrott entgegen. Die sozialistische Regierung hat unter dem Druck des internationalen Finanzkapitals und der EU ein massives Kürzungsprogramm aufgelegt. Während tausende Lohnabhängige wegen dieser Sparpolitik in den Streik treten, wachsen in Brüssel die Sorgen. Athen ist der Pleite näher als der Drei-Prozent-Stabilitätsgrenze. Das griechische Haushaltsdefizit liegt bei 12,7%, die Schulden liegen bei knapp 300 Mrd. Euro. 2010 müssen 25 Mrd. Euro refinanziert und für 30 Mrd. Euro neue Kredite aufgenommen werden. Bereits jetzt ist sicher, dass die Finanzierungskosten bei Bonitätsabwertung erheblich steigen werden. Der sozialistische Regierungschef Papandreou, Sieger der Parlamentswahlen vom Oktober, hat sich die Perspektive des Regierungswechsels gewiss anders vorgestellt. Griechenland ist schon lange wirtschaftlich und finanziell stark angeschlagen. Der Beitritt zur Euro-Zone 2001 basierte nicht auf einer realistischen Bilanzierung des ökonomischen Potenzials. Seit dem Ende der Militärjunta 1974 wird das Land weitgehend von Familiendynastien beherrscht. Eine Folge dieser Herrschaft ist der Fortbestand eines tief verwurzelten Klientelsystems, das den staatlichen Sektor aufgebläht hat und die demokratische Ordnung von innen her aushöhlt. Die öffentliche Verwaltung ist partiell ineffizient. Das Bildungssystem ist marode, die Pensionskassen und Sozialversicherungen sind defizitär. Steuern werden in großem Ausmaß hinterzogen, Korruption und Schattenwirtschaft durchdringen alle Sphären des Lebens. Seit dem Beitritt des Landes zur EU 1981 hat die politische Klasse immer wieder eine Demokratisierung und Modernisierung versprochen, aber letztlich wenig realisiert. Neben der alltäglichen Repression durch die Finanzmärkte machen die europäischen Institutionen Druck, dass Griechenland entschieden den Defizitabbau angeht. Dabei wissen auch die anderen europäischen Regierungen, dass die Situation in Griechenland mit den "üblichen haushälterischen Mitteln" nicht zu bewältigen ist. Die Gefahr für das europäische Währungssystem liegt auf der Hand. Eine Gemeinschaftswährung führt bei strukturell unterschiedlichen Entwicklungspfaden einzelner nationaler Ökonomien unausweichlich zu wachsenden Spannungen. Länder wie Griechenland, Spanien, Italien und Irland leiden bei Wegfall der Möglichkeit einer nationalen Wechselkursabwertung an der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit ihrer heimischen Produktion. Die Folgen bestehen u.a. in einer hohen Arbeitslosenrate in Spanien und einem jährlich steigenden Leistungsbilanzdefizit Griechenlands. Eine innerstaatliche Kompensation durch Sozialausgaben und Beschäftigungsprogramme bildet den Nährboden eines langfristigen Verfalls des Wirtschaftspotenzials und der öffentlichen Strukturen.


Wie realistisch ist die Gefahr des Staatsbankrotts?

Die Schulden von entwickelten kapitalistischen Staaten gelten als risikolose Investitionen. Doch diese Einschätzung wird jetzt bei einer wachsenden Zahl von Staaten in Frage gestellt. Im Laufe von nur wenigen Wochen hat sich die Beurteilung der Risiken von Staatsanleihen spürbar verändert. Obwohl nicht zu übersehen war, dass sich viele Staaten, die ohnehin schon über beide Ohren verschuldet waren, zusätzlich verschuldet haben, um die Finanzkrise abzuwenden, stand deren Bonität nicht zur Diskussion. Jetzt aber kommen Zweifel auf Nachdem Ende November die Holdinggesellschaft Dubai World um Zahlungsaufschub ersucht und anschließend die Ratingagentur Moody's die Bonitätsnoten von sechs Staatskonzernen des Emirats gesenkt hatte, wurden auch Länder wie Griechenland mit einer Zurückstufung ihrer Kreditwürdigkeit durch die Ratingagenturen konfrontiert. Das Gespenst des Staatsbankrotts geht wieder um, aber diesmal nicht wegen der Entwicklungsländer, sondern aufgrund der Industriestaaten.


Dubai als Auslöser

Dubai und Griechenland spiegeln nur die Zweifel an der fortgesetzten Schönrederei der effektiven Finanzlage und Bonität vieler Staaten wider. Allerdings dürfte die Herabstufung griechischer Staatspapiere durch die Ratingagentur Fitch in die Nähe von "Junk" niemanden überrascht haben. Auch die Warnung von Standard & Poor's, das Rating von Spanien wegen seiner schlechten öffentlichen Finanzen und Wachstumsaussichten von "AA+" zu reduzieren, kam nicht überraschend.

Die Ratingagentur Moody's unterstreicht, dass keiner der 17 Staaten mit "AAA"-Rating damit rechnen müsse, diese Einstufung zu verlieren. Bedeutsam in diesem Zusammenhang ist jedoch der Hinweis, dass sich in den nächsten zwei Jahren zeigen müsse, ob die Konjunkturerholung kräftig genug sein wird, um die Schuldenlast tragen zu können. Diese Mahnung gilt Großbritannien, Japan und den USA.

Der amerikanische Staatshaushalt wies im September 2009 ein Defizit von ca. 10% des BIP auf. Doch eine US-amerikanische Beratungsfirma weist darauf hin, dass das effektive Defizit einschließlich der regierungsnahen Unternehmen und umlagefinanzierten Verpflichtungen für Renten und Sozialversicherungen fast das Doppelte beträgt.

Ähnlich unscharf stellen sich die Größenordnungen für die Gesamtschuld der USA dar. Für das Land ergibt sich für alle staatlichen und staatsnahen Einheiten eine Verschuldung von 424% des Bruttoinlandsproduktes. Sie setzt sich zusammen aus 60% an offiziellen Staatsschulden, 81% an Schulden anderer Körperschaften und 283% an ungedeckten Verpflichtungen. Unter Berücksichtigung der Verschuldung der privaten Haushalte (99%) und aller Unternehmen (317% - ohne außerbilanzielle Titel) beträgt die Gesamtschuld sogar 840%.

Das Problem beschränkt sich nicht auf die USA. Auch andere Länder haben hohe offizielle und intransparente Verpflichtungen. Angesichts der prekären, durch die Finanzkrise verschärften Lage überrascht nur, dass Anleger und Ratingagenturen nicht seit langem Alarm schlagen und fragen, wie eine ordentliche Rückzahlung möglich sein wird. Selten haben sich in der Geschichte so viele Länder so schnell so hoch verschuldet. Seit Beginn der Finanzkrise 2007 stellten allein die 20 größten Wirtschaftsnationen der Welt 1,5 Bio. US-Dollar bereit, um die Krise zu bekämpfen. Davon entfielen 600 Mrd. US-Dollar auf Europa. Die Antikrisenprogramme sind auf Pump finanziert. Der Ratingagentur Moody's zufolge werden die Schulden der Regierungen Ende 2010 innerhalb von nur vier Jahren um 45% regelrecht explodiert sein. In Europa wuchsen die staatlichen Schulden 2009 so schnell wie nie zuvor in Friedenszeiten, stellte die EU-Kommission fest. Und die Tendenz bis 2011: im Rekordtempo noch mehr Schulden.

Auf Pump leben die europäischen Staaten nicht erst seit Ausbruch der Finanzkrise. Seit Beginn der 1970er Jahre explodieren hier die öffentlichen Schulden. Leistungen des Staates, ob Investitionen ins Verkehrsnetz oder soziale Leistungen, werden mehr und mehr nicht mehr durch Steuereinnahmen finanziert, sondern durch Kredite. Unterbrochen wurde die Geldleiherei bestenfalls durch kurze Phasen des Sparens. Grund dieser Entwicklung zum Schrumpf- und Schuldenstaat: Schritt für Schritt setzte sich das Paradigma vom neoklassischen Schrumpfstaat durch. Im Mittelpunkt steht dabei der Rückzug des Staates aus seinen öffentlichen Dienstleistungsaufgaben, aus der gesamtwirtschaftlichen Verantwortung für stabiles, ökologisch fundiertes Wirtschaftswachstum, für hohe Beschäftigung und für eine Absicherung gegen systembedingte soziale Risiken. Die Senkung der Staatsquote zur Reduzierung der Unternehmenssteuern sowie der öffentlichen Nettokreditaufnahme soll den Spielraum für das privatwirtschaftliche System erhöhen. Dazu gehören die Privatisierung bisher öffentlicher Aufgaben sowie der Abbau von politisch gewollten Regulierungen der Märkte (Politik der Deregulierung etwa auf den Arbeitsmärkten). Theoretisch und empirisch lässt sich nachweisen, dass dieses Konzept des schlagkräftigen, auf die Interessen der Unternehmenswirtschaft ausgerichteten Staates ökonomische, soziale und ökologische Probleme nicht nur nicht löst, sondern vertieft.


Verteilungskonflikte

In der kapitalistischen Marktwirtschaft wird der gesellschaftliche Kampf um die Anteile am gesellschaftlichen Reichtum (Sozialprodukt) auf drei Ebenen geführt: den Warenmärkten, in Einkommensverhandlungen (Primärverteilung Löhne und Gehälter) und bei der Festlegung von Steuern und Sozialabgaben (und den entsprechenden Leistungen).

Bis Mitte der 1970er Jahre galt der Gesichtspunkt der Kompensation und Korrektur gegenüber den Ebenen der Warenzirkulation und der Primärverteilung. Vor allem in der sozialen Sicherung wurden durch solidarische Umverteilung die krassesten Defizite der Kapitallogik korrigiert. Der Sozialstaat war immer auch Austragungsebene des Kernkonflikts zwischen Lohnarbeit und Kapital. Soziale Sicherungspolitik ist insoweit Zivilisierung des Kapitalismus, als wesentliche Teile der individuellen und familiären Reproduktionsbedingungen den Verwertungsbedingungen und Organisationsformen des Kapitals entzogen werden.

Seit 2003 steigen die Schulden kontinuierlich. Auch Deutschland überschreitet seit 2002 die Schuldengrenze des europäischen Stabilitätspaktes. Gemäß den Kriterien dieses Pakts dürfen die Verbindlichkeiten höchstens 60% der Wirtschaftsleistung ausmachen. In zwei Jahren wird Deutschland aber bereits bei 80% der Wirtschaftsleistung angelangt sein.

Natürlich können Staaten grundsätzlich ihre zerrütteten Finanzen sanieren. Doch in der Regel schrecken sie vor einer deutlichen Erhöhung der Steuern auf Unternehmensgewinne und Vermögenserträge zurück. Allein durch höhere Verbrauchssteuern oder höhere Steuersätze auf Arbeitseinkommen ist der Abbau der Schuldenberge selbst in Boomzeiten kaum möglich, zumal wenn sich die Krise fortsetzt und Boomkonstellationen, also eine beschleunigte Kapitalakkumulation, nicht absehbar sind. Wie schwierig es ist, mitten in einer Krise zu sparen, erleben gerade Griechenland, Irland oder Lettland. Seit die baltische Republik vor einem Jahr vor dem Bankrott stand, wird sie mit Krediten von insgesamt 7,5 Mrd. Euro von EU und Internationalem Währungsfonds (IWF) über Wasser gehalten.

Noch vor kurzem wurde die Rede von Staatsbankrotten und die Möglichkeit ein es Auseinanderbrechens der Euro-Zone als Geschwätz abgetan. Mittlerweile ist dies denkbar geworden. Auf den ersten Blick ist der am Bruttoinlandsprodukt gemessene Wasserstand der Staatsverschuldung kein sicheres Indiz für einen bevorstehenden Bankrott. Japan, immerhin die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, lebt mit einer Staatsverschuldung, die Ende 2009 voraussichtlich 216% seiner Wirtschaftsleistung erreicht. Trotzdem hat Tokio keine Probleme, Käufer für seine Staatsanleihen zu finden. Doch der auf Staatsfinanzen spezialisierte Londoner Forschungsdienst Variant Perception hält das japanische Modell für eine weitere Finanzblase, die "bis zum Himmel explodieren wird. Die einzige Frage ist wann". Der Fall Japan kann zugleich die Aussichtslosigkeit eines systemimmanenten Versuches zur Verminderung der öffentlichen Kredite verdeutlichen.


Japan - die schlechte Zukunft des Kapitalismus

Die japanische Zentralbank (BoJ) hält für die nächsten Monate den Leitzins unverändert bei 0,1%. Sie sagt zugleich der Deflation in der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt erneut den Kampf an. "Die Bank hat erkannt, dass es eine entscheidende Herausforderung für Japans Wirtschaft ist, die Deflation zu bewältigen und auf einen tragfähigen Wachstumspfad mit Preisstabilität zurückzukehren." Die BoJ werde es nicht dulden, dass das Preisniveau weiter fällt. Auch nach Auffassung der Regierung steckt Japan erstmals seit dreieinhalb Jahren wieder in einer Phase dauerhaft fallender Preise und damit in der Deflation.

Zuletzt hatte sich Japan zwischen März 2001 und Juni 2006 in einer Phase dauerhaft fallender Preise befunden. Mit fiskalpolitischen Maßnahmen und höheren öffentlichen Ausgaben allein sei der Trend fallender Preise nicht umzukehren, betont die japanische Regierung zu Recht. Wachstumsimpulse müssten vielmehr auch vom Sektor der kapitalistischen Ökonomie kommen.

Der Grundstock zur explodierenden Staatsverschuldung wurde in der großen Krise von 1989/90 gelegt. In den vorangegangenen Jahrzehnten galt Japan als wirtschaftlich aufstrebende Hegemonialmacht. Mit dem Crash von 1989 wurde eine massive Entwertung der Wertpapiere und Immobilienpreise eingeleitet. Die damalige Kreditkrise deckte auf, dass Banken und Unternehmen auf faulen Krediten in der Größenordnung von umgerechnet Hunderten Milliarden Euro saßen.

Nach dem Platzen der Blase und dem Absturz der Wirtschaft zögerte Japans Zentralbank fast anderthalb Jahre, bis sie den Leitzins von 8% absenkte. Die eng mit den überschuldeten Unternehmern verbundenen Liberaldemokraten begannen erst ab Ende 2002, ernsthaft die Bücher der Konzerne aufzuräumen, Banken zu verstaatlichen oder in den Bankrott zu schicken. Zwischen 1992 und 2005 schrieben allein die japanischen Banken umgerechnet 800 Mrd. Euro fauler Kredite ab - fast 20% der jährlichen Wertschöpfung.

Um den Einbruch abzumildern, beschloss die Regierung zu Beginn der 1990er Jahre mehrere Konjunkturprogramme. Die kosteten dem Kabinettsbüro der japanischen Regierung zufolge von 1991 bis September 2008 umgerechnet knapp 4.900 Mrd. Euro. Doch mit den Konjunkturspritzen wurden keine zukunftsträchtigen Industrien oder Projekte finanziert, sondern neben Konsumanreizen vor allem die öffentliche Infrastruktur ausgebaut. Zweifellos verhinderten diese Programme eine große Depression. Sie trugen aber zugleich zu einer gigantischen Schuldenexpansion bei. Im Prinzip wird hier das grundlegende Dilemma der gegenwärtigen Krisenkonstellation sichtbar: Eine Rückkehr zu den Zeiten beschleunigter Kapitalakkumulation unterstellt, dass die Konjunkturprogramme für den Auf- und Ausbau zukunftsträchtiger Industrien genutzt werden und dass zugleich eine knallharte Politik der Gewinnabschöpfung zur Schuldentilgung betrieben wird. Eine solche Politik aber ist in den spätkapitalistischen Gesellschaften politisch kaum umzusetzen.

In der Konsequenz der in Japan praktizierten systemimmanenten Antikrisenpolitik konnten zwar eine schwere Depression und eine deflationäre Abwärtsspirale verhindert werden. Aber der Preis dieses zeitweiligen Rettungsversuches war zum einen die Anhäufung eines gigantischen Schuldengebirges und zum anderen eine massive Zuspitzung der sozialen Spaltung. Die Einkommensunterschiede zwischen dem reichsten und ärmsten Teil der Gesellschaft haben sich seit den 1980er Jahren erheblich verschärft. Das frühere Leitbild von Japan als einer homogenen Mittelstandgesellschaft erwies sich mehr und mehr als bloße Illusion.

Eine große Depression wird in Japan aktuell erneut nur mit neuen Schulden verhindert. Seit August 2008 hat die Regierung vier Konjunkturprogramme auf den Weg gebracht. Anfang Dezember 2009 wurde das fünfte mit einem Volumen von umgerechnet 55,6 Mrd. Euro bekannt gegeben. Japan wird allein im laufenden Haushaltsjahr für umgerechnet bis zu 386 Mrd. Euro neue Staatsanleihen ausgeben. 1992 betrugen die Staatsschulden noch 60% des BIP. Ende 2009 wird Japan einen Schuldenberg von umgerechnet 7.540 Mrd. Euro aufgetürmt haben. Das entspricht 216% des BIP - die mit Abstand höchsten Schulden aller großen Wirtschaftsnationen.

Schon jetzt bekommt Japan als einziges G-7-Land neben Italien von den Ratingagenturen nicht die Höchstwertung "AAA" für seine Staatsanleihen, sondern nur die zwei Stufen niedrigere Bewertung "AA2". Die OECD fordert in ihrem Japan-Report 2009 einen glaubwürdigen, tief greifenden Reform- und Sparplan, "um öffentliches Vertrauen in Japans finanzielle Nachhaltigkeit aufrecht zu erhalten". Auch Japan läuft Gefahr, durch die Ratingagenturen herabgestuft zu werden, und müsste dann höhere Zinsen zur Refinanzierung aufwenden.

Mit dem neuerlichen Konjunkturpaket versucht die japanische Regierung einen Drahtseilakt: Einerseits will sie die Haushaltsdisziplin einhalten. Andererseits gilt es, vor den Oberhauswahlen 2010 ein Abgleiten der Wirtschaft in eine deflationäre Abwärtsspirale zu verhindern. Die staatlichen Konjunkturimpulse haben einen Wert von 1,5% der japanischen Wirtschaftsleistung und zielen vor allem auf die Förderung der heimischen Nachfrage. Volkswirte sehen die neuerliche Staatsintervention kritisch. Yasunario Keno schreibt: "Es mag der Wirtschaft ein wenig helfen. Aber es geht die fundamentalen Probleme Japans - Schwäche der Weltwirtschaft und Deflation - nicht an."


Die kapitalistische Ökonomie in der Sackgasse

Die eingetretene Stabilisierung der Wirtschaft ist nicht auf eine dauerhafte Erholung der Akkumulation des Kapitals zurückzuführen, sondern ist eher das Resultat der diversen Maßnahmen zur Konjunkturstimulierung und zur Stützung des Bankenbereiches. Die höheren Kurse an den Wertpapierbörsen spiegeln die Erwartung der Akteure, dass sich eine Rückkehr zu einem sich selbst tragenden Aufschwung abzeichnet. Faktisch ist bislang keine deutliche Korrektur der finanzmarktgetriebenen Kapitalakkumulation erfolgt. Wie schon im vergangenen Jahrzehnt stützt der Boom an den Wertpapierbörsen und Kreditmärkten die Wirtschaft - und nicht umgekehrt. Es ist also eine (neue) Bewertungsblase entstanden - was die Gefahr von neuen, schlagartigen Korrekturen mit sich bringt.

Da hinter dem Bewertungsboom die von den Notenbanken eingeschossene Liquidität steht, sehen wir gegenwärtig die Wiederholung des Dilemmas der japanischen Politik. Durch die politischen Interventionen wird der Übergang in eine deflationäre Abwärtsspirale verhindert, allerdings um den Preis einer dramatischen Expansion des öffentlichen Kredits und um die Gefahr einer neuen Blasenbildung, d.h. der politisch beförderten Ausdehnung des Kredits. Faktisch werden Finanzmarktakteure und Spekulanten in der Hoffnung unterstützt, dass dabei auch für die reale Wirtschaft etwas abfällt.

Mit der zunehmenden Ausrichtung der Wirtschaft auf die Finanzmärkte seit den 1980er Jahren sind die Preise von Aktien und anderen Kapitalanlagen stärker gestiegen als das effektive wirtschaftliche Wachstum. Letztlich haben die kapitalistischen Länder durch die finanzmarktgetriebene Kapitalakkumulation ihre produktiven Potenziale geschwächt und sich dafür papierne Eigentumstitel eingehandelt wie Sub-Primes, Dotcom-Aktien und Derivative sowie (überbewertete) Blue-Chip-Aktien und Staats- und Unternehmensanleihen. Die Einlösung dieser Eigentumstitel hängt aber an der realen Kapitalakkumulation.

Durch den zügigen Übergang der neoliberalen Eliten auf die massive Expansion des öffentlichen Kredits und die Ausweitung der Notenbankliquidität ist letztlich die Orientierung verteidigt worden, dass die Wirtschaften der kapitalistischen Hauptländer künstlich durch Kurs- und Preissteigerungen von Wertpapieren und Immobilien beeinflusst waren. Weil die Preise von Wertpapieren und Häusern stiegen, konnten Gewinne durch zusätzliche Verschuldung oder durch Verkäufe verflüssigt werden. Faktisch wurde die Logik des Zusammenhangs von Real- und Geldkapitalakkumulation zeitweilig umgedreht: Es ist die Illusion entstanden, Vermögen werde durch eine immer höhere Bewertung von Aktiva statt durch Produktion von Gütern und Dienstleistungen gebildet.

Durch die Finanzkrise ist ein kleiner Teil der Überbewertung eliminiert worden. Die Notenbanken und Regierungen aber setzen darauf, dass eine Rückkehr zu einem Wirtschaftswachstum, wie man es in der Vergangenheit gewohnt war, durch steigende Bewertungen von Aktien, Anleihen, anderen Finanzwerten und Immobilien unterstützt werden muss. Die Fed pumpte Billionen US-Dollar in die wankende Wirtschaft, drückte den Leitzins auf knapp über Null, ersann neue Mechanismen, die Kreditmärkte aus ihrer Schockstarre herauszuholen, rettete auch obskure Zocker wie den krisengeschüttelten Versicherungsgiganten AIG und dehnte das Leihkapital enorm aus. Die wirtschaftliche Prosperität der kapitalistischen Hauptländer ist auch mitten in der Weltwirtschaftskrise immer noch abhängig von einem (künstlichen) Aufschwung der Finanz- und Immobilienmärkte.

Dies erklärt die Bereitschaft von Notenbanken und Regierungen zu einer extrem lockeren Geld- und Finanzpolitik und anderen Maßnahmen wie Finanzgarantien und Aufkauf von Anleihen. Durch die Nullzinspolitik der Notenbanken werden zwar keine Investitionen angekurbelt, jedoch institutionelle und private Anleger und Sparer immer mehr in Risikoanlagen getrieben. Die Aktienmärkte sind weltweit schon wieder auf Bewertungsniveaus gestiegen, die eine dramatische Erholung der Unternehmensgewinne in den nächsten Jahren unterstellen. Langfristige Staatsanleihen bieten so wenig Rendite, dass man meinen möchte, es gäbe schon 2010 kein neues Angebot mehr. Wie wir alle wissen, werden 2010 aber so viele neue Staatsanleihen zu platzieren sein, wie niemals zuvor in der Geschichte. Zehnjährige Bundesanleihen und US-Treasuries bei rund 3% passen in keiner Weise zu dem Wachstumsszenario, das die Aktienmärkte vorwegnehmen. Vielmehr unterstellen sie tiefe Leitzinsen für Jahre, Inflation nahe Null und damit Jahre mit sehr, sehr niedrigem Wirtschaftswachstum.

Für Europa geht es jetzt um die spannende Frage, ob die Europäische Zentralbank demnächst erkennen lässt, wann und wie die "enhanced credit measures" zurückgeführt werden sollen. Das ausstehende Volumen der Ausleihungen im Rahmen der Refinanzierungsgeschäfte beträgt derzeit rund 730 Mrd. Euro.

Deutschlands Wirtschaft müsste nach überschlägigen Berechnungen von Finanzexperten jährlich um 4,5% wachsen, um seine Verschuldung ohne Sparrunden bis 2020 wieder auf das erlaubte Höchstmaß von höchstens 60% der Wirtschaftsleistung zu reduzieren. Doch realistisch ist im günstigen Fall ein Wachstum von knapp 2%. Deshalb treten neoliberale Vordenker für eine Exitstrategie ein, d.h. die Rückführung der Notenbankliquidität und öffentlichen Kredite sowie strukturelle Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben nach dem Übergangsjahr 2010. Diese müssten jährlich viele Milliarden Euro betragen - ein politisch wohl kaum durchsetzbares Unterfangen.

Gegenwärtig freilich liegt die wohl gefährlichste Mine der europäischen Finanzen im Osten. Um seiner siechenden Wirtschaft auf die Sprünge zu helfen, wird Lettland seine bisher an den Euro gekoppelte Währung wohl bald um bis zu 20% abwerten. Das würde lettische Produkte sprunghaft verbilligen und den Export ankurbeln. Auf der anderen Seite könnten viele Unternehmen und private Haushalte während der Boomzeit aufgenommene Kredite in Euro nicht mehr bezahlen: Neun Zehntel aller Verbindlichkeiten in Lettland laufen auf ausländische Währungen. Das wiederum würde Milliardenverluste vor allem für Schwedens Banken bedeuten, die schon jetzt Milliarden fauler baltischer Kredite abschreiben.

Und nicht nur Lettland steht auf sehr wackeligen Füßen: Den Nachbarländern Litauen und Estland geht es nur wenig besser. Der Harvard-Ökonom und frühere IWF-Chefvolkswirt Kenneth Rogoff schätzt das Risiko einer mittel- oder osteuropäischen Staatspleite auf über 50%. Ein Bankrott in Zentraleuropa würde vor allem Österreichs Banken hart treffen und möglicherweise sogar den österreichischen Staat überfordern.

Rogoff kritisiert zu Recht die Hypothese, dass Staatsbankrotte unmöglich oder unrealistisch seien. "Vorausschauend muss man feststellen, dass staatliche Bankrott-Pausen von einem oder zwei Jahrzehnten zwar nicht ungewöhnlich sind, aber jede Pause von einer neuen Welle von Zahlungsunfähigkeiten gefolgt wird." Im Klartext: Die Jahre staatlicher finanzieller Stabilität sind nur die Ruhe vor dem großen Sturm.


Joachim Bischoff ist Mitherausgeber von Sozialismus.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abbildung 1: Die Verschuldung der öffentlichen Hand in Mrd. Euro
Abbildung 2: Staatsverschuldung in % des Bruttoinlandsprodukts


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Quelle:
Sozialismus Heft 1/2010, Seite 13 - 18
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Februar 2010