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FINANZEN/107: Der kollektive Buddenbrooks-Effekt (attempto! - Uni Tübingen)


attempto! 29/2010
Forum der Universität Tübingen
November 2010

Der kollektive Buddenbrooks-Effekt

Von Christoph Deutschmann


Die Finanzkrise erklärt sich nicht allein durch menschliches Versagen. Ihre Ursachen sind auch gesellschaftlich bedingt: Die Entwicklung der hoch entwickelten kapitalistischen Industriegesellschaften verläuft ähnlich wie der Aufstieg und wirtschaftliche Niedergang der Kaufmannsfamilie Buddenbrook.


Die gängigen Erklärungen der jüngsten Wirtschafts- und Finanzkrise lassen sich unter dem Stichwort »menschliches Versagen« zusammenfassen: Die Banken hätten aus Gier und Leichtfertigkeit ein viel zu großes Rad gedreht, es seien spekulative Pyramiden von unvorstellbaren Dimensionen aufgetürmt worden, die Analysten, Rating-Agenturen und Aufsichtsinstanzen hätten versagt und so weiter. Diese Argumente sind fast alle richtig, reichen aber nicht aus. Sie werden erst recht problematisch, wenn mit ihnen suggeriert werden soll, das System globaler Finanzmärkte sei an sich in Ordnung, und lediglich die Akteure hätten versagt.


Erfolg des Kapitalismus

Im Folgenden skizziere ich einen soziologischen Ansatz zur Erklärung der Krise, den ich mit dem Stichwort »kollektiver Buddenbrooks-Effekt« bezeichne. Seine Kernaussage lautet, dass der Aufstieg und Niedergang der Kaufmannsfamilie Buddenbrook, den Thomas Mann in seinem berühmten Roman beschreibt, sich in der kollektiven Entwicklung der reifen kapitalistischen Industriegesellschaften wiederholt. Wir haben es heute mit Problemen zu tun, die nicht auf das Versagen des Kapitalismus, sondern gerade auf seinen Erfolg in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückzuführen sind. Diese These begründe ich wie folgt:

(1) Als Folge des anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg sind die privaten Finanzvermögen in den OECD-Ländern seit Jahrzehnten um ein Mehrfaches stärker gewachsen als das Sozialprodukt.

(2) Finanzvermögen basieren auf Kontrakten zwischen Gläubigern und Schuldnern. Eine Rendite können die Vermögen nur dann abwerfen, wenn es genügend Schuldner gibt, die in der Lage sind, das aufgenommene Kapital mit Zins und Zinseszins zurückzuzahlen. Mit den wachsenden Vermögen müsste es also zugleich immer mehr 'gute', das heißt zahlungsfähige Schuldner geben.

(3) 'Gute' Schuldner sind unternehmerische Individuen im weitesten Sinne, die aus ihrem Leben etwas machen und sozial aufsteigen wollen - nicht über eine bürokratische Karriere, sondern durch den Erfolg am Markt. Dieser soziale Typus verliert aber gerade in den reifen Industrieländern an Bedeutung. Und wo es die unternehmerischen Individuen noch gibt, haben sie es immer schwerer. Dabei spielen verschiedene sozialstrukturelle Veränderungen eine Rolle: Zum einen gelang in den Jahrzehnten vor der Jahrtausendwende vielen Menschen der soziale Aufstieg: Die Mittelschichten sind gewachsen, die Arbeiterschichten sind zurückgegangen. Obwohl die Ungleichheit der Vermögensverteilung sogar noch zugenommen hat, bildeten sich auch in den oberen Mittelschichten beachtliche Finanzvermögen. Viele dieser Gutverdienenden sind akademisch gebildet und haben sich komfortable berufliche Positionen - meist als höhere Angestellte und Beamte, nicht aber als Selbständige - erarbeitet. Das lässt den Drang nach weiterem sozialem Aufstieg schwächer werden. Geld ist zwar unvermindert begehrt, die unternehmerische Arbeit mit ihren Risiken als notwendiges Gegenstück dagegen immer weniger. Die anlagesuchenden Finanzvermögen nahmen stark zu, nicht nur als Folge der fortschreitenden Vermögensanhäufung bei den Eliten, sondern auch des wachsenden Reichtums der Mittelschichten. Mit dem relativen Schrumpfen der Unterschichten ging auch die Anzahl möglicher Schuldner zurück.

Ein weiterer Faktor ist die Verriegelung der Aufstiegswege und die Verschlechterung der Chancen für die nachfolgende Generation. Die neuere soziologische Mobilitätsforschung hat gezeigt, dass die Ungleichheit der sozialen Chancen zugenommen hat. Die Kinder der sozialen Aufsteiger wachsen in einem meist gut gepolsterten sozialen Nest auf. Sie müssen - wie Thomas, Christian und Tony Buddenbrook - um ihren Aufstieg und Erfolg nicht mehr kämpfen. Wirtschaftliche Vermögen und in hohem Maß auch das »Bildungskapital« werden vererbt. Das sichert den Nachkommen der Gutsituierten einen für die anderen kaum mehr einholbaren sozialen Vorsprung. Deshalb ist es für die Jüngeren aus den unteren Schichten deutlich schwieriger geworden, beruflich aufzusteigen. Vor allem die Chancen der Geringqualifizierten haben sich so verschlechtert, dass diese kaum mehr auf den sozialen Erfolg zu hoffen scheinen. Es hat sich hier ein Teufelskreis zwischen der objektiven Verschlechterung sozialer Chancen und subjektiver Resignation entwickelt. Das sich anbahnende Ungleichgewicht an den Vermögensmärkten wird folglich nicht nur durch das Schrumpfen der Anzahl möglicher Schuldner beeinflusst, sondern auch dadurch, dass die Aufstiegsmobilität zunehmend blockiert ist. Das bremst den Aufstiegswillen der nachfolgenden Generationen.

Dazu kommen die Veränderungen der demografischen Struktur: Mit dem Geburtenrückgang und der Alterung der Bevölkerung geht die Zahl zukunftsorientierter Menschen und unternehmerischer Individuen zurück. Auch dadurch kommt es zu einem wachsenden Übergewicht der Rentiers gegenüber den 'guten' Schuldnern.

Vor diesem Hintergrund kann der in Deutschland und in anderen entwickelten Industrieländern seit langem zu beobachtende Überschuss an anlagesuchenden Geldvermögen nicht überraschen. Bis vor einigen Jahren galt der Kapitalmarkt der USA als sicherer Hafen für diese vagabundierenden Kapitalströme. So wurde jene Blase aufgepumpt, die im Jahr 2008 geplatzt ist. Die Krise zeigt, dass die Globalisierung der Finanzmärkte das Problem der Überliquidität nicht gelöst, sondern eher noch verschärft hat. Die Finanzindustrie hat versucht, es durch die Konstruktion spekulativer Finanzprodukte zu umgehen. Außerdem wurden die Anforderungen an die Zahlungsfähigkeit von Schuldnern immer weiter herabgesetzt und die Kreditrisiken durch Verbriefung unkenntlich gemacht. Die Folgen sind bekannt.


Dominanz des Rentiers

Ich behaupte, dass wir es mit einer strukturellen Dominanz der Finanz-Rentiers über die unternehmerischen Kräfte in der Gesellschaft zu tun haben. Sie wird durch die Schlüsselrolle der Kapitalmarktfonds und Investmentbanken gefördert. Es ist eine Situation entstanden, in der - auf der einen Seite - die große Mehrheit der Bevölkerung gerne mehr Geld ausgeben und auch dafür arbeiten würde, sofern die Arbeitsplätze da wären. Auf der anderen Seite verfügt eine Minderheit über so viel Geld, dass sie es beim besten Willen nicht konsumieren kann. Sie kann es aber auch nicht investieren, denn so viele profitträchtige Investitionsgelegenheiten gibt es gar nicht. Das »Versagen« der Banken ist also nur ein Symptom für ein gesellschaftliches Ungleichgewicht.

Wie geht es weiter? Die staatlichen Rettungsaktionen haben die Probleme nicht gelöst, sondern die Bankenkrise in eine staatliche Schuldenkrise verwandelt. Die Regierungen werden viel energischer als bisher nach Wegen suchen müssen, das für die Bankenrettung und Konjunkturstützung ausgegebene Geld wieder hereinzuholen - bei den Verursachern der Krise und dort, wo es vorhanden ist, bei den großen privaten Vermögen. Die Steuern auf Finanzvermögen und private Vermögenserträge müssten deutlich erhöht werden, eine internationale Steuer auf Kapitalmarkttransaktionen erhoben, Steueroasen wirklich ausgetrocknet werden. Der gesamte Finanzsektor und seine Kunden werden sich an wesentlich geringere Renditen gewöhnen müssen. Gleichzeitig kommt es aber auch darauf an, die Position der realen Unternehmer gegenüber den Rentiers und den »Finanzinvestoren« zu stärken. Die Kreditversorgung der Unternehmen muss zu angemessenen Konditionen sichergestellt werden. Schließlich muss das Bildungssystem reformiert und der Benachteiligung der unteren Schichten energischer entgegengearbeitet werden als bisher.


Christoph Deutschmann ist Professor für Soziologie an der Universität Tübingen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Arbeits- und Wirtschaftssoziologie. Der Beitrag basiert auf der Publikation Christoph Deutschmann: Die Finanzmärkte und die Mittelschichten: der kollektive Buddenbrooks-Effekt, in: Leviathan 36/4, S. 502-517 (2008)


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Die Ungleichheit der sozialen Chancen hat zugenommen. Die Kinder, die in einem meist gut gepolsterten sozialen Nest aufwachsen, müssen - wie Thomas, Christian und Tony Buddenbrook - um ihren Aufstieg und Erfolg nicht mehr kämpfen. Wirtschaftliche Vermögen und in hohem Maß auch das »Bildungskapital« werden vererbt. Das sichert den Nachkommen der Gutsituierten einen für die anderen kaum mehr einholbaren sozialen Vorsprung. Symbol dafür ist auch das Buddenbrook-Haus in Lübeck.


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Quelle:
attempto!, November 2010, S. 6-8
Zeitschrift der Eberhard Karls Universität Tübingen und der
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attempto! erscheint zweimal jährlich zu Semesterbeginn


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Januar 2011