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FINANZEN/106: Billigst-Geld-Politik und Staatsversagen (attempto! - Uni Tübingen)


attempto! 29/2010
Forum der Universität Tübingen
November 2010

Billigst-Geld-Politik und Staatsversagen

Von Joachim Starbatty


Die zweite Weltwirtschaftskrise der Moderne hat vielfältige Ursachen. Einige liegen außerhalb des Marktgeschehens. Eine wesentliche Rolle spielte zum Beispiel die Politik - nicht nur bei der Bewältigung, sondern bereits bei der Entstehung der Probleme.


Noch vor wenigen Jahren hätte es niemand für denkbar gehalten, dass sich die Weltwirtschaftskrise von 1929 wiederholen könnte. Doch die Entwicklungen von Industrieproduktion, Welthandel und Aktienkursen zeigen frappierende Parallelen zwischen 1929 und 2008: Die entsprechenden Werte stürzten geradezu ab. Während damals eine prozyklische Finanz- und Geldpolitik aus der Krise eine lang andauernde Depression werden ließen, haben derzeit eine extrem expansive Geld- und Finanzpolitik die Talfahrt aufgefangen: Die Indizes klettern wieder nach oben. Doch sorgen wir uns nun um die Belastbarkeit des Aufschwungs und um ausufernde Staatsdefizite.

Die Ursachen für die zweite Weltwirtschaftskrise der Moderne sind vielfältig, wobei je nach Profession und politischer Einstellung die Schwerpunkte unterschiedlich gesetzt werden. Die jüngste Weltwirtschaftskrise kann nicht erklärt werden, wenn wir nicht die Entscheidungen außerhalb des Marktgeschehens einbeziehen. Sie haben die Marktkonstellationen entscheidend determiniert. Das Zusammenwirken exogener und endogener (marktgesteuerter) Faktoren hat die Weltwirtschaftskrise entstehen lassen. Es ist inzwischen allgemeine Auffassung, dass sie ihren Ausgang in der Immobilienbranche in den USA genommen hat:

(1) Billigst-Geld-Politik: Die US-amerikanische Zentralbank hat den Immobilienboom entfacht. Sie hatte nach dem Platzen der Dotcom-Blase den Refinanzierungssatz - also den Zins, den die Geschäftsbanken für Zentralbankgeld zu entrichten haben - auf ein Prozent heruntergesetzt. Als sie Schritt für Schritt den Refinanzierungssatz auf schließlich 5,25 Prozent anhob, ist die Immobilienblase geplatzt.

(2) Staatsversagen: Der Ersatz der persönlichen Haftung unter der Clinton-Administration durch die dingliche Sicherung - man gibt den Hausschlüssel bei der Gläubigerbank ab und ist damit sein Haus, aber auch seine finanziellen Verpflichtungen los -, die Möglichkeit ohne Sicherheit Immobilien zu erwerben und auch die Verpflichtung der staatlich abgesicherten Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddy Mac, Subprime-Produkte (Hypothekenkredite mit geringer Bonität) in ihr Portfolio einzubeziehen, hat in den USA den Immobilienboom weiter angeheizt.

(3) Versagen der Aufsichtsorgane: Die Überhitzung auf den Immobilienmärkten ist frühzeitig thematisiert worden. Das Engagement deutscher Institute in Papieren, die aus der Verbriefung entsprechender Hypotheken entstanden sind, hätte den Aufsichtsbehörden bekannt sein müssen. In verschiedenen europäischen Staaten und vor allem in Staaten Südostasiens haben Aufsichtsorgane den Erwerb solcher Papiere nicht genehmigt.

(4) Rating-Agenturen: Sie haben leichtfertig Triple A-Bewertungen (sehr sichere Anleihe) für risikoreiche Verbriefungen vergeben, weil sie sowohl als Beratungs- wie als Bewertungsinstanz fungierten. Sie hatten zudem nicht erkannt, dass in engen Märkten bei einem gegebenen Angebot eine höhere Nachfrage die Preise übermäßig steigen oder auch - im umgekehrten Falle - fallen lässt.

(5) Geschäftsbanken: Natürlich hat auch die 'Gier' eine entscheidende Rolle gespielt, wobei wir damit ein Verhalten charakterisieren wollen, das auf betriebliche und persönliche Gewinnmaximierung hinausläuft, ohne die damit verbundenen Risiken zu berücksichtigen, weil andere Akteure für Verluste auftreten oder weil es ja alle so machen. Die Banken in den USA haben dubiose Hypothekenschulden akzeptiert, weil sie sie nach Beratung und Bewertung durch Rating-Agenturen verbriefen und in die internationalen Kapitalmärkte einschleusen konnten. Insbesondere deutsche Banken - die Landesbanken eingeschlossen - haben sich verleiten lassen, solche Subprime-Papiere in ihr Portefeuille zu nehmen, da ihre Passivseiten gut gefüllt, aber ihre Aktivseiten wegen schleppender Konjunktur nicht ausgelastet waren. Fehlende Haftung erklärt die Ausbreitung der Krise: US-Kreditmakler und US-Banken haben dubiose Risiken weitergegeben und europäische Banken ließen sich nach deren Erwerb von den Börsen wegen hoher Gewinne feiern und nahmen exorbitante Boni mit.

So ist das Übel, das in einem relativ kleinen Segment begann, in die Welt gekommen. Nach Platzen der Immobilienblase wussten die Akteure, dass sie auf ihrer Aktivseite nicht hochverzinsliche Anleihen stehen hatten, sondern bloß noch Schrott. Die Zentralbanken überschwemmten nach der damit zusammenhängenden Lehman-Bank-Pleite die Geld- und Kapitalmärkte mit Liquidität, um die Bankenwelt vor einem generellen Absturz zu bewahren - »wir haben in einen Abgrund geblickt«, - und die Regierungen schnürten hastig Konjunkturpakete, um den weltweiten Einbruch der Nachfrage aufzufangen. Soweit man sich auf Konjunkturindikatoren verlassen kann, scheint dies gelungen zu sein. Doch darf man nicht ausblenden, was sich hinter diesen Indikatoren verbirgt. In den USA stabilisieren Transferausgaben (staatliche Geld- oder Sachleistung ohne Gegenleistung) das Konsumniveau. Subventionen für den Erwerb sowie für das Halten von Immobilien haben den Einbruch im Immobiliensektor mildern können. Solange aber zu wenig produktive Arbeitsplätze geschaffen werden, aus denen originäre Kaufkraft fließt, ist die Gefahr eines double dip (erneuter Rückfall der Konjunktur in die Rezession) nicht gebannt. Für die deutsche Wirtschaft, die sich nach einem tiefen Einbruch erstaunlich robust gezeigt hat, gilt, dass der stark anspringende Export sie aus der Krise gezogen hat. Und die Exportströme, vor allem aus dem Automobil-Sektor, weisen vornehmlich in Richtung China. Die chinesische Regierung hat ihre Exporteinbrüche auf dem US-amerikanischen Markt durch ein Konjunkturprogramm aufgefangen, das mit 450 Milliarden Euro das deutsche um das Vierfache überstieg. Zugleich hat sie über ihre Billig-Geld-Politik den Immobilienboom in China angeheizt. Die Preise für Grundstücke und Immobilien sind insbesondere an der Ostküste so in die Höhe geschossen, dass die meisten Chinesen Wohneigentum nicht mehr erwerben und junge Paare die Mieten für entsprechende Appartements nicht mehr erwirtschaften können. Um den Boom nicht weiter anzuheizen, beschreitet die chinesische Regierung einen ähnlichen Weg wie seinerzeit die US-Zentralbank: Sie erschwert den Ankauf von Immobilien, indem sie ein nachgewiesenes Eigenkapital in Höhe von 50 Prozent vorschreibt und die Banken anweist, bei der Vergabe von Immobilienkrediten restriktiv vorzugehen. Wenn daraufhin die Preise für Immobilien zum Stillstand kommen oder sogar sinken, kann dies einen Preisverfall wie in den USA auslösen.

Da nach Schätzungen die Bauindustrie in China derzeit 20 Prozent des Bruttoinlandprodukts ausmacht und über vor- und nachgelagerte Produktion (etwa Baustoffe und Möbelindustrie) die gesamte Industrie dominiert, wird ein Einbruch in der Immobilienwirtschaft die chinesische Wirtschaft auf Talfahrt schicken. Hat die Immobilienkrise in den USA die Welt über den Finanzierungsweg mit dem Krisenbazillus angesteckt, so wird sie im Falle Chinas hauptsächlich über die realwirtschaftliche Übertragung infiziert. Da aber die Weltwirtschaft immer noch labil ist, kann der Ausfall der chinesischen Konjunkturlokomotive ähnliche Auswirkungen haben wie das Platzen der US-Immobilienblase. Dann gerieten auch die Banken wieder in Bedrängnis, und die zarten Konjunkturpflänzchen gingen ein.

Ob es so kommt, kann niemand mit Bestimmtheit sagen, da wir es mit einem dynamischen Prozess zu tun haben, auf den Kräfte einwirken, die wir in ihrer Gesamtheit nicht abschätzen können. Wir wissen aber, dass dieses Szenario im Bereich des Wahrscheinlichen anzusiedeln ist. Sollte es eintreten, so stünden wir schlechter da als nach der Immobilienkrise, da nun der Verschuldungsgrad der einzelnen Staaten dermaßen hoch ist, dass Kapitalanleger kaum noch bereit sind, die Staatstätigkeit zu finanzieren. Sollten dann weltweit diese Defizite mit der Notenpresse gedeckt werden, dann werden die Sparer verzweifelt nach einem safe haven Ausschau halten, um sich vor der Inflation zu schützen. Aber - wie gesagt - es ist nur ein Szenario.


Joachim Starbatty übernahm 1983 die Professur für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftspolitik an der Universität Tübingen, die er bis zu seiner Emeritierung 2005 innehatte. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderen Ordnungspolitik einschließlich Transformation von Wirtschaftssystemen, Stabilisierungspolitik und Industrie- und Technologiepolitik.


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Quelle:
attempto!, November 2010, S. 4-5
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attempto! erscheint zweimal jährlich zu Semesterbeginn


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Januar 2011